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Eine Skizze über bewegliches Systemdenken im Vertragsrecht

Franz BYDLINSKI

I.

Die neuere Entwicklung in der Gesetzgebung, aber auch in der Judikatur und in der rechtswissenschaftlichen Literatur, scheint in viel en Rechtsordnungen und erst recht im punktuell ansetzenden Europarecht dadurch gekennzeichnet zu sein, dass vertieftes systematisches Streben weithin aus der Mode gekom-men ist. Darunter verstehe ich den nachhaltigen Versuch einer liusserlich gut orientierenden und vor allem inhaltlich von einheitlichen Grundwertungen und Leitzwecken beherrschten Ordnung des Rechtsstoffes, der dadurch auch in den Einzelheiten zuganglich und verstandlich wird. Das stiirkste gesetzes-technische Mittel solchen systematischen Strebens ist die Kodifikation. Heu-te herrschen dagegen weithin kasuistische Regelungen vom Typ des Sonder-gesetzes. Wo immer in der Offentlichkeit einflussreiche Kriifte, die mehr oder weniger sachkundig sind, einen Mangel in der Rechtslage oder in ihren Aus-wirkungen wahrzunehmen glauben, wozu ein aufgebauschter Einzelfall aus-reicht, dessen Losung in irgendeiner Richtung von einer verüffentlichten Meinung ais unbefriedigend empfunden wird, tri tt man dem vermeintlichen Missstand sogleich mit einer neuen Spezialregelung entgegen. Diese ist oft ungeheuer kompliziert und in ihrer Anwendung kostspielig. Überall dort, wo der Mangel- etwa dieN otwendigkeit, wirtschaftliche Entscheidungen un ter erheblicher Unsicherheit treffen zu müssen- grundsatzlich unvermeidlich ist, werden bestenfalls bescheidene Verbesserungen beim unmittelbar anvisierten Sachproblem herbeigeführt, die die Komplikationen und den Mehraufwand für die Beteiligten schwerlich lohnen.

Zugrunde liegt eine nur scheinbar pragmatische politische Haltung, die die sachlichen und wertungsmassigen Zusammenhange der Neuregelungen untereinander und mit dem weiterbestehenden übrigen Rechtssystem wei thin vemachliissigt. Dadurch entstehen unnotige Komplikationen, Unklarheiten und Wertungswidersprüche im Recht und steigert sich die vielbeklagte

«Gesetzesflut» immer mehr.

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Eine gewisse, bescheidene Gegenwirkung zu solchen chaotischen Ten-denzen der Rechtsentwicklung kann nur von der praktischen und theoreti-schen Jurisprudenz erwartet werden, wenn diese, ihrer Daueraufgabe gemass, die môglichst konsistente, voraussehbare und mit (in der gesamten ordnung und im allgemeinen Rechtsbewusstsein) wohletablierten Rechts-prinzipien vereinbare Entscheidungen der Einzelfâlle anstrebt. Dafur ist um-fassendes systematisches Denken notwendig, das jede erwogene Neuregelung und jede Beurteilung eines Einzelfalles oder Einzelproblems auch in den Zu-sammenhang des Rechtssystems, also der Prinzipien, Strukturen, Zwecke und Regeln des ganzen geltenden Rechts, einzuordnen sucht.

Eine der Schwierigkeiten, die der Wahmehmung dieser Aufgabe durch die Jurisprudenz entgegenstehen, liegt darin, dass das systematische Denken bei der Bewaltigung konkreter Sachfragen in der Jurisprudenz selbst weithin unüblich geworden ist; und zwar keineswegs ohne Grund: Es hat si ch in sei-nen zeitweise vorherrschenden Erscheinungsformen selbst diskreditiert.

Begriffsjuristische Vorstellungen von einem perfekten rechtlichen Begriffs-system, das axiomatisch-deduktiv aufgebaut ist und das eine rein logische Entscheidungjeder Rechtsfrage durch ihre Einordnung in eine bestimmte Stufe dieses Systems ermôglichen sollte, bedürfen heute gewiss keiner Widerle-gung mehr. Das ist aber, entgegen verbreiteten unkritischen Meinungen, kein Argument gegen andere Systemvorstellungen, die der «Sache Recht» und der Daueraufgabe der Jurisprudenz in der Sozietat, rationale Rechtsgestaltung und Rechtsanwendung zu fordern, besser angepasst sind. Einen solchen Systemansatz, die Lehre vom beweglichen System, môchte ich in Exemplifizierung am V ertragsrecht heute vorfuhren. Er bildet einen wichti-gen Teil der Vorstellunwichti-gen vom ( «ausserem> und «inneren») Rechtssystem, denen ich kürzlich ein umfangreiches Buch gewidmet habe.

II.

Meine heutigen Überlegungen zum Thema gliedem sich in drei Teile: Zuerst môchte ich in aller Kürze die originelle und weiterfuhrende, in ihren Môglich-keiten bei weitem noch nicht ausgeschopfte Lehre Walter Wilburgs vom «Be-weglichen System» im Privatrecht nachzeichnen. Dann sind die grundlegen-den Elemente eines solchen Systems fur das Vertragsrecht herauszuarbeiten, und schliesslich werde ich drittens zur Veranschaulichung auf der gewonne-nen Grundlage einige Bemerkungen zum viel erorterten und immer konturen-loseren sogenannten « Verbraucherschutz» machen, soweit er das

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recht betrifft. Der Rahmen eines Vortrags zwingt selbstverstandlich überall zur Reduktion auf das Wichtigste und zum Verzicht auf alle Einzelheiten, in den en bekanntlich erst die meisten Schwierigkeiten stecken. W as ich anstre-ben kann, ist somit nur eine generelle Information über ein interessantes Theoriegebaude und die darin enthaltenen Moglichkeiten rechtlicher Orien-tierung.

Wilburgs Vorstellungen vom «Beweglichen System», die er besonders in der umfassenden Auseinandersetzung mit den grossen Privatrechtsmaterien des Schadenersatzrechts und des Bereicherungsrechts entwickelt hat, beru-ben vor allem auf zwei Grundlagen: Er erkennt und anerkennt erstens mit Nachdruck die Pluralitat der voneinander unabhangigen fundamentalen Wer-tungen und Zwecke, die in grossen Rechtsmaterien wirken, sodass diese nicht von einem zentralen Grundgedanken her verstanden, angewendet und ausge-legt werden konnen. Das darf anderseits nicht zur Billigkeitsjurisprudenz zahlloser unvorhersehbarer ad-hoc-Gesichtspunkte ftihren, die nach Be li eben bei jedem isoliert betrachteten Sachproblem herangezogen oder auch vernach-Hissigt werden. Erforderlich ist vielmehr sorgfliltige Beachtung der in ihrer vollen Zahl zu benennenden grundlegenden Richtlinien, die in dem betreffen-den Rechtsgebiet wirken, in ihrem konkreten Zusammenspiel, wie es sich bei demjeweils zu beurteilenden Fall oder Falltyp, also bei einem genere lier for-mulierten Problem, zeigt. Wilburg nennt die tragenden, voneinander unab-hangigen Grundwertungen des jeweils untersuchten Rechtsgebietes in natur-wissenschaftlicher Terminologie «Elemente» oder «Krafte». In mehr juristischer Sprache und in Übereinstimmung mit einer breiten Diskussion in der heutigen Rechtstheorie kann man sie ais- systemkonstitutive- Prinzipi-en bezeichnPrinzipi-en.

Wilburg gewinnt seine Prinzipien, ohne darüber naher zu sprechen, in-duktiv a us dem geltenden Recht verschiedener Rechtsordnungen, die er rechts-vergleichend verwertet, wobei auch die Rechtsprechung und Literatur in ih-ren zentralen Aussagen und Tendenzen mitberücksichtigt sind. Zugleich verfolgt er das Streben nach gerechten, also der Gleichbehandlung des Gleich-artigen entsprechenden Losungen. Diese bieten daher auch haufig die rechts-politisch und rechtsvergleichend vorzugswürdigen, nicht unbedingt die mit einer bestimmten Rechtsordnung am besten übereinstimmenden Entscheidun-gen. Doch ist es selbstverstandlich bei Anwendung einer bestimmten Rechts-ordnung ohne weiteres moglich, das Gewicht starker auf deren eigenstandi-gen normativen Gehalt zu leeigenstandi-gen.

Die Pluralitat und das jeweilige selbstandige Eigengewicht seiner Prinzi-pien hebt Wilburgs Lehre deutlich ab von allen Versuchen, grossere Rechts-gebiete systematisch von einem einzigen Grundgedanken her zu verstehen

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und anzuwenden. Das ist stets nur durch fiktive Überdehnung der hervorge-hobenen und durch theoretische Herabstufung anderer, im Recht sehr wohl selbstandig wirkender grundlegender Wertungen und Zwecke moglich. Wilburg bekampft daher z.B. alle Versuche, das Schadenersatzrecht ausschliesslich oder doch ganz vorrangig vom Verschuldensprinzip, von der Gefàhrdungs-oder V erursachershaftung, von der okonomischen Tragfàhigkeit ( einschliesslich Versicherbarkeit) als Billigkeitsmaxime oder in ahnlicher Weise monokausal zu erklaren. Ebenso wendet er sich gegen einheitliche Bereicherungsformeln als normative Grundlagen des Bereicherungsrechts. Er fiihrt vielmehr die Scha-denersatzpflicht als Rechtsfolge auf die folgenden vier Haftungsgründe zu-rück: 1. Ein Mangel in der Sphiire des Haftenden. 2. Die Inanspruchnahme fremden Rechtsgutes durch Gefàhrdung oder sogar durch bewussten Ein-griff. 3. Die Verursachung des Schadens in der Sphare des Haftenden je na ch der Nahe (schadensbegünstigenden Kraft) des Kausalzusammenhanges.

4. Hilfsweise wirkt sich die Abwagung der Vermogenslage der Beteiligten a us. Alle diese Schadenstragungsgründe konnen auch auf der Seite des Ge-schiidigten auftreten und sprechen dann dafûr, dass er seinen Schaden pro-portional selbst tragt.

lm Bereicherungsrecht hat Wilburg die Unterscheidung zwischen dem allgemeinen Bereicherungsanspruch und der Leistungskondiktion prinzipiell begründet: Beim ersteren beruht die entscheidende Voraussetzung, ungefertigt zu sein, auf einer Verletzung des Zuweisungszwecks, der einer recht-lich geschützten Position hinsichtrecht-lich ihres Vermogenswertes und Nutzungs-potentials zugrundeliegt. Dieser Zweck kommt in einem entsprechenden subjektiven Recht, insbesondere dem Eigentum, des «Entreicherten» beson-ders deutlich zum Ausdruck, kann aber auch in einem Schutzgesetz mitent-sprechender Zweckrichtung erkennbar werden. Die Leistungskondiktion be-ruht dagegen auf einem Mangel der Verfiigungsentscheidung des Leistenden, z.B. Irrtum, der analog zu den rechtsgeschaftlichen Mangeln zu bestimmen ist und der dazu fiihrt, dass die Leistung den mit ihr verfolgten Zweck nicht erreicht.

Wie die Beispiele zeigen, sind die systemtragenden «Elemente» Wilburgs Prinzipien, die voneinander unabhangig, aber «gleichgerichtet» sind; die also diesel be Rechtsfolge (Schadenersatz; Bereicherungsausgleich) rechtfertigen.

V or allem in der spateren Lehre Wilburgs werden aber auch «Gegenkrafte», also kollidierende, gegen die fragliche Rechtsfolge wirkende Prinzipien, die zunachst etwas vemachlassigt worden waren, voll mitberücksichtigt; z.B. die bindende Kraft des Vertrages gegenüber dem Bereicherungsanspruch. Damit ist weitgehende Übereinstimmung zur heutigen rechtstheoretischen Prinzipien-lehre hergestellt: Nach beiden Lehren müssen auch kollidierende und daher in

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Optimierungsabsicht abzuwagende Prinzipien mitberücksichtigt werden; In ihrem Streben nach systematischer Durcharbeitung ganzer Rechtsmaterien geht aber die Lehre vom beweglichen System über die Prinzipientheorie hin-aus, die sich auf die Klarung der strukturellen Besonderheiten der Prinzipien ais Normtyp beschrankt, der von den gewôhnlichen Regeln zu unterscheiden ist.

Neben der Pluralitiit der Prinzipienschicht der jeweiligen Systemteile steht

im

beweglichen Systemdenken zweitens die Vorstellung von der Abstujbarkeit, also vom «komparativen» Charakter der «Elemente». Diese inhaltliche Struktur ergibt si ch klara us ihrer oftmaligen Beschreibung, dass sie die im Einzelfall massgebende Rechtsfolge je nach ihren Stiirkegraden im konkreten Fall (und nach ihrem Zusammenspiel, wovon noch die Rede sein muss) bestimmen.

Das setzt mit Selbstverstandlichkeit einen abstufbaren,je nach zusatzlichen Intensitatsmerkmalen schwacheren oder stiirkeren normativen Gehalt voraus.

Diese Eigenschaft wird von Wilburg bei der genaueren Darstellung seiner Elemente des Schadensrechts besonders anschaulich gemacht: Beim Mangel in der Sphiire des Haftenden reicht die Skala vom eigenen, seinerseits ganz unterschiedlich intensiven Verschulden (vom Vorsatz bis zur leichten Fahr-lassigkeit) überdas Gehilfenverschulden bis zu objektiven Fehlem von sphiiren-zugehôrigen Sachen, etwa bis zu versagenden Funktionen eines Kraftfahr-zeugs. Bei der Inanspruchnahme fremden Rechtsgutes durch Eingriff, also sicher voraussehbare Verletzung, oder Gefahrdung aller Wahrscheinlichkeits-grade und bei der Verursachung im Sinne einer wahrscheinlichen kausalen Nahebeziehung zum Schaden ergibt sich der graduelle Charakter dieser Haftungsgründe ohne weiteres aus der Abstufbarkeit der Begriffe, die sie beschreiben. Auch die hilfsweise eingreifende Vermôgensabwagung nach Trag-fâhigkeit kann offenkundigje nach der konkreten Vermôgenslage der Betei-Iigten sehr unterschiedlich fûr oder gegen die Ersatzpflicht ins Gewicht fal-len.

Die Elemente weisen also in sich eine klare, vielfach diffenziert beschrie-bene Mehr-oder-weniger-Struktur auf, die das zentrale Ergebnis auch der aktuellen rechtstheoretischen Kennzeichnung der Prinzipienbeschaffenheit ist, ohne dass aber dort die gradue lien Abstufungen schon abstrakt dargestellt zu werden pflegen.

Je nach der Abwagung der zusammen- und gegeneinanderwirkenden Grundsatze in ihrer konkreten Stiirke ergibt sich fur das bewegliche System-denken die in Frage stehende Rechtsfolge um so mehr, wenn sie - wie die Schadenersatzpflicht- abstufbar ist, oder umso eher, wenn sie- wie z.B. die V ertragsnichtigkeit - nicht abstufbar ist. Das entspricht ganz der heutigen Prinzipienlehre in der Rechtstheorie, die auf die Mehr-oder-weniger-Struktur

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von Prinzipien ais entscheidendes Unterscheidungsmerkmal zu den gewohn-lichen Regeln abstellt, die auf einfache, v olle Anwendung ihrer Tatbestande angelegt sind. Bei den Prinzipien ist dagegen das in ihnen ausgedrückte «Sol-lem> von vomherein relativiert; es gilt nur mehr oder weniger, und zwar so-weit wie ihre Realisierung nach den realen Gegebenheiten und aufgrund etwa widerstreitender anderer Prinzipien moglich ist.

lm F ali der Prinzipienkollision ist ein kompromisshafter Ausgleich durch tatbestandliche Abgrenzung notig, die die «Vorrangrelationem> zwischen den kollidierenden Prinzipien festlegt. Ist das Abwagungsergebnis im Gesetz selbst ais konkrete Regelung bereits festgelegt, ist die Rekonstruktion der beteilig-ten Prinzipien und ihrer sachverhaltsbezogenen Abwagung für die Auslegung des Gesetzes und für seine analoge Anwendung auf iihnliche, aber nicht un-mittelbar erfasste Interessenlagen geboten. Bei Fehlen analogiefàhiger Rege-lungen kann die gesetzliche Verdichtung von Abwagungsergebnissen in fe-sten Tatbestiinden, die Wilburg für den «Durchschnittsfall» vorsieht, immerhin als «Basiswertung» (Schilcher) dienen, mit deren Hilfe die gerade anstehen-den Problemsituationen tunlichst proportional zur gesetzlichen Abwagung und Interessenwertung zu beurteilen sind.

Wilburg hat sein bewegliches Systemdenken nicht auf die von ihm pri-mar herausgearbeiteten Elemente und «Gegenkrafte» beschrankt, also auf die Prinzipien, die ganzen Systemteilen oder Rechtsinstituten ais begründende Wertungen oder Leitzwecke zugrunde liegen. Er wollte vielmehr die bewegli-chen Kriterien bewusst auch in die gewohnlibewegli-chen Rechtsvorschriften und in ihre Tatbestande verlegen. Er fand diesen Gedanken schon verwirklicht in gesetzlichen Regeln, die etwa das Ausmass der Schadenersatzpflicht von der Abwagung des V erschuldens auf Schiidiger- und des Mitverschuldens auf Geschiidigtenseite abhangig machen. Auch der Wuchertatbestand gehôrt hier-her, weil die- allerdings einheitliche- Rechtsfolge der Vertragsnichtigkeit vom Zusammenspiel mehrerer, je für sich abstufbarer Merkmale abhangt, namlich vom auffallenden Missverhaltnis von Leistung und Gegenleistung, von einer (kurz gesagt) Hilflosigkeitssituation des Bewucherten und von ih-rer unlauteren «Ausbeutung» durch den Wucheih-rer. Ist eines dieser Merkmale so schwach ausgepragt, dass seine Bejahung im konkreten Fall geradezu zwei-felhaft ist, sind aber die anderen stark wirksam, so wird dies zusammenfas-send fùr die Bejahung des Wuchertatbestandes sprechen. In den Grenz- und damit Zweifelsbereichen der gesetzlichen Tatbestandsbegriffe konnen auf solche Weise auch Regeln, die nicht unbedingt als «beweglich» gedacht sind, in zusammenfassender Würdigung beweglich angewendet werden.

Die bewegliche Formulierung und Anwendung gewohnlicher Rechtsvor-schriften konnte eine technische Alternative zum aktuellen Gesetzesstil

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den, der bürokratische Strenge und Starrheit in viel en Einzelheiten mit weit-gehenden Ermessensklauseln in zentralen Fragen zu verbinden pflegt. In der Folge soli aber das Gewicht auf die systemtragenden Prinzipien gelegt wer-den, die nicht nur durch ihre «Mehr-oder-weniger-Struktur» einen eigen en, den Regeln gegenüberstehenden Normtyp darstellen, sondem in ihrer Plurali-tat eine begründende und damit orientierunggebende Rolle auch beim konsi-stenten Aufbau und Verstandnis ganzer Rechtsinstitute oder Rechtsgebiete spielen. Das soli am Beispiel des Vertragsrechts veranschaulicht werden.

Zuvor aber ist noch festzuhalten, dass die Grundgedanken des bewegli-chen Systemdenkens in der Jurisprudenz bereits vielfach diskutiert, weiterge-ftihrt und v or allem praktisch angewendet und erprobt wurden; letzteres durch-wegs in besonders schwierigen Problemlagen. Auch der osterreischische Oberste Gerichtshofhat sie wiederholt zur Bewaltigung besonders schwieri-ger Falle rezipiert. Es ist also keineswegs eine bloss theoretische, in der prak-tischen Arbeit am konkreten Rechtsproblem nicht bewahrte Idee, von der wir heute sprechen.

III.

Die Entwicklung des beweglichen Systemdenkens durch Wilburg legte den Versuch nahe, diese Methode auch ftir das Rechtsgeschiifts-, insbesondere fur das Vertragsrecht nutzbar zu mach en. Es bot nam li ch einen neuen Ansatz, mit dem man hoffen durfte, Jahrhunderte alte überscharfe Theorien-streitigkeiten wie neuere Aufspaltungen zu überwinden, die der konsistenten und sachgerechten Anwendung dieses Rechtsgebietes nicht forderlich, son-dem vielmehr deutlich nachteilig sind. Das gilt vom ver ba-voluntas-Problem in der modemeren Form des Streites zwischen Willens- und Erklarungstheorie über zahlreiche einseitige oder zu scharftrennende theoretische Erklarungs-versuche bis zum krassen Selbstwiderspruch eines angeblichen «faktischen Vertrages».

Zunehmend und mit gutem Grund beach tet wurde in der neueren Rechts-entwicklung aber auch die haufig unterschiedliche Verhandlungsstarke der Kontrahenten, die ihre Interessendurchsetzungschance sehr massgebend mit-bestimmt. Darin liegt eine grosse Herausforderung ftir die Jurisprudenz. Eine realitatsfeme, aber einfache und daher einflussreiche Tendenz in der Diskus-sion unterstellte dabei freilich, dass es moglich sei, konkrete Verhandlungs-starke rechtlich deutlich zu messen und daher auch durch rechtliche Mass-nahmen ein wünschenswertes voiles Gleichgewicht herzustellen. lm Extremfall

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wurde sogar gelehrt, dass reale Handlungs- und Entscheidungsaltemativen aufbeiden Seiten Gültigkeitsvoraussetzungen für jedes Rechtsgeschaft sei en.

Das müsste konsequenterweise aber dazu führen, dass niemand seine beson-ders dringenden Interessen, bei denen er praktisch «keine Wahl» hat, durch rechtsgeschiiftliche Vorgiinge befriedigen kônnte.

Eine «kombinatorische» Theorie des Rechtsgeschiifts- bzw. des Vertrags-rechts, die auf der Lehre vom beweglichen System beruht, bietet nun einen geeigneten Ansatz, der viel von der angedeuteten Verwirrung im Grundlagen-bereich und von ihren manchmal sehr bedenklichen praktischen Folgen ver-meiden kônnte. Die in der Diskussion herausgearbeiteten zahlreichen norma-tiven Gesichtspunkte lassen sich von diesem Ansatz aus ais blosse Teilwahrheiten erkennen und zu einem beweglichen System der leitenden Grundsiitze des Vertragsrechts vereinigen. Die konsistente Deutung und An-wendung des Vertragsrechts liisst sich dadurch vorantreiben. Mein erster dies-bezüglicher Versuch wurde vor 30 Jahren in einer Monographie gemacht.

Kürzlich habe ich ihn in einer Schrift über System und Prinzipien des Privat-rechts wieder aufgenommen und in manchem modifiziert.

Danach liisst si ch das Rechtsgeschiifts- bzw. Vertragsrecht systematisch in seinen wichtigsten Zügen aus dem Zusammen- und Gegeneinanderwirken von vier Prinzipien erkliiren: 1. Privatautonomie, also vom eigenen Will en getragene Selbstbestimmung der einzelnen Beteiligten bezüglich der Rechts-folgen; im Regelfall aufbeiden Seiten, was zum «Konsens» und zu dessen-beschriinkter- «Richtigkeitsgewiihr» führt, weil si ch eine Einigung nur bei Ausgleich gegensiitzlicher Interessen ergibt.

Die Wirkungsstiirke dieses Prinzips istje nach den gegebenen Umstiin-den unterschiedlich, also abstufbar. lm Idealfall der bewusst und über alle relevanten Fakten, die man wissen kann, voll informiert getroffenen und kor-rekt erkliirten Entscheidungen zwischen môglichen zumutbaren Altemativen ist die rechtsfolgenbegründende Wirkung am stiirksten. Bei bewussten Wil-lensakten, die auffalschen Tatsachenvorstellungen, also auflrrtum, beruhen, steht der «eigentliche», irrtumsfreie Wille dem tatsiichlich gebildeten entge-gen, was die Begründungseignung des letzteren für bestimmte Rechtsfolgen reduziert. Âhnliches gilt für einen- im Verhiiltnis zum tatsiichlichen Willens-inhalt- falsch erkliirten Will en. Endlich kann die Bedeutung des ohne recht-liche Notwendigkeit und ohne nôtigenden Zwang eines Gegenbeteiligten ge-bildeten und erkliirten, also «formai» freien Willens dadurch beeintriichtigt sein, dass ( einseitig) keine zumutbaren Wahlmôglichkeiten bestehen.

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In allen diesen Fallen ist das Begründungsgewicht der Privatautonomie reduziert und die Gültigkeit des Geschaftes von der Abwagung mit den in der Folge zu nennenden weiteren Grundsatzen abhiingig.

Dasselbe gilt bei blosser «Privatautonomie im weiteren Sinn»: Hier fehlt es überhaupt an einer bewussten rechtsgeschaftlichen Willensbildung, tritt aber dennoch eine rechtsgeschiiftliche Willenserklarung des einen Beteiligten dem anderen in dessen Sicht entgegen, was fùr den unbewusst Erklarenden immerhin vermeidbar, also willentlich beeinflussbar, war. Diese Vermeidung ware - eine Abgrenzung zur sonstigen, nicht rechtsgeschaftlichen Verant-wortlichkeit fiir bestimmtes Verhalten! - bereits durch eine Aufklarung des Gegenbeteiligten über den fehlenden oder anders lautenden Will en des bloss objektiv Erklarenden moglich gewesen. Der Zusammenhang mit dem Willen des unbewusst Erklarenden ist also ein weiter und negativer: Er besteht in der Moglichkeit der willentlichen Vermeidung der (nur objektiv vorliegenden) Wil-lenserklarung (mindestens auch) durch deutliche gegenteilige Âusserung.

2. Verkehrsschutz, insbesondere Schutz begründeten (aufSorgfalt beru-henden) Vertrauens beim anderen Beteiligten ist das zweite massgebende Prin-zip, dessen Bedeutung ersichtlich umso mehr wachst, je «dünner» die An-knüpfung an den rechtsgeschiiftlichen Will en des Erklarenden ist. Je nach den konkreten rechtlichen Anforderungen an die Sorgfalt des Vertrauenden, die umgekehrt proportional zu den insgesamt drohenden Verkehrsstorungen ist, kann auch dieses Prinzip eine gestufte Rechtfertigungskraft aufweisen. Bei besonders intensiven Verkehrsinteressen oder bei besonders unzweckmassi-gen Nachforschununzweckmassi-gen nach der konkreten Vertrauenslage, etwa bei kleinen Geschaften des Alltags, kann der Vertrauensschutz ohne nahere Prüfung ge-nere li bejaht, also zum abstrakten «Verkehrsschutz» werden; etwa bei offent-licher Registrierung von untemehmerisch begründeten Vollmachten fiir zahl-reiche Geschafte.

3. Noch zureichende inhaltliche Âquivalenz, also ein Minimum an Vertragsgerechtigkeit, der vertraglichen Leistungen und der fiir die vertragli-che Risikoverteilung massgebenden Rechtspositionen, genauer das Fehlen deutlicher Iniiquivalenz, ist das dritte Prinzip, das bei geringer Rechtfertigungskraft der Privatautonomie, insbesondere in Irrtumsfallen, in Zwangslagen und unter geanderten Verhiiltnissen korrigierend zu beachten ist.

4. Das Prinzip der Selbstverantwortung fordert endlich das

4. Das Prinzip der Selbstverantwortung fordert endlich das