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III. Politologische Betrachtungen

1. Die Funktionen der Volksinitiative

Das politische System, in das die Volksinitiative eingebettet ist, ist in der Regel repri:isentativ gestaltet245. Das Initiativrecht bildet daher in der Praxis eine Ergi:inzung und nicht eine Alternative zur Verfassungs- und Gesetzgebung durch die gewi:ihlten Organe246. Es hat keineswegs zu einer reinen «Volks-gesetzgebung» geführt247, denn ein Teil des Stimmvolkes schliesst si ch le-diglich punktuell zusammen, um eine Àndemng der Rechtsordnung zu ver-langen248. So sind Verfassungs- und Gesetzgebung in der Schweiz und in Kalifomien in erster Linie die Aufgabe der Volksvertretungen.

Initiativen werden denn auch gegen die Ti:itigkeit dieser gewi:ihlten poli-tischen Behürden und in Kalifomien sogar gegen Urteile der Gerichte249 ergriffen. Die Tatsache, dass sich die Volksinitiative gegen die Behürden richtet, weist auf ihren oppositionellen Charakter hin. Sie <lient als Instru-ment, um gegenüber den Entscheidungstri:igem Opposition zu i:iussem, in-dem Vorschli:ige innerhalb eines bestimmten Themenbereichs, der in den Augen eines Teils des Volkes schlecht oder gar nicht geregelt worden ist, zwingend der Abstimmung unterbreitet werden und damit bei Annahme unmittelbar in die Rechtsordnung Einlass finden250. Sie offnet damit in der Schweiz wie in Kalifomien das politische System für Anliegen, die von den Behürden vemachli:issigt oder unpopuli:ir angepackt wurden. Diese Ôffnung des Systems kann vor allem Gmppen zugute kommen, deren Interessen in den traditionellen politischen Kani:ilen zu kurz kommen.

245 Sonderfâlle bilden eine Anzahl von Schweizer Gemeinden und die Kantone mit Landsgemeinde, die in der vorliegenden Studie nicht beiücksichtigt werden. Aber selbst die Landsgemeinde-kantone haben ein Parlament.

246 SUKSI, 4.

247 LINDER, Sclnveizerische Demokratie, 240.

248 TSCHANNEN, Stimmrecht, 201.

249 Vgl. beispielsweise die Initiative, die im November 1972 die Todesstrafe wieder einfüluie:

«In California, the very date of the decision finding the death penalty unconstitutional is preserved in the language of the [initiative] amendment reinstating it, a perpetual reminder to the courts of the consequences ofstraying too far from the popular will»; UrrER, 39. Ebenso LEE, Power to the People?, 133; vgl. auch infi'a 3. Teil, III. 2. mit Hinweisen auf weitere kalifomische Initiativen, die ais Reaktion auf vorgangig gefâllte Gerichtsurteile lanciert wur-den.

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Für die USA: CRONIN, 225; LEE, Power to the People?, 132: «Another reason for the increase in initiative activity arises from dissatisfaction of one group or another over the failure of the legislature to deal with some particular problem or issue». LowENSTEIN, Single-Subject, 964:

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Damit wird keine Aussage über die politische Stossrichtung von Initiati-ven gemacht, da diese sich immer erst aus dem Einzelfall ergibt. Die Initia-tive als politisches Recht ist a priori inhaltsneutral251Sie kann von der Opposition von links oder von rechts oder auch von den Mehrheitsparteien ergriffen werden. Letztere sind jedoch in geringerem Ausmass auf die Lan-cierung einer Initiative angewiesen, weil sie aufgrund ihres Entscheidungs-anteiles ihre Anliegen gewohnlich innerhalb des parlamentarischen Verfah-rens durchsetzen kônnen252Dieses Oppositionsinstrument in den Handen der Stimmbürger gegen die Gesetztatigkeit der Behôrden bedeutet nicht, dass sie notwendigerweise behôrdendesavouierend ist. Initiativen kônnen allemal Forderungen stellen, die auf die Zustimmung von Parlament und Regierung zahlen kônnen. So hat die Bundesversammlung den Stimmbürgem viermal nahegelegt, eine Volksinitiative anzunehmen253

Auch die Haufigkeit von indirekten und direkten Gegenvorschlagen legt Zeugnis davon, dass Volksinitiativen Themen aufgreifen und Forderungen verwirklichen wollen, die nicht auf vollstandige Ablehnung seitens der Be-hôrden stossen254. Gegenvorschlage dienen nicht nur der Sabotage von

Voiles-«The initiative 's purpose was to pro vide an outlet for the public 's dissatisfaction with the legislature's treatment or non-treatment of an important and, in many cases, broad policy area».

BRIFFAULT, 1372: «The initiative cabins the legislature's discretion and ensures that certain proposais not ordinarily high on the legislative agenda are given consideration [ ... ]».

Für die Schweiz: TscHANNEN, Sti111111recht, 202: «Zur Hauptsache fungieren Initiative und Re-ferendum ais Mittel zur Artikulation von Volksopposition»; kursiv im Original; DELLEY, L'initiative, 168 ff.; LINDER, Schweizerische Demokratie, 259 ff.; CAVIEZEL, 27; RHINOW 208 ff.

251 TsCHANNEN, Stimmrecht, 202; TscHANNEN & SEILER, 122.

252 Vgl. KôLZ & PoLEDNA, 7: «Die Volksinitiative war von Anfang an ais ein Instrument fiir die Minderheit konzipiert, wie die Zugehürigkeit der drei Motioniire zur katholisch-konservati-ven Fraktion zeigt, welche sich damais gegenüber der freisinnigen Mehrheit in einer Minderheits-stellung befand [ ... ].Die Volksinitiative ist daher von ihrer Konzeption her ein gewollter und verfassungsrechtlich institutionalisierter Misstrauensantrag einer politischen Minderheit gegen-über der Parlamentsmehrheit». Kursiv im Original.

253 Es handelte sich um das Absinthverbot aus dem Jahre 1908; die eidgen6ssische Volksinitiative d'ür die Unterstellung von unbefristeten oder für eine Dauer von mehr ais 15 Jahren abge-schlossenen Staatsvertriigen unter das Referendum (Staatsve1iragsreferendum)> aus dem Jah-re 1921; die eidgen6ssische Volksinitiative <Kursaalspiele>, die im Jahre 1928 angenommen wurde; und schlieslich die eidgen6ssische Volksinitiative , <für einen arbeitsfreien Bundesfeiertag>

(!.August-Initiative) von 1993.

254 Da Kalifornien keine Abstimmungsempfehlungen kennt und direkte und indirekte Gegenvor-schliige selten sind, ist ein Vergleich problematisch. Man kann aber davon ausgehen, dass auch in Kalifornien Volksinitiativen eingereicht werden, welche die Zustimmung von Parlament und/

oder Gouverneur erhalten. Ein Beispiel liefert die Anti-Einwanderungsinitiative, Proposition 187, welche im Jahre 1994 von Gouverneur Pete Wilson vollumfünglich unterstützt wurde.

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initiativen zumindest seit der Einführung des doppelten Ja255- , sondem geben gleichzeitig den Behôrden Gelegenheit, sich mit gewissen politischen An-liegen zu befassen oder sie wiederaufzugreifen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn eine Volksinitiative Forderungen stellt, die auf der Linie der offiziellen Politik liegen, aber von ihr aus verschiedenen Gründen nicht umgesetzt werden256.

Das ande1t aber nichts an der Tatsache, dass Initiativen Themenbereiche betreffen und Uisungsvorschlage einbringen, die von Parlament und Regie-rung gar nicht257 oder «falsch» behandelt wurden. Auch Volksbegehren, die sich der Unterstützung der Behôrden erfreuen, haben eine oppositionelle Funktion, denn sonst hatten sie nicht eingereicht werden müssen.

Die Hauptfunktion der Initiative besteht somit in Kalifomien und in der Schweiz darin, dass sie das politische System für Anliegen gewisser Teile des Volkes èiffnet. Dadurch kann punktuell Opposition gegenüber den poli-tischen Entscheidungstragem geaussert werden. In den Worten von Key &

Crouch, die vom kalifomischen Supreme Court übernommen wurden, be-deutet dies:

«The initiative is in essence a legislative battering ram which may be used to tear through the exasperating tangle of the traditional legislative procedure and strike directly

255 Vgl. infra 2. Teil, Il. 5.

256 Ein Beispiel liefert der Europiiische Integrationsprozess. Den Bundesbehiirden selber waren nach der Abstimmungsniederlage über die Teilnahrne am Europiiischen Wütschaftschaftsraum die Hiinde gebunden, die Schweiz der Europiiischen Union anzuniihem. Auch im Hinblick auf den unsicheren Abstimmungsausgang über die bilateralen Vertriige mit der EU war Vor-sicht geboten. Die Volksinitiative da zu Europa!>, die unverzügliche Beitrittsverhandlungen verlangte, stellte eine Forderung, die vom Bundesrat selber zum strategischen Ziel erkoren worden war. Trotz der ablehnenden Abstimmungsempfehlung hielt er in seiner Botschaft zuhanden der Bundesversammlung fest, dass er der Meinung sei, «dass die integrations-politischen Ziele der Volksinitiative da zu Europa!> Unterstützung verdienen, da diese im Grundsatz mit der vom Bundesrat seit 199 l verfolgten Politik übereinstimmen»; vgl. BBl 1999 3837. Der Bundesrat beantragte eine Ablehnung der Volksinitiative einzig wegen des Zeit-punkts der Abstimmung und aufgrund des Fehlens von Flexibilitiit für die Verhandlungen. In der Sache se/ber unterstützte er sie hingegen, weshalb er einen indirekten Gegenentwurf aus-arbeitete (BBl 1999 3832 ff.), der jedoch vom Parlament verworfen wurde.

257 Vgl. beispielsweise VmELLO & ÜLENDON, 1286, in bezug auf Proposition 215, die im Jahre 1996 Marihuana zu medizinischen Zwecken legalisieren wollte: «The California legislature passed two bills that would have authorized its use under ce11ain circumstances; twice, Pete Wilson vetoed that legislation. In pait out of desperation with the legislative process, Dennis Peron, long-time marijuana legalization activist, led the efforts to place Proposition 215 [ ... ] on the ballot».

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toward the desired end. Virtually every type of interest-group has on occasion used this instrument. It is deficient as a means of legislation in that it permits very little bal-ancing of interests or compromise, but it was designed primarily for use in situations where the ordinary machin-ery of legislation had utterly failed in this respect. It has served, with varying degrees of efficacy, as a vehicle for the advocacy of action ultimately undertaken by the re-presentative body»258.

Diese oppositionelle «Rammbockfunktion» konnen Initiativen einerseits durch einen Abstimmungserfolg verwirklichen. In diesem Palle wird die Rechtsordnung im Sinne des Begehrens umgestaltet. Anderseits kann allein schon die Drohung mit einer Initiative oder ihre Lancierung indirekte Wir-kungen entfalten.