• Aucun résultat trouvé

Der Einfluss auf die Sprache 19

Alle Eingriffe in die eben dargelegten Bereiche führen zu sprachlichen Besonderheiten oder verlangen den Einsatz spezifischer sprachlicher Mittel. Dies soll in diesem Abschnitt näher betrachtet werden, wobei insbesondere die Merkmale berücksichtigt werden, die auch für die Übersetzung von Bedeutung sind. Es ist wichtig hervorzuheben, dass keine DDR-Sprache existierte. Es wurde ebenso Deutsch gesprochen wie in der BRD und zum größten Teil gab es zwischen beiden Gruppen in Alltagssituationen keine Verständnisschwierigkeiten. Wie in jeder Kommunikationsgemeinschaft gab es Besonderheiten, die von spezifischen Kommunikationssituationen und -bedürfnissen hervorgerufen wurden. Außerdem ist die Kommunikation von den Kenntnissen und Erfahrungen der Partner abhängig. Das Sprachbewusstsein wird von der Außenwelt geprägt und verändert sich dadurch nur langfristig (vgl. Hartung 2004:36f.):

„Manches davon (etwa Wörter und ihr Gebrauch) kann sich oft ohne größere Mühe aktuellen Veränderungen anpassen, anderes (etwa Aussprache und Grammatik) ist über viele Generationen mehr oder weniger fest. Das sich darüber bildende Sprachbewusstsein ist entsprechend komplex – und nur noch sehr bedingt aus einer aktuellen Situation erklärbar oder allein auf sie beziehbar. Das gilt auch für die Sprecher, die in der DDR lebten.“ (Hartung 2004:37)

19 Beispiele zur Sprache (Lexik, Stil etc.) werden unter Punkt C 2.4 angegeben.

Vivien Berg 35

Solche Veränderungen fanden zum Beispiel unter verschiedenen Staatsführungen statt, die verschiedene Politiken und Strategien verfolgten:

„Es gibt erhebliche Unterschiede im Vokabular (nur dies als Beispiele) zwischen der frühen (stalinistischen) und der späteren Ulbricht-Zeit, zwischen der Honecker-Ära der Abgrenzung und der Glasnost- und Perestroika-Zeit. Ähnliches gilt für die BRD.“ (Hellmann 2004:21)

Walter Ulbricht verfolgte das Ziel, die Sprache zu pflegen und vor schädlichen Einflüssen zu bewahren:

„Hatte [Walter Ulbricht] doch 1970 in Abgrenzung von der ‚vom Imperialismus verseuchten und von den kapitalistischen Monopolverlagen manipulierten Sprache‘ in Westdeutschland für die DDR in Anspruch genommen, dass sie die ‚deutsche Sprache Goethes, Schillers, Lessings, Marx‘ und Engels‘, die vom Humanismus erfüllt ist‘, pflegte.“ (Schlosser 2004:48)

Die Bestrebungen zu dieser Zeit sind ein Grund dafür, dass die Sprache in der DDR altmodischer und konservativer war als in der BRD. Die Sprache war vom Humanismus und der Klassik geprägt.

Auch die politische Sprache war in der DDR konservativer. Durch die Machtverhältnisse im Land bedurfte es keiner Wortgefechte im Wahlkampf, um Wählerstimmen zu gewinnen. Des Weiteren verwendete die SED-Führung ein Vokabular, das seinen Ursprung in der Weimarer Republik hatte. So wurden beispielsweise „Sozialismus“, „Heimat“, Gemeinschaft“ und

„Volk“ als Hochwertwörter entscheidende Bestandteile der Parteiterminologie. Am Begriff

„Sozialismus“ wurde bis zum Schluss festgehalten, selbst als das Konzept 1989 gescheitert war.

Als wichtige Massenorganisation der DDR ähnelte die FDJ sprachlich der SED:

„In ihr waren Demokratie, demokratisch und antifaschistisch ideologische Leitwörter. Die dreifache Nennung von überparteilich und der Kontext mit der expressiven Wendung wie den eigenen Augapfel hüten weisen auf die zentrale Rolle des Konzeptes der Überparteilichkeit hin. Im weiteren Verlauf der Rede ist FDJ in Kontexte eingebettet wie nationale Werte, Fortschritt des eigenen Volkes, Wohl der Menschheit, Ideale der Freiheit, Demokratie, aber auch verbunden mit konkreten Substantiven, die zeittypische Aufgaben benennen:

Vivien Berg 36 Jugendtraktorenbrigaden, Frühjahrsbestellung, junge Stoßbrigade […] Kennzeichnend […] ist eine Emotionalität, die generell frühen DDR-Reden eigen ist.“ (Geier 2004:101f.)

Ein ebenso wichtiger Punkt in den Texten von SED und FDJ war die Sowjetunion. Bei den zahlreichen Verweisen auf deren Vorbildrolle wurden sowohl positiv konnotierte Wörter verwendet als auch die Familienmetaphorik – die Sowjetunion als „großer Bruder in der sozialistischen Völkerfamilie“ (Geier 2004:104f.):

„Wenn heute das deutsche Volk, die deutsche Jugend die Möglichkeit haben, ungehindert zu den Quellen der Kunst und Wissenschaft zu streben, das kulturelle Erbe unseres Volkes zu pflegen, den 200. Geburtstag seines großen Genius würdig zu begehen, so danken wir dies vor allem einem Volk, in dem die Werke Goethes seit der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution eine Heimstatt haben: dem sowjetischen Volk und seiner ruhmreichen und unbesiegbaren Armee.“ (Geier 2004:104)

Die verschiedenen Kommunikationsakte wiesen unterschiedliche Merkmale auf.

Die Texte der politischen Organisationen dienten häufiger der Propaganda, was sich in der Lexik widerspiegelte. Dabei wurde eine formelle Sprache mit politischen Leit- und Schlüsselwörtern wie „Heimat“, „Arbeiterklasse“ oder „Aufbau des Sozialismus“ kombiniert.

Mit der direkten Einbeziehung der Adressaten durch den Einsatz des Personalpronomens

„wir“ wird die Grenze zwischen Staatsführung und der Bevölkerung verwischt (vgl. Schmidt 2010:32).

Wörter wie „demokratisch“, „Freiheit“ oder „Ideale“ werden in diesem Bereich euphemistisch gebraucht. „Die eigentliche Grundbedeutung der Wörter wurde überlagert und für den eigenen Staat als Aushängeschild benutzt […]“ (Schmidt 2010:32). Damit sollte über Missstände hinweggetäuscht werden. Gleichzeitig wollte man die sozialistische Gemeinschaft betonen und sich so von anderen Staatsformen und Ländern abheben.

In den Artikeln der Zeitungen und Zeitschriften war der Stil häufig elliptisch, propagandistisch und polemisch. Auch hier wurden mithilfe des Wir-Diskurses oder dem Gebrauch des Possessivpronomen „unser“ versucht, den Staat und die Bevölkerung zu einem

„Kollektiv“ zusammenzuführen und den Menschen eine Identifikationsmöglichkeit mit der

Vivien Berg 37

Politik zu geben (vgl. Schmidt 2010:78). Charakteristisch für den offiziellen Sprachgebrauch waren die Verwendung von Abkürzungen sowie die

„Ballung stereotyp benutzter Verbalabstrakta auf -ung […], typische Passivkonstruktionen […] oder auch Kollektivität betonende Indefinitpronomen und Adverbien wie einstimmig, allseitig, ständig usw. […].“ (Wolters 2004:215)

Da es auch im Bereich der Planwirtschaft keinen Wettbewerbsdruck gab und keine Werbemaßnahmen ergriffen werden mussten, wurden die Sprachtraditionen bewahrt und kaum Neuerungen verzeichnet. So wurde der Supermarkt zum Beispiel nicht mit dem Markennamen benannt, sondern hieß schlicht „Kaufhalle“ (vgl. Schlosser 2004:51ff).

Die Bevölkerung blieb von der Wortwahl der Regierung nicht unbeeinflusst. Der private Stil war jedoch weniger formell und weniger elliptisch. Die Anrede „Genosse“ war allerdings zum Beispiel bei der Arbeit ebenso üblich wie die Bezeichnung „Kollege“ (vgl. Kuntzsch 2004:148ff). Neben den lexikalischen Prägungen wurden Abkürzungen, zum Beispiel

„Ökulei“ für „Ökonomisch-kultureller-Leistungsvergleich“ (Schmidt 2010:57), und offizielle Ausdrücke der Staatsverwaltung wie „operativ“ oder „administrieren“ häufig verwendet (vgl.

Dittmar / Steckbauer 2004:172ff). Abkürzungen waren sowohl in der schriftlichen als auch in der mündlichen Kommunikation üblich, zum einen um zu sperrige Ausdrücke zu vermeiden und zum anderen um sich von anderen Personen abzugrenzen (vgl. Schmidt 2010:57). In der Ausdrucksweise waren der oftmals formelle Charakter, Nominalisierungen und der Einsatz von Kommunikationsverben wie „sagen“ oder „ansprechen“ auffällig (vgl. Dittmar / Steckbauer 2004:175).

Am auffälligsten bei der Betrachtung der Sprache in der DDR sind die terminologischen Besonderheiten, die ebenso in offiziellen wie in privaten Texten auftreten. Diese sind zu einem großen Teil auf Neologismen zurückzuführen und zählen somit zur spezifischen Lexik der Kommunikationsgemeinschaft der DDR.

Diese Gruppe der Neologismen kann zusätzlich unterteilt werden in Entlehnungen aus dem Russischen wie „Datsche“ (Bungalow, abgeleitet von дача) oder „Subbotnik“ (freiwilliger Arbeitseinsatz, der meist an einem Samstag stattfand, abgeleitet von суббота [Samstag]) und in DDR-eigene Bildungen wie „Aktendulli“ (Heftstreifen) oder „Ketwurst“ (Hot Dog).

Vivien Berg 38

Dokumente mit diesen sprachlichen Merkmalen können eindeutig der DDR zugeordnet werden, und mit diesen lexikalischen Besonderheiten geht aus übersetzungswissenschaftlicher Sicht das Problem der Realienbezeichnungen einher. Dabei stellt sich die Frage, wie Übersetzer mit dieser kulturellen Färbung umgehen. Unter Punkt C 2.1 wird diese Frage wieder aufgegriffen. Jetzt soll zunächst noch die Lehre des Marxismus-Leninismus näher erläutert werden, da diese einen großen Anteil am Leben der Menschen und so auch am Einfluss durch die Staatsführung hatte.

3 Die Bedeutung der offiziellen Staatsphilosophie Marxismus-Leninismus

Nachdem der Begriff „Marxismus-Leninismus“ bereits in der vorliegenden Arbeit erwähnt wurde, soll hier kurz erklärt werden, was sich dahinter verbirgt und welche Ansichten, Inhalte und weiteren Konzepte damit verbunden sind.

Birgit Wolf gibt in ihrem Wörterbuch „Sprache in der DDR“ folgende Definition für

„Marxismus-Leninismus“:

„Die von Marx und Engels begründete und von Lenin weitergeführte Lehre, die mit ihren drei Teilen Philosophie, Politische Ökonomie und Wissenschaftlicher Kommunismus als (O-Ton)

‚die wissenschaftliche Weltanschauung der Arbeiterklasse und ihrer Partei‘ galt und die von der SED zu ihrer theoretischen Handlungsgrundlage erklärt wurde.“ (2000:142)

Auf dieser Definition aufbauend, soll die Erklärung noch etwas ausgeführt werden.

Der Marxismus-Leninismus war bis zum Ende der 1980er-Jahre die „offizielle Staatsphilosophie in der ehemaligen Sowjetunion und in den einstigen RGW20-Staaten“

(Springer Gabler). Grundlage dieser Philosophie war der Marxismus, die Wirtschafts- und Gesellschaftstheorie und die politische Weltanschauung von Karl Marx und Friedrich Engels.

Die grundlegenden Werke bilden „Das Kapital“ von Marx, in dem er den Kapitalismus kritisiert, und „Das kommunistische Manifest“, das das politische Bekenntnis beinhaltet (vgl.

20 Die Abkürzung RGW steht für den „Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe“, der 1949 als Gegenpol zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft gegründet wurde. Mitglieder des Rates, der in den westlichen Ländern unter der Bezeichnung COMECON geführt wurde, waren die Sowjetunion, Polen, Ungarn, die DDR, die Tschechoslowakei , Rumänien, Bulgarien, die Mongolei, Kuba und Vietnam (vgl. Wolf 2000:193).

Vivien Berg 39

Bundeszentrale für politische Bildung 2012). Wie die neue Gesellschafts- bzw.

Wirtschaftsform gestaltet werden sollte, wurde weder von Marx noch von Engels konkret vorgegeben, sodass verschiedene Modelle möglich waren und vielfach Veränderungen und Anpassungen an bestehende Bedingungen vorgenommen wurden. So modifizierten auch Lenin und später Stalin die Konzepte für die russische Revolution sowie den Aufbau und die Stabilisierung des Landes.

Dabei ist Lenin, der von einer durch die russische Revolution ausgelösten Weltrevolution ausging, für das Konzept des Sozialismus verantwortlich. Kennzeichen der Strömung sind die Diktatur des Proletariats, die unter der Führung einer kommunistischen Partei erfolgt, die Vergesellschaftung von Produktionsmitteln, die zentralisierte Planung und Lenkung der Wirtschaft sowie die Verteilung des Ertrags nach dem Leistungsprinzip (vgl.

Springer Gabler).

Sozialismus ist eine Entwicklungsstufe zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Diese politische Weltanschauung zielt darauf ab,

„eine solidarische Gesellschaft zu schaffen, in der die Grundwerte Freiheit und Gleichheit verwirklicht werden. Eine zentrale Rolle nimmt dabei die Veränderung der privatkapitalistischen Wirtschaftsordnung ein, die nach sozialistischem Verständnis soziale und ökonomische Abhängigkeit begründet und der persönlichen und gesellschaftlichen Emanzipation entgegensteht.“ (Bundeszentrale für politische Bildung 2012a)

Der Begriff erschien im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts und ist mit nicht-kapitalistischen Wirtschaft- und Gesellschaftssystemen mit genossenschaftlichen oder staatlichen Eigentumsverhältnissen verbunden (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2012a). Es ging um „neue, menschlichere Formen des Zusammenlebens sowie der gemeinsamen Produktion und Versorgung“ (Bundeszentrale für politische Bildung 2012a). Zurzeit der Industrialisierung kam es durch die soziale Verelendung und die Ausbeutung der Arbeiter zu einem Aufschwung dieser Weltanschauung, die zur Massenbewegung wurde.

Nach der russischen Revolution entstanden zwei Arten des Sozialismus: eine freiheitliche, demokratische Version, die sich vom Marxismus ab- und zur Sozialdemokratie hinwandte, und die Variante des autoritären Staatssozialismus der Sowjetunion, der sich zum Marxismus-Leninismus bekannte und „unter dessen Diktatur der Arbeiterklasse die Produktionsmittel

Vivien Berg 40

verstaatlicht und der Wirtschaftsprozess zentraler staatlicher Planung und Lenkung unterworfen ist“ (Bundeszentrale für politische Bildung 2012a).

Die höchste und angestrebte Form des Sozialismus ist der wissenschaftliche Sozialismus, der auch unter dem Begriff Kommunismus bekannt ist. Die Lehrmeinung des Kommunismus besagt, dass der Kapitalismus die letzte Form von „Ausbeutungsverhältnissen ‚des Menschen durch Menschen‘“ (Bundeszentrale für politische Bildung 2012b) ist. Der Kommunismus ist gleichzeitig eine politische Bewegung und Herrschaftsform, in der diese Lehrmeinung verbreitet wurde, von Staat zu Staat aber variierte und je nach Ziel weiterentwickelt wurde (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2012b). Im Kapitalismus übernimmt eine kleine Gruppe in Ausbeutungsverhältnissen das gesamte vorhandene Eigentum. Durch den zunehmenden industriellen Fortschritt für immer leistungsfähigere Produktionsanlagen wird vermehrt Kapital benötigt. Gleichzeitig sollen dabei Konkurrenten ausgeschaltet werden. Den Rahmen dafür „bildet eine nur für Kapitalisten vorteilhafte und vom kapitalistischen Staat geschützte Eigentumsordnung, die es erlaubt, eine zunehmende Anzahl von Besitzlosen (Proletariern) auszubeuten“ (Bundeszentrale für politische Bildung 2012b). In dieser Art von Wirtschaft sinkt die Zahl der Kapitalisten durch das Konkurrenzverhalten und gleichzeitig kommt es zu einer „massenhaften Mittellosigkeit und Verelendung der breiten Bevölkerungsmassen“ (Bundeszentrale für politische Bildung 2012b), wodurch diese für die Kapitalisten als Abnehmer ausscheiden. Das Ergebnis dessen ist eine Krise, die zu einer unausweichlichen „Revolution des Proletariats“ (Bundeszentrale für politische Bildung 2012b) führt, bei der das Privateigentum abgeschafft wird und der erreichte Fortschritt der gesamten Bevölkerung zukommt. Nach dieser Revolution ist die „Abfolge von Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnissen […] beendet [und] die klassenlose Gesellschaft des Kommunismus geschaffen“ (Bundeszentrale für politische Bildung 2012b).

Das Erreichen des Kommunismus war das Ziel der sowjetischen Führung, die dafür verschiedene Entwicklungsstufen des Sozialismus durchschritten hat. Nachdem bis zum Ende der 1960er-Jahre der Sozialismus aufgebaut und in diesem Zuge die Wirtschaftordnung der

„staatssozialistischen Zentralplanwirtschaft“ (Springer Gabler) von Stalin durchgesetzt wurde, folgte die „Etappe des entwickelten Sozialismus“ (Springer Gabler), in der die Grundlage für den Kommunismus gelegt werden sollte. Es war allerdings nicht geklärt, „wann und unter welchen Bedingungen letzterer realisiert wird“ (Springer Gabler). Der von der Sowjetunion vertretene Sozialismus wurde auf die anderen Staaten des Ostblocks übertragen, selbst wenn

Vivien Berg 41

vollkommen andere Ausgangsbedingungen gegeben waren.

Mit dem Ende der Sowjetunion – der Schutzmacht des Kommunismus – und den gesellschaftspolitischen Umbrüchen der 1980er- und 1990er-Jahre war das Ende der kommunistischen Bewegung und deren Lehrmeinung zu verzeichnen (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2012b) und der Marxismus-Leninismus hatte im Großteil der RGW-Mitgliedsstaaten „seine Rolle als Staatsdoktrin verloren“ (Springer Gabler). Davor, in der für diese Arbeit relevanten Zeit, wurden nicht nur Privatleben und Produktion beeinflusst, auch die Wissenschaft blieb nicht verschont. Es kann sogar von einer ideologischen Instrumentalisierung der Wissenschaft gesprochen werden. In welchem Verhältnis die Translationswissenschaft der DDR zu dieser Philosophie stand, wird im nächsten Kapitel dargelegt.

B DIE ÜBERSETZUNGSWISSENSCHAFTINDER DDR

1 Die Sprachmittlerausbildung – Möglichkeiten neben dem Studium

Auf dem Staatsgebiet der DDR gab es zwar bereits seit den 1920er-Jahren Dolmetscher- und Übersetzereinrichtungen, wie zum Beispiel Dolmetscherinstitute an den Handelshochschulen (u. a. in Leipzig), an privaten Schulen oder an Auslandsinstituten der Universitäten, Darstellungen über den Inhalt oder den Aufbau der Ausbildung in der DDR gibt es jedoch nur wenige. Eine umfassende Übersicht geben Heidemarie Salevsky und Manfred Schmitz in ihrem 1986 gemeinschaftlich verfassten Artikel „Zur Sprachmittlerausbildung in der Deutschen Demokratischen Republik“. Auf diesen Artikel und die Beschreibung der Ausbildung von Fachübersetzern in der DDR von Gunter Neubert stützen sich die Aussagen im nachfolgenden Abschnitt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde 1946 mit der Berliner Fremdsprachenschule in der Mendelssohnschule die erste Dolmetscherschule in der Sowjetischen Besatzungszone gegründet, womit dem großen Bedarf nachgekommen werden sollte. Die an der Schule ausgebildeten Dolmetscher verließen die Einrichtung mit dem Prädikat „Amtlich geprüft“.

Mit der Betrachtung der Sprachmittlung als autonome wissenschaftlicher Disziplin wurde die Grundlage für ein eigenständiges Studium mit Hochschulcharakter gelegt. Daraufhin wurde

Vivien Berg 42

1956 das Dolmetscherinstitut an der Karl-Marx-Universität gegründet und bereits 1962 folgte das Institut an der Humboldt-Universität zu Berlin. Wenig später nahmen auch die Ernst-Moritz-Arndt-Universität in Greifswald und die Wilhelm-Pieck-Universität in Rostock Studenten für den Studiengang Diplomsprachmittler auf. Bis 1974 wurden dort über 2 000 Diplomsprachmittler mit zwei Arbeitsfremdsprachen ausgebildet (vgl. Salevsky / Schmitz 1986:118).

Neben dem Studiengang wurde seit 1969 in Leipzig außerdem eine dreijährige Fachschulausbildung zum Sprachmittler mit einer Arbeitsfremdsprache angeboten, die mit einem Abschlusszeugnis der 10. Klasse begonnen werden konnte. Seit 1980 gab es eine solche Ausbildung auch in Berlin, jedoch für bereits aktive Sprachmittler, „die in einer Fremdsprache einen Abschluß erwerben möchten und von ihrer Institution dazu delegiert werden, als vierjähriges Fachschulabendstudium“ (Salevsky / Schmitz 1986:118).

Eine weitere Möglichkeit war die Fachübersetzerausbildung, bei der ab 1964 in vier Semestern für ein bestimmtes Fachgebiet (z. B. eine Naturwissenschaft) Kenntnisse im Bereich der Sprachmittlung für die Fremdsprachen Russisch, Englisch und Französisch vermittelt wurden. Um diese Ausbildung an der Humboldt-Universität zu Berlin, der Technischen Universität Dresden, der Technischen Hochschule Karl-Marx-Stadt, der Wilhelm-Pieck-Universität Rostock, der Karl-Marx-Universität Leipzig oder an der Bergakademie Freiberg absolvieren zu können, musste ein Hoch- oder Fachschulabschluss im Fachgebiet nachgewiesen oder angestrebt werden. Der Fachübersetzerabschluss galt dann auch nur in Verbindung mit diesem Abschluss (vgl. Salevsky / Schmitz 1986:118).

Fachübersetzer sollten die Sprachmittlungskapazität in der DDR ergänzen und den Diplomsprachmittlern in den Betrieben zur Seite stehen (vgl. Neubert 1986:124). Neben den fachlichen Kenntnissen, auf denen in den Lehrveranstaltungen aufgebaut wurde, mussten die Bewerber für diese besondere Ausbildung in einer Aufnahmeprüfung auch sprachliche Vorkenntnisse nachweisen:

„Die Bewerber sollten Kenntnisse und Fertigkeiten im Umfang der Sprachkundigenprüfung IIb besitzen. Der Abschluß IIb im Rahmen des Systems der Sprachkundigenausbildung in der DDR bedeutet mittlere Fähigkeiten insbesondere im verstehenden Lesen und im Übersetzen aus der Fremdsprache in dem vom Teilnehmer gewählten Kommunikationsbereich;

verstehendes Hören, Führen von Alltags- und Fachgesprächen sowie schriftliches Formulieren

Vivien Berg 43 von Berichten, Mitteilungen u. ä. werden bei IIb in geringerem Maße gefordert. Einbezogen sind Grundkenntnisse über fachsprachliche Erscheinungen, insbesondere den Grundwortschatz des eigenen Fachgebiets, wie sie in der obligatorischen Fremdsprachenausbildung an den Hoch- und Fachschulen vermittelt werden.“ (Neubert 1986:124)

Durch die Ausbildung sollten Fachleute später in der Lage sein, fremdsprachige Literatur in ihrem Fachgebiet zu übersetzen und ihren Kollegen zugänglich zu machen. Insgesamt war die Ausbildung sehr praxisorientiert, was vor allem an der Wahl der Übungstexte deutlich wurde21. So wurden je nach Fachgebiet Fachartikel, Fachvorträge oder Patente behandelt (vgl.

Neubert 1986:124f.). Die Fremdsprachenkenntnisse wurden ebenfalls ausgebaut. In einem geringeren Umfang wurden auch Übungen zur Übersetzung in die Fremdsprache durchgeführt, wobei diese Tätigkeit nicht das Ziel der Ausbildung war. Im Gegensatz dazu wurden bei der Übersetzung aus der Fremd- in die Muttersprache druckreife Zieltexte angestrebt. (vgl. Neubert 1986:125).

Der Unterricht fand zum größten Teil in Seminaren statt, in denen gemeinsam übersetzt wurde oder angefertigte Übersetzungen besprochen wurden. Zudem fanden „Übungen zum Führen von Fachgesprächen und Veranstaltungen zur Länderwissenschaft“ (Neubert 1986:125) statt.

Die Abschlussprüfung setzte sich aus verschiedenen Teilprüfungen zusammen: einer Hausübersetzung, einer schriftlichen Übersetzungsprüfung und einer mündlichen Prüfung, bestehend aus einer Textzusammenfassung in der Fremdsprache, einer Stegreifübersetzung und einem Theorieteil zum Übersetzen (vgl. Neubert 1986:125).