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Rechtliche Hintergründe und Grundbegriffe

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Wiseman and others

2. Rechtliche Hintergründe und Grundbegriffe

Da manche Elemente des Falles sich in Schottland, andere sich hingegen in England zugetragen hatten, war vorab die Frage der internationalen Zuständigkeit zu klären:

Durfte das englische Gericht über den Fall urteilen oder waren die schottischen Ge-richte international zuständig?

a) System des internationalen Zivilverfahrensrechts in der Schweiz und der Europäischen Union

Die Lösung dieser Frage bestimmt sich wie in jedem Fall mit Auslandsberührung nach den einschlägigen Normen des internationalen Privatrechts,3 weshalb im Folgenden eine kurze Einführung der relevanten Instrumente und Normen folgt. Im europäischen Rechtsraum wird die internationale Zuständigkeit insbesondere anhand der Brüssel I-VO4 und des Luganer Übereinkommens (LugÜ)5 bestimmt. Da diese beiden Instrumente weitgehend kongruent sind6 und die entsprechenden nationalen Normen des schweizerischen Bundesgesetzes über das Internationale Privatrecht (IPRG) ebenfalls eine vergleichbare Systematik aufweisen, wird im Folgenden eine übergreifende Darstellung der Zuständigkeitsvorschriften des internationalen Zivilverfahrensrechts vorgenommen.

Wie im nationalen Zivilprozessrecht, so gilt bei Fällen mit Auslandsberührung der Grundsatz actor sequitur forum rei, was bedeutet, dass in der Regel eine internationale Zuständigkeit der Gerichte im Wohnsitzstaat des Beklagten gegeben ist.7 Das gilt

3 Die englischen Gerichte wendeten im konkreten Fall den Civil Jurisdiction and Judgments Act 1982 an. Durch dieses Gesetz erfolgte die Umsetzung des Europäischen Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommens (EuGVÜ) von 1968, vgl. Art. 1 Civil Jurisdiction and Judgments Act. Die hier interessierenden Vorschriften des EuGVÜ sind inhaltsgleich mit den entsprechenden heutigen internationalprivatrechtlichen Normen, weshalb im Folgenden das aktuelle System des internationalen Privat- bzw. Zivilverfahrensrechts dargestellt wird.

4 Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen.

5 Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 30. Oktober 2007.

6 Das erste Luganer Übereinkommen von 1988 wurde als Parallelübereinkommen mit nahezu identischem Wortlaut zu dem ursprünglichen Brüsseler Übereinkommen von 1968, dem Vorläufer der Brüssel I-Verordnungen, abgeschlossen; Überarbeitungen der EU-Verordnung ziehen jeweils Anpassungen des Luganer Übereinkommens nach sich, siehe WALTER/DOMEJ, S.

174.

7 Siehe etwa Art. 4 I Brüssel I-VO, Art. 2 LugÜ, Art. 2 IPRG. Art. 2 IPRG bestimmt direkt die Gerichte am Wohnsitz des Beklagten (sog. internationale und nationale Zuständigkeit), während

dann nicht, wenn eine ausschließliche Zuständigkeit besteht oder eine wirksame Gerichtsstandsvereinbarung getroffen wurde.8 Ansonsten kann je nach Art der Rechtsstreitigkeit zusätzlich zu dem allgemeinen Gerichtsstand im Wohnsitzstaat des Beklagten ein besonderer Gerichtsstand an dem Ort eröffnet sein, der sich durch besondere Sachnähe zu der betreffenden Rechtsstreitigkeit auszeichnet.9

b) Besonderer Gerichtsstand im Fall von unerlaubten Handlungen Für die vorliegende Untersuchung ist einer jener besonderen Gerichtsstände von Interesse: der besondere Gerichtsstand für unerlaubte Handlungen. Die rechtlichen Grundlagen dieses Gerichtsstandes finden sich, um bei den wichtigsten aktuellen Rechtstexten im europäischen und schweizerischen Rechtsraum zu bleiben, in Art. 7 Nr. 2 Brüssel I-VO, Art. 5 Nr. 3 LugÜ sowie 129 IPRG. Art. 7 Nr. 2 Brüssel I-VO lautet wie folgt:

« Eine Person, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, kann in einem anderen Mitgliedstaat verklagt werden: […] wenn eine unerlaubte Handlung oder eine Handlung, die einer unerlaubten Handlung gleichgestellt ist, oder wenn Ansprüche aus einer solchen Handlung den Gegenstand des Verfahrens bilden, vor dem Gericht des Ortes, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist oder einzutreten droht ».

Im Grundsatz gilt seit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes im Fall Bier/Mines de Potasse,10 dass unter der Wendung Ort, « an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist oder einzutreten droht », sowohl der Ort, an dem der Schaden eingetreten ist, als auch der Ort des ursächlichen Geschehens zu verstehen ist. Im Allgemeinen wird in diesem Zusammenhang das Begriffspaar Handlungs- und Erfolgsort verwendet. Die Rechtfertigung für eine solch weite Auslegung besteht darin, dass beide Orte für die gerichtliche Zuständigkeit eine « kennzeichnende Verknüpfung begründen » und « für die Beweiserhebung und für die Gestaltung des Prozesses in eine besonders sachgerechte Richtung weisen » können, weshalb eine

Art. 4 Brüssel I-VO und Art. 2 LugÜ die Bestimmung der internen Zuständigkeit den nationalen Zuständigkeitsvorschriften überlassen.

8 Zur Systematik des IPRG und des LugÜ siehe z.B. WALTER/DOMEJ, S. 117 ff., 197 f.

9 Siehe Art. 7 Brüssel I-VO bzw. Art. 5 LugÜ, die eine Liste mit besonderen Zuständigkeiten enthalten. Das IPRG ist anders aufgebaut, dort sind die besonderen Zuständigkeitsvorschriften in dem jeweiligen thematischen Abschnitt enthalten: Art. 108 IPRG betreffend Immaterialgüterrechte, Art. 112 ff. IPRG für verschiedene Vertragstypen und Art. 129 ff. für unerlaubte Handlungen. Vgl. zu den Geltungsgründen beispielsweise Erw. 16 der Brüssel I-VO:

« Der Gerichtsstand des Wohnsitzes des Beklagten sollte durch alternative Gerichtsstände ergänzt werden, die entweder aufgrund der engen Verbindung zwischen Gericht und Rechtsstreit oder im Interesse einer geordneten Rechtspflege zuzulassen sind. […] »

10 EuGH, 30.11.1976, Handelskwekerij G. J. Bier B. V./Mines de Potasse d'Alsace S. A., Rs. 21/76.

generelle Entscheidung für den einen oder anderen Ort nicht sachgerecht wäre.11 Der Grundsatz, dass der Geschädigte nach seiner Wahl vor dem Handlungs- oder dem Erfolgsort gerichtlich gegen den Schädiger vorgehen kann, wird als Ubiquitätsprinzip bezeichnet.12

Diese Auslegung ist von Bedeutung für sogenannte Distanzdelikte, welche dadurch gekennzeichnet sind, dass der Ort der deliktische Handlung nicht demjenigen der Rechtsgutsverletzung entspricht.13 Beispielhaft sind etwa mittels Presse oder Internet begangene Immaterialgüter- oder Persönlichkeitsrechtsverletzungen zu nennen, bei denen der Schädiger in einem Staat agiert und Inhalte erstellt, sich jene Handlungen hingegen an einem oder vielen anderen Orten auswirken. Auch wenn die Handhabung der deliktischen Zuständigkeitsvorschriften, insbesondere für die genannten mittels Internet oder Presse begangenen Delikte,14 immer weiter ausdifferenziert wurde, so besteht die Unterscheidung zwischen Handlungs- und Erfolgsort und die grundsätzliche Möglichkeit, an beiden Orten Klage zu erheben, seit dem Urteil Bier/Mines de Potasse als Grundsatz im internationalen Deliktsrecht fort.

Im schweizerischen Art. 129 S. 2 IPRG, der dem Rechtsanwender gleichzeitig den allgemeinen Gerichtsstand ins Gedächtnis ruft, werden die Begriffe des Handlungs- und Erfolgsortes ausdrücklich genannt: « Für Klagen aus unerlaubter Handlung sind die schweizerischen Gerichte am Wohnsitz des Beklagten oder, wenn ein solcher fehlt, diejenigen an seinem gewöhnlichen Aufenthaltsort zuständig. Überdies sind die schweizerischen Gerichte am Handlungs- oder Erfolgsort […] zuständig. »

c) Sonderfall reine Vermögensschäden

Das Ubiquitätsprinzip stößt an seine Grenzen, wenn aufgrund mehrerer Handlungs- oder Erfolgsorte die Zuständigkeit etlicher Gerichte in Betracht kommt oder diese Orte schwierig zu bestimmen sind.15 Bei deliktisch verursachten reinen Vermögensschäden ist insbesondere letzteres, das heißt die Verortung von Handlung und insbesondere Erfolg problematisch.

Vor der Erläuterung dieser Aussage sei kurz der Begriff der reinen Vermögensschäden erklärt: Reine Vermögensschäden lassen sich definieren als diejenigen Schäden, die nicht an sogenannten absoluten Rechtsgütern wie Leben, Leib, Freiheit oder Eigentum, sondern unmittelbar am Vermögen eintreten.16 Dies lässt sich mit dem eingangs geschilderten Fall veranschaulichen: Die klägerische

11 Ibid., Rz. 15ff.

12 Siehe z.B. SIEHR, S. 353.

13 Gegenbeispiel ist das sogenannte Platzdelikt, wie etwa eine einfache Körperverletzung.

14 Siehe hierzu PICHT, S. 19.

15 Siehe z.B. den Überblick von STADLER in: Musielak/Voit, ZPO, Art. 7 EuGVVO Rz. 19-21.

16 PARISI/PALMER/BUSSANI, S. 32.

Versicherungsgesellschaft hatte die Versicherungssumme an Mr. Wiseman aufgrund des Untergangs des Bootes und der nachfolgend von ihm sowie von seinen Matrosen getätigten Aussagen ausgezahlt. Aus Sicht der Klägerin ging dieser Vermögensminderung kein Schaden an einem eigenen absoluten Rechtsgut voraus, die Auszahlung der Versicherungssumme war also für sie ein reiner Vermögensschaden.

In vielen europäischen Rechtsordnungen ist der Schadenstypus des reinen Vermögensschadens ein Begriff. In der Schweiz, in Deutschland, England oder beispielsweise in skandinavischen Rechtsordnungen wird beim Erleiden reiner Vermögensschäden grundsätzlich kein Ersatz gewährt.17 Demgegenüber ist das Deliktsrecht im belgischen und französischen Recht von einer Generalklausel geprägt, welche für diese Schadensart keine generellen Einschränkungen enthält, sondern die Haftung nach anderen Kriterien limitiert.18

Hierfür können unterschiedliche Begründungen herangezogen werden: Etwa die geringere Schutzwürdigkeit des Vermögens als sogenanntes relatives Recht gegenüber den besonders geschützten absoluten Rechtsgütern, weiter die mangelnde Vorhersehbarkeit der Schadenersatzpflicht bei Vermögensschäden sowie vor allem das Ziel der Vermeidung einer uferlosen Haftung.19 In ökonomischer Hinsicht lässt sich argumentieren, dass physische Schäden in der Regel den endgültigen Verlust von Ressourcen bedeuten, während reine Vermögensschäden aus einem gesamtwirtschaftlichen Blickwinkel lediglich zu einer bloßen Umverteilung führen.20 Da reine Vermögensschäden im Wesentlichen unterschiedlich gehandhabt werden, ist deren Lokalisierung zur Bestimmung der internationalen Zuständigkeit und des anwendbaren Rechts21 daher in den meisten Fällen von grosser Bedeutung für die materiellrechtliche Falllösung.

17 Ibid., 39, mit Unterteilung in Fallgruppen. Vgl. § 823 I BGB und WAGNER in MüKo BGB, § 823 Rn. 370 (Deutschland); Court of Appeal, Spartan Steel and Alloys Ltd v. Martin & Co Ltd, [1972] EWCA Civ 3, [1973] QB 27, [1972] 3 All ER 557 (England); Korkein Oikeus (Supreme Court) 12.12.2003, KKO 2003:124, R2001/939 (Finnland). Auszüge der genannten Urteile und Rechtstexte sowie Übersetzungen und Materialien aus weiteren Rechtsordnungen in KADNER

GRAZIANO, Comparative Tort Law, Chapter 1.

18 PARISI/PALMER/BUSSANI, S. 30. Siehe Art. 1241 des französischen Code Civil sowie Art. 1382 des belgischen Code Civil. Zu weiteren Rechtsordnungen siehe die Darstellung in KADNER

GRAZIANO, Comparative Tort Law, Chapter 1.

19 Ibid., 31 ff.

20 Ibid., 8 ff. mit Unterteilung in Fallgruppen.

21 Siehe zum anwendbaren Recht: KADNER GRAZIANO, Gemeineuropäisches Internationales Privatrecht, S. 341 ff. Im Hinblick auf das anwendbare Recht ergeben sich bei der Lokalisierung reiner Vermögensschäden weitgehend ähnliche Probleme. Im vorliegenden Beitrag liegt der Schwerpunkt auf der Frage der internationalen Zuständigkeit.

3. Lösung des Falles in internationalprivatrechtlicher Hinsicht

Im oben geschilderten Fall befand sich der Sitz der klägerischen Gesellschaft in England, alle Beklagten waren wohnhaft in Schottland. Die Klägerin stützte sich bei der Klageerhebung in England, in Abweichung von dem allgemeinen Beklagtengerichtsstand, auf die besondere deliktische Zuständigkeit. Nach ihrer Ansicht war als deliktischer Erfolg im Sinne der Bier-Rechtsprechung des EuGH die Zahlung des Geldes zu sehen. Da das Geld von einem englischen Konto überwiesen wurde, sei der Erfolgsort in England zu verorten und die internationale Zuständigkeit der englischen Gerichte gegeben.22

Der englische High Court verwarf diese Ansicht mit der Begründung, die entscheidenden Elemente des Deliktes seien nicht in England, sondern in Schottland zu lokalisieren: Denn dort hatten sich die drei Beklagten zu dem Plan verabredet und später die Falschaussagen zum Unfallhergang gegenüber der Versicherung getätigt.

Diese Handlungen seien für die internationale Zuständigkeit bedeutendere Anknüpfungspunkte als der Geldabfluss seitens der Versicherung. Der Ort, von welchem aus eine schädigende Zahlung vorgenommen werde, könne im Wortsinn zwar als Erfolgsort im Sinne der Bier-Rechtsprechung angesehen werden. Ein solches Verständnis stünde jedoch der Eröffnung eines Klägergerichtsstands gleich, was mit der Systematik der Zuständigkeitsvorschriften unvereinbar sei.23 Die Zuständigkeit englischer Gerichte für den Fall wurde somit verneint.

Das Ergebnis der Entscheidung verdient Zustimmung und entspricht der Linie des EuGH in zwei jüngeren Urteilen.24 Zugleich zeigt der Fall allerdings, wo im Bereich deliktischer reiner Vermögensschäden die Probleme liegen, wenn es um die Bestimmung der gerichtlichen Zuständigkeit geht: Welcher Ort, wenn nicht der Belegenheitsort des Kontos, wäre im Fall reiner Vermögensschäden als Erfolgsort zu bezeichnen? Lässt sich ein solcher Ort überhaupt abstrakt und allgemeingültig bestimmen?

22 Queens Bench Division (Commercial Court), 22.06.2007, Sunderland Marine Mutual Insurance Co Ltd vs. Wiseman and others, [2007] 2 All ER (Comm) 937, Rz. 21, 33.

23 Ibid., Rz. 36. Auch eine Gesamtbetrachtung vor dem Hintergrund der forum non conveniens Doktrin führte nach Ansicht des entscheidenden Gerichts nicht zu einer Gerichtszuständigkeit in England, sondern in Schottland, siehe ibid., Rz. 37-43.

24 EuGH, 10. 6. 2004, Kronhofer/Maier u.a., Rs. C-168/02; EuGH, 16.6.2016, Universal Music International Holding BV/Michael Tétreault Schilling, Irwin Schwartz, Josef Brož, Rs. C-12/15.

Folgt man hingegen dem unten besprochenen (kritikwürdigen) Kolassa-Urteil, erscheint die Annahme eines Erfolgsortes am Sitz der Gesellschaft in Sunderland, England, nicht ausgeschlossen.

4. Fallvariante

Die Dimension des Problems wird deutlich, wenn man den Fall abändert:

Angenommen, die Beklagten wären in Irland wohnhaft gewesen und hätten nur auf dem Boot gearbeitet, welches demgegenüber in Schottland registriert wäre, wo sich auch der Heimathafen befände. Angenommen, die drei Täter hätten den Plan nicht in Schottland, sondern während einer Fahrt auf dem Boot außerhalb der Hoheitsgewässer gefasst. Die Befragungen durch die Versicherung wären per Email erfolgt und während der Beantwortung dieser Emails hätten sich die Beklagten in unterschiedlichen Karibikstaaten aufgehalten. Wäre es in einem solchen Fall überhaupt möglich, eine besondere deliktische Zuständigkeit auf Grundlage der Lehre vom Handlungs- und Erfolgsort zu begründen?

Im Ausgangsfall waren die maßgeblichen Deliktselemente in Schottland zu verorten, die stärkere Beziehung zu schottischen Gerichten daher offensichtlich. In der Variation hingegen wird deutlich, dass es unter Umständen nicht eine einzige, klar lokalisierbare deliktische Handlung gibt. Vielmehr haben Planung, Planumsetzung und die daran anschließende Falschaussage zusammen die Auszahlung der Versicherungssumme, also den Schaden bei Versicherung verursacht.

Sollte bei einem solchermaßen zersplitterten Sachverhalt eventuell doch wieder das Konto am Wohnort beziehungsweise an der Niederlassung des Geschädigten als hinreichend starker Anknüpfungspunkt und Erfolgsort angesehen werden?

Beispielsfall 2 : Harald Kolassa v. Barclays Bank

Solche Fragen sind keineswegs rein theoretischer Natur, sondern führten in jüngerer Zeit immer wieder zu Vorlagefragen an den Europäischen Gerichtshof in überaus so-zialrelevanten Fällen. Aus dem Kreis jener Entscheidungen sei beispielhaft das soge-nannte Kolassa-Urteil genannt.25 Diesem Urteil ging die Klage eines österreichischen Anlegers voraus, der nach der Investition in englische Wertpapiere einen Vermögens-schaden erlitten hatte.

25 EuGH, 28.1.2015, Kolassa/Barclays Bank plc, Rs. C-375/13.

1. Sachverhalt

Zusammengefasst lag dem Urteil folgender Sachverhalt zugrunde: Die Barclays Bank mit Sitz in London hatte Zertifikate in Form von sogenannten Inhaberschuldverschrei-bungen26 ausgegeben, um sie (ausschließlich) an institutionelle Investoren zu verkau-fen. Die Ausgabe erfolgte auf Grundlage eines gesetzlich vorgeschriebenen Ba-sisprospekts,27 der unter anderem in Österreich notifiziert war.28 Unter den Erwerbern der Zertifikate befand sich die in München ansässige DAB Bank, welche die Zertifi-kate ihrer österreichischen Tochtergesellschaft direktanlage.at übertrug. Von dieser Tochtergesellschaft erwarb der ebenfalls in Österreich ansässige Herr Kolassa die Pro-dukte. Entsprechend den deutschen Vorschriften zum Wertpapierhandel wurden die Zertifikate von direktanlage.at im eigenen Namen auf Rechnung von Herr Kolassa in München gehalten; er wurde daher nicht Eigentümer, sondern nur Inhaber eines schuldrechtlichen Anspruchs. Die Zahlung an direktanlage.at in Höhe von € 68.180,35 leistete Kolassa von einem österreichischen Konto. Zwischen der emittierenden Barclays Bank und dem Anleger bestand keine vertragliche Beziehung.

Die Wertentwicklung der Zertifikate war von einem Portfolio mehrerer Zielfonds ab-hängig. Mit der Verwaltung dieses Portfolios war eine deutsche GmbH durch die Barclays Bank betraut worden. Diese Gesellschaft war, wie sich später herausstellen sollte, Teil eines betrügerischen Firmenkomplexes, dessen Funktionsweise einem Schneeballsystem ähnelte.29 Letztlich verloren die von Kolassa erworbenen Zertifi-kate ihren Wert vollständig.

26 Dies sind Anleihen, die den Emittenten verpflichten, an den jeweiligen Inhaber der Anleiheurkunde die Zinsen und den Rücknahmekurs bei Fälligkeit der Papiere zu leisten, siehe http://wirtschaftslexikon.gabler.de/Definition/inhaberschuldverschreibung.html [zuletzt abgerufen am 19.12.2017].

27 Dies ist ein Prospekt, der über die Anlage informiert und alle für die Entscheidung des Anlegers wesentlichen Angaben enthält. Die Verpflichtung zur Ausgabe eines solchen Prospektes folgt für die Mitgliedstaaten der EU aus Art. 3 Abs. 1 und Art. 5 der Richtlinie 2003/71/EG (Prospektrichtlinie) in der Form, welche diese durch die Änderungsrichtlinie 2010/73/EU erhalten hat und für die Finanzmarktakteure durch die jeweiligen nationalen Umsetzungsrechtsakte. Zu den wichtigsten erforderlichen Angaben siehe zum deutschen Recht http://www.bafin.de/SharedDocs/Downloads/DE/Broschuere/dl_b_wertpapierprospekt.pdf?__b lob=publicationFile&v=9, S. 9 ff. [zuletzt abgerufen am 19.12.2017].

28 Dies bedeutet, dass die ursprüngliche Finanzaufsichtsbehörde gegenüber der österreichischen Finanzaufsichtsbehörde die Billigung des Prospektes bescheinigt. So kann der ursprüngliche Prospekt ohne weiteres gesondertes Verfahren in Österreich verwendet werden, vgl.

https://www.bafin.de/DE/Aufsicht/Prospekte/Wertpapiere/ErstellungBilligung/erstellung_billig ung_node.html [zuletzt abgerufen am 19.12.2017] exemplarisch zum deutschen Recht, das die Prospekthaftungsrichtlinie (Richtlinie 2003/71/EG in der durch die Änderungsrichtlinie 2010/73/EU modifizierten Fassung) umsetzt.

29 Der Gründer der Gesellschaft ließ wohl das erhaltene Kapital letztlich an eigene Firmen transferieren; eine positive Wertentwicklung des Fonds war nur bei konstantem Kapitalzufluss

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