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Realienbezeichnungen als Übersetzungsproblem

Stärker als in anderen Ländern wurden in der DDR zahlreiche Neologismen geschöpft, um die Lebenswirklichkeiten, die stark vom Staat geprägt waren, sprachlich auszudrücken. Diese Neologismen waren Abbilder einer Wirklichkeit, die es in anderen Gesellschaften nicht gab, sodass sie als Realienbezeichnungen bezeichnet werden können.

Realienlexeme aus der DDR erschwerten vor allem die Übersetzung in die Fremdsprache, sei es bei Texten für die Außendarstellung der DDR, die im Auftrag der Regierung in der DDR übersetzt wurden, oder bei Texten über die DDR, die im Ausland verfasst oder dort übersetzt wurden.

Bei der Übersetzung stellen Realienbezeichnungen nicht nur bei literarischen Übersetzungen, sondern auch bei der Übersetzung von Fachtexten (Politik, Wirtschaft etc. betreffend) ein kulturspezifisches Übersetzungsproblem dar. Es handelt sich nach der Differenzierung von Christiane Nord um ein pragmatisches Übersetzungsproblem, da Realienbezeichnungen objektiv sind und ihre Ursache in verschiedene kulturellen Strukturen haben (vgl. Nord 2009:177f.). Das Wissen um einzigartige kulturspezifische Gegebenheiten und landeskonventionelle Elemente gehört zur Kulturkompetenz des Übersetzers. Der Übersetzer

„soll Kommunikation über Kultur- und Sprachgrenzen hinweg ermöglichen“ (Witte 2000:75).

Übersetzer und Auslandskorrespondenten nehmen mit ihren Kenntnissen in diesem Bereich eine entscheidende Stellung ein. Auch die Kenntnis der eigenen Kultur muss umfassend sein, da nur so ein angemessener Vergleich erfolgen kann, der eine entsprechend qualitative Versprachlichung ermöglicht. „Im interkulturellen Kontakt geschehen Wahrnehmung, Interpretation und Bewertung der Fremdkultur letztlich im und durch den Vergleich mit der Eigenkultur“ (Witte 2000:77). Dieser Vergleich muss bewusst erfolgen, damit Unterschiede erkannt werden können und entsprechend verfahren werden kann. Fremdkulturwissen ist stets eigenkulturspezifisch.

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Die Kulturspezifik ergibt sich dadurch, dass Sprache Ideen und Vorstellungen wiedergibt, die von einer Kultur vertreten werden. Unter Kultur versteht man dabei:

„[…]all das, was man wissen, beherrschen und empfinden muss, um beurteilen zu können, wo sich Einheimische in ihren verschiedenen Rollen erwartungskonform oder abweichend verhalten, und um sich selbst in der betreffenden Gesellschaft erwartungskonform verhalten zu können, sofern man dies will und nicht etwa bereit ist, die jeweils aus erwartungswidrigen Verhalten entstehenden Konsequenzen zu tragen.“ (Göhring 1978:10)

Somit bedeuten unterschiedliche Kulturen immer auch unterschiedliche Denkmuster, Ideen und Weltanschauungen, was gerade in der vorliegenden Thematik von Bedeutung ist. Die Einzigartigkeit bestimmter Konzepte wird beim Übersetzen deutlich, wenn Realienbezeichnungen auftreten.

a) Begriffsbestimmung und Definition

Zur näheren Bestimmung von Realienbezeichnungen kann zunächst gesagt werden, dass „sich die Realienbezeichnung als Wort gegen andere ‚Sonderbegriffe‘ der Sprache abgrenz[t]. Zu allererst gegen den Terminus, der einer Realie geradezu entgegengesetzt ist“ (Markstein 2006:288).

In einigen Fällen ist es schwer abzugrenzen, wann es sich um eine Sprachvariante handelt und wann um eine Realienbezeichnung, da das Empfinden oft subjektiv ist. Fremdheit allein reicht nicht, um etwas als Realienbezeichnung zu definieren (vgl. Markstein 2006:289). Gerade beim Vergleich verschiedener Kommunikationsgemeinschaften innerhalb einer Sprache muss zwischen Realienbezeichnungen und Sprachvarianten unterschieden werden. So stellt die in der DDR verwendete Bezeichnung „Fahrerlaubnis“ im Verhältnis zur Bezeichnung

„Führerschein“ in der BRD eine Variante dar. „Staatsratsvorsitzender“67 ist hingegen eine Realienbezeichnung der DDR, da das politische Konzept in der BRD nicht existiert.

Neben der Abgrenzung des Phänomens erweist sich auch dessen Benennung als schwierig.

67 Der Staatsrat war das kollektive Staatsoberhaupt der DDR, das aus 25 Mitgliedern bestand und von der Volkskammer gewählt wurde. Der Staatsratsvorsitzende stand an der Spitze dieses Gremiums. Vorsitzende des Staatsrats waren Walter Ulbricht, Erich Honecker, Egon Krenz und Manfred Gerlach (vgl. Wolf 2000:216f.).

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Auch unter den Vertretern der Leipziger Schule, die sich ebenfalls mit dieser Thematik beschäftigt haben, existiert keine einheitliche Bezeichnung. So findet man u. a.

„äquivalenzlose68 Lexik“ (Wotjak), „Lücke“ (Jäger) „Realienbezeichnungen“ (Krüger) und

„Realienlexem“ (Kutz 1977a:12). Kutz und Krüger unterscheiden zwischen „Realie“ als

„Ausschnitt der objektiven Wirklichkeit“ (Kutz 1977a:12) und „Realienlexem“ bzw.

„Realienbezeichnung“ als Bezeichnung dieser Wirklichkeit.

In der gleichen Weise unterscheiden sich die Definitionen der Realienbezeichnungen. Es folgt hier nur eine kleine Auswahl. Barchudarow versteht unter Realienbezeichnungen: „Wörter für Gegenstände, Begriffe und Situationen, die in der praktischen Erfahrung der Träger einer anderen Sprache einfach nicht vorhanden sind“ (1979:101). In Iwanows Definition wird die Darstellung explizierter: „lexikalische Einheiten, die milieuspezifische […] Erscheinungen des QS-Bereiches bezeichnen, welche im ZS-Bereich nicht vorhanden sind oder aus anderen Gründen sprachlich nicht besonders bezeichnet werden“ (1985:18). Kade erklärt

„milieuspezifische Erscheinungen“ ähnlich als „sozial-ökonomische und kulturelle […]

Erscheinungen, die einer bestimmten sozial-ökonomischen Ordnung bzw. einer bestimmten Kultur eigen sind“ (1968:74). Kutz bietet seinerseits eine umfassende Begriffserklärung, die sowohl den Sprachvergleich als auch die Ursache für Realien beinhaltet Danach sind Realienbezeichnungen:

„sprachliche Kodifizierungen der in einer bestimmten Phase gesellschaftlicher Entwicklung entstandenen spezifischen Erscheinungen des gesellschaftlichen […] Lebens einer historisch gewachsenen Kommunikationsgemeinschaft, die sich beim Vergleich der objektiven Wirklichkeit zweier (oder mehrerer) Kommunikationsgemeinschaften, der Systeme von kodifizierten Abbildern und der jeweiligen Sprachsysteme im Fehlen (1) einer entsprechenden Referenz, eines kodifizierten Abbilds im Bewusstsein der ZS-Empfänger und eines Formativs oder (2) eines entsprechenden kodifizierten Abbilds und eines Formativs äußern.“ (1977a:14)

Insgesamt lassen sich für Realienbezeichnungen folgende Merkmale ableiten: Es handelt sich bei dieser sprachlichen Erscheinung um kulturspezifische, vom Menschen geschaffene Ausschnitte der Wirklichkeit (vgl. Markstein 2006:289), die als Identitätsträger der

68 Äquivalenz ist die Beziehung zwischen AS- und ZS-Text, die in ihrer Kultur auf ranggleicher Ebene die gleiche Kommunikationsfunktion erfüllen (vgl. Reiß / Vermeer 1984:139).

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ausgangssprachlichen Kultur dienen. Des Weiteren basiert ihre Sprachspezifik auf ihrer Kulturspezifik und es existiert in der Zielsprache kein Äquivalent für Realienbezeichnungen (vgl. Herrmann 1996).

b) Merkmale von Realienbezeichnungen

Die ebengenannten Merkmale sollen an dieser Stelle etwas genauer erörtert werden. Nach Reinart werden sie ausschließlich in einem Sprachvergleich deutlich (vgl. 2009), da sich innerhalb einer Kommunikationsgemeinschaft69 Merkmale wie der Sprachbezug nicht zeigen, weil die Sprecher dort über die gleichen sprachlichen Voraussetzungen und die gleiche Präsupposition verfügen. Innerhalb der Kommunikationsgemeinschaft der DDR-Bürger verursachten Bezeichnungen wie „Reisekader“70 oder „Jungpionier“71 daher keine Kommunikationsprobleme. Für andere deutschsprachige Sprecher wird die Kulturspezifik hingegen sehr deutlich und die Suche eines Äquivalents schwierig. Wie diese Beispiele ebenfalls zeigen, haben Realienbezeichnungen immer einen soziokulturellen Bezug, da es sich um von Menschen Geschaffenes (vgl. Markstein 2006:289) handelt. Es werden gesellschaftliche und politische Einrichtungen bzw. Organisationsformen („Reisekader“), Titel („Jungpionier“) oder Kulturgut wie Feiertage, Bräuche etc. bezeichnet, wodurch die Kulturspezifik unterstrichen wird.

Sprache „fixiert […] die kulturspezifischen Vorstellungen der Welt, die Realitätsauffassungen einer Gesellschaft“ (Reinart 2009:52), sodass Sprachspezifik mit Kulturspezifik einhergeht.

Da der Staat Einfluss auf die Kultur einer Gesellschaft nimmt und Teil dieser Kultur ist, kann die Entstehung von Realienbezeichnungen – als Abbildung der kulturellen Wirklichkeit – als ein Ergebnis dieser Beeinflussung gesehen werden.

Die Kulturspezifik von Realien bedingt, dass der Wirklichkeitsausschnitt in einer anderen

69 Kommunikationsgemeinschaft wurde hier anstatt Sprachgemeinschaft gewählt, da diese Gruppe nicht mit Sprechern der gleichen Sprache gleichgesetzt werden kann. Auch innerhalb einer Sprachgemeinschaft können soziokulturelle Besonderheiten zur Entstehung von Realienbezeichnungen führen.

70 Ein Reisekader war eine Person, der „Dienstreisen ins Ausland übertragen wurden. Um Reisekader für nichtsozialistische Staaten zu werden, war – neben familiären Bindungen (d. h. man mußte verheiratet sein und/oder ein Kind haben – eine positive Bewertung der (O-Ton:) ‚politischen Zuverlässigkeit‘ durch den Vorgesetzten und die staatlichen Sicherheitsorgane Voraussetzung“ (Wolf 2000:191).

71 Ein Jungpionier war ein junges Mitglied der Pionierorganisation „Ernst Thälmann“ im ersten bis dritten Schuljahr (vgl. Wolf 2000).

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Kultur fehlt, wodurch ein Äquivalent in einer anderen Sprache fehlt und dort kein entsprechendes Lexem vorhanden ist (vgl. Kade 1968).

In dieser fehlenden Äquivalenz gründet das Problem der sprachlichen Wiedergabe in einer anderen Kommunikationsgemeinschaft. Ohne die Möglichkeit, ein Äquivalent zu verwenden, muss es bei der Übersetzung für die Wiedergabe in der Zielsprache andere Mittel geben.

c) Auflösungsverfahren von Realienbezeichnungen

Es gibt verschiedene ÜS-Verfahren für die Versprachlichung von Realienbezeichnungen, mit denen Äquivalenz bzw. Adäquatheit72 hergestellt wird und die dem kommunikativen Zweck gerecht werden. So können je nach Einzelfall (Text, Übersetzungsauftrag und beteiligtem Sprachenpaar [vgl. Nord 1999:352]) Auflösungsverfahren wie die Entlehnung, die Lehnübersetzung, die Lehnschöpfung, die Umschreibung (Explikation), die Analogieverwendung, die Generalisierung und die Verwendung einer autorisierten Übersetzung angewandt werden.

In den meisten Fällen werden verschiedene Methoden kombiniert. Dabei erfolgt die Entscheidung für ein Auflösungsverfahren nicht wahllos. Je nach Texttyp und Textsorte kann nicht immer gleich verfahren werden. Während in expressiven Texten keine langen Erklärungen realisierbar sind, besteht in informativen Texten unter Berücksichtigung von Layout, Konventionen und Zeichenzahl die Möglichkeit, eine Paraphrase einzufügen. Das Textumfeld ist ebenfalls von Bedeutung. So müssen in einem Fachtext wesentlich exaktere und konkretere Wiedergaben gewählt werden, wohingegen in allgemeinsprachlichen Texten auch eine etwas unspezifischere Realisierung möglich ist, solange sie das Verstehen und den Skopos sichert. Entscheidend für die Wahl ist außerdem, an welcher Stelle im Text die Realienbezeichnung erscheint. Für die Überschrift wird ein anderes Verfahren, für eine kürzere ZS-Realisierung, gewählt als bei einer Wiedergabe im Fließtext. Anzahl und Funktion der Realienbezeichnung bestimmen zusätzlich die Versprachlichung. Der Umgang mit einmalig oder erstmalig im Text auftauchenden Realienbezeichnungen ist ausführlicher als

72 Adäquatheit ist die „Relation zwischen Ziel- und Ausgangstext bei der konsequenten Beachtung eines Zweckes (Skopos), den man mit dem Translationsprozess verfolgt“ (Reiß / Vermeer 1984:139).

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bei deren dritter Wiederholung. Dann reicht eine Entlehnung, weil das Wissen der ZK-Leser zuvor gesichert und die ungleichen Verstehensvoraussetzungen ausgeglichen wurden.

Das größte Problem der Wiedergabe von Realienbezeichnungen ist die mitschwingende Konnotation, die jede Realienbezeichnung enthält:

„Zum Thema Realien gehört ein weiterer, für die Übersetzenden noch subtilerer Bereich – die Konnotationen, durch die Realien fest im Kontext verankert sind. [Ein] Samowar beispielsweise ist mehr als eine russische Teemaschine, das Wort steht darüber hinaus für Gemütlichkeit […].“ (Markstein 2006:289)

Die Übersetzung von Realienbezeichnungen gestaltet sich dadurch schwieriger, ist aber nicht unmöglich, sodass nicht von Unübersetzbarkeit gesprochen werden kann. Eine Versprachlichung ist mit den akzeptierten Mitteln der Zielsprache für jede Erscheinung der objektiven Wirklichkeit möglich, sodass die Nulläquivalenz aufgehoben werden kann.

Dementsprechend gilt auch die Versprachlichung für eine andere Kommunikationsgemeinschaft (ohne eine Übersetzung zu sein) als möglich. Dabei können die gleichen Verfahren genutzt werden wie bei der Übersetzung, was am nachfolgenden Beispiel „La politique étrangère de la R.D.A.“ von Jean-Paul Picaper gezeigt werden soll. Im Anschluss daran werden einige Beispiele aus Übersetzungen des Fremdsprachendienstes Intertext angegeben, die in der DDR für das Ausland in Auftrag gegeben und angefertigt worden. Dabei wird neben dem Umgang mit Realienbezeichnungen auch aufgezeigt, wie propagandistischen Formulierungen für das Zielpublikum versprachlicht wurden.