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Ideologische Spuren in den Arbeiten der Leipziger Schule

Wie bereits in Punkt B 2 angedeutet wurde, finden sich auch in den Arbeiten der Vertreter der Leipziger übersetzungswissenschaftlichen Schule Verweise auf die Staatsideologie des Marxismus-Leninismus. Dabei sind insbesondere die Aufsätze und Monographien von Otto Kade und Gert Jäger zu nennen.

Eberhard Fleischmann geht 2007 in seinem Artikel „Ein Rückblick: Durch Parteilichkeit zu den Höhen der Übersetzungskunst“ in der Zeitschrift „Lebende Sprachen“ auf die ideologische Beeinflussung der Vertreter der Leipziger Schule und vor allem auf die

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ebengenannten Übersetzungswissenschaftler ein und schafft mit dieser Betrachtung eine einmalige Referenz, die daher in diesem Abschnitt vornehmlich als Sekundärquelle konsultiert wurde.

Das Thema der Parteilichkeit des Übersetzers ist für Fleischmann ein wichtiger und zugleich

„problematischer Aspekt der Leipziger übersetzungswissenschaftlichen Forschung der 60er, 70er und 80er Jahre, der bisher keine kritische Aufarbeitung gefunden hat“ (2007:98). Diese Aufarbeitung scheint allerdings notwendig zu sein. Außerdem soll gezeigt werden, „wie eng wissenschaftliche Weitsicht und doktrinäres Denken verknüpft sein können“ (2007:101).

Eberhard Fleischmann war selbst am Leipziger Institut tätig und kann aus eigener Erfahrung auf die gegebenen politischen Umstände und Schwierigkeiten sowie den Umgang damit in Lehrveranstaltungen eingehen:

„Der Autor dieses Beitrags war in den Jahren, als dieser Aspekt in den Vordergrund gerückt wurde, in der Ausbildung von Russischdolmetschern an der damaligen Karl-Marx-Universität tätig und hatte wie übrigens auch andere Lehrkräfte – in seinen Lehrveranstaltungen durchaus Mühe, diese Problematik zu behandeln, ohne sich mit den Vertretern des Parteilichkeitsgedankens zu solidarisieren oder allzu deutlich zu ihnen auf Distanz zu gehen.“

(2007:98)

Fleischmann würdigt die Arbeiten von Neubert, Jäger und Kade. Besonders Letztgenanntem wird eine hohe Bedeutung beigemessen. Kade hatte sowohl mit seiner Dissertation als auch mit seiner Habilitationsschrift entscheidende Akzente im Bereich der Übersetzungswissenschaft gesetzt und in die Zukunft weisende Beiträge geleistet (vgl. Fleischmann 2007:99).

Die Arbeiten wurden jedoch in einem System verfasst, „das für sich in Anspruch nahm, alle gesellschaftlichen Zusammenhänge erklären und die Welt verändern zu können“ (2007:99).

Die Menschen – auch die Wissenschaftler – sollten sich zu diesem System bekennen und sich von diesem leiten lassen, was mit „von Parteilichkeit leiten zu lassen“ (2007:99) zu verstehen gegeben wurde. Wer sich dem nicht entziehen konnte oder wollte (Mit Mühe konnte es gelingen, auf entsprechende Verweise zu verzichten.), war gezwungen, seine Disziplin der Parteilichkeit unterzuordnen. Dies wurde dann kritisch,

„wenn Parteilichkeit zu einem konstitutiven Begriff der jeweiligen Wissenschaft hochstilisiert

Vivien Berg 68 und zum Forschungsschwerpunkt erklärt bzw. letztlich sogar die Absicht verfolgt wurde, die philosophische Grundlage, den Marxismus-Leninismus, von der eigenen Disziplin her mitzugestalten und zu bereichern. Eine solche Absicht ist sowohl in den Arbeiten Otto Kades als auch Gert Jägers […] unübersehbar. Dass es sich bei ihren Überlegungen zur Parteilichkeit nicht um einmalige Ausrutscher handelte, zeigt die Vielzahl der in diese Richtung zielenden Äußerungen.“ (2007:99)

So hat sich Kade bereits 1966 zu den philosophischen Ansichten der Staatsführung der DDR geäußert. In seinem Artikel „Zur Parteilichkeit des Dolmetschers und Übersetzers“ erklärt Kade, dass Parteilichkeit die „Bewertung von Ereignissen und Aussagen von einem bestimmten Standpunkt aus“ (1966:159) sei, wobei lediglich der richtige Standpunkt Objektivität gewährleisten könne. Dieser richtige Standpunkt ist für ihn der der Arbeiterklasse, deren Grundlage der Marxismus-Leninismus sei (vgl. 1966:160). Dieser richtigen Parteilichkeit stehe die Parteinahme für die Klasse der Kapitalisten gegenüber, die

„auf Lüge und Irrtum“ (1966:161) beruhe. Kade geht weiterhin auf die Arbeit von Übersetzern und Dolmetschern ein, für die Parteilichkeit ein Merkmal ihrer Person und ihrer Arbeit sei. Bei ihrer Arbeit würden sie durch die marxistisch-leninistische Bewertung der Kommunikationssituation die Treue zum Original gewährleisten (vgl. 1966:169).

Während die richtige Parteilichkeit und die richtige Klassenzugehörigkeit also zu einem adäquaten Zieltext führen, fördern die gegenteiligen Eigenschaften Fehler. Zu diesem Ergebnis kommt Kade, nachdem er im Artikel „Übersetzung und Gesellschaft“ westdeutsche Übersetzungen mit ihren russischen Ausgangstexten vergleicht. So seien den Übersetzern gesellschaftlich bedingte, d. h. zum Beispiel aufgrund der Ausbildung, Fehler unterlaufen, zudem hätten sie die Pragmatik nicht zielpublikumsgerecht wiedergegeben und die Aussage verändert. Da dafür eine Analyse gesellschaftlicher Erscheinungen notwendig sei, sieht Kade die Wahrung der Pragmatik als „klassenbedingte und ideologieabhängige“ (1966:237) Leistung.

In seiner Monografie „Die Sprachmittlung als gesellschaftliche Erscheinung und Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung“ baut Kade das Konzept der Parteilichkeit noch allgemein-philosophisch aus (vgl. Fleischmann 2007:99). Er geht noch einmal auf den richtigen Standpunkt und die richtige Klasse ein. Dabei sei die Arbeiterklasse „die einzig wissenschaftliche, weil ihr vom Menschen erkannte Gesetzmäßigkeiten in Natur und Gesellschaft zugrunde liegen“ (Kade 1980:38). Nur auf dieser Basis könne die Wahrheit

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ermittelt werden, denn schließlich beruhe die marxistisch-leninistische Parteilichkeit auf Objektivität.

Durch die Verbindung mit dem Begriff „Objektivität“ wird die Vorstellung der Parteilichkeit von Kade etwas abgeschwächt. Seine Aussage, dass Parteilichkeit nicht als eine

„ideologische[…] Umwertung des Originals“ (1980:46) verstanden werden darf, mäßigt Kades Darstellung ebenso wie die Erklärung, dass die wirklichen gesellschaftlichen Verhältnisse in Kommunikationssituationen beachtet werden müssten (vgl. Fleischmann 2007:99).

Dabei müssten sozialistische Übersetzer und Dolmetscher auch bei Texten die Treue zum Original wahren, die nicht der eigenen Überzeugung entsprechen, wie zum Beispiel

„antikommunistische Hetze“ (Kade 1980:46). Bei solchen Texten müsste jedoch zunächst geprüft werden, ob eine Übersetzung wünschenswert und für die Absichten „und Aufgaben […] der Arbeiterklasse“ (Kade 1980:47) zweckdienlich ist. Diese Überprüfung sollte nicht nur von außen erfolgen, sondern auch vom Sprachmittler übernommen werden. Dieser müsse ebenfalls entscheiden, ob die Übersetzung „politisch verantwortlich ist und sein Produkt anschließend nicht politischen Schaden anrichtet“ (Kade 1980:47).

Auch in dieser Ausarbeitung beschäftigt sich Kade mit der Arbeit westdeutscher Sprachmittler. Hier zeigt er aber nicht mehr nur deren Fehler auf, sondern bestreitet deren Fähigkeit, gesellschaftliche Faktoren, die in Kommunikationssituationen zum Tragen kommen, zu erkennen (vgl. 1980:43). Sie würden Abläufe in der Sprachmittlung, die gesellschaftlich bedingt sind, als „rein sprachliche Erscheinung“ (1980:44) sehen. Damit würden Sprachen allein eine Weltanschauung aufzeigen und der Sprachmittler lediglich sprachliche Unterschiede überwinden müssen. Diesem Ansatz fehlt, dass auch gesellschaftliche Unterschiede erfasst und aufgearbeitet werden müssen (vgl. 1980:45).

Kade kritisiert zudem den missbräuchlichen Einsatz von Übersetzungen. Ein Beispiel für die Verwendung von Übersetzungen für „imperialistische Klasseninteressen“ (1980:57) ist die westdeutsche Übersetzung des Viermächte-Abkommens über Berlin50. Im Abkommen wird

50 Das Viermächte-Abkommen über Berlin wurde am 03. September 1971 zwischen den USA, Großbritannien, Frankreich und der UdSSR geschlossen. Ziel des Abkommens war die Sicherung der Zufahrtswege nach West-Berlin und die Verständigung über den Status von West-Berlin. Im Abkommen wird West-Berlin als „Vier-Mächte-Stadt“

festgeschrieben, die UdSSR verpflichtet sich, die Verkehrsverbindungen zwischen West-Berlin und der BRD nicht zu behindern und es wird eine Verbesserung der Kommunikation zwischen West- und Ost-Berlin zugesagt.

In der DDR wurde das Abkommen als „Vierseitiges Abkommen“ bezeichnet. (vgl. Bundeskanzler Willy Brandt – Biografie).

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bei der Beschreibung der Beziehung zwischen West-Berlin und der Bundesrepublik in der englischen Version von ties, in der französischen von liens und in der russischen von связи gesprochen. Während in der Übersetzung der DDR Verbindungen verwendet wird, entschieden sich die Übersetzer des westdeutschen Zieltextes für Bindungen. Laut Kade habe die westdeutsche Übersetzung von „Kontext- und Wirklichkeitsbezügen“ (1980:58) abstrahiert und auf diese Weise den Text verfälscht. Es bestünden gemäß der DDR-Position zwischen West-Berlin und der BRD lediglich technische Verbindungen und keine „engeren“

Bindungen (vgl. Fleischmann 2007:100), sodass die Bonner Variante falsche Tatsachen implizierte.

Otto Kade bezog in seine Überlegungen zum Umkodierungsprozess auch andere Möglichkeiten mit ein, um Sprachbarrieren beseitigen zu können. Eine mögliche Alternative zur Sprachmittlung ist der Einsatz einer Mittlersprache. Dabei hebt er Englisch und Russisch hervor, deren Durchsetzungschancen – unter Berücksichtigung der politischen Systeme – unterschiedlich bewertet werden:

„In großen Teilen der kapitalistischen Welt wird Englisch als Mittlersprache benutzt. Seine Entwicklung zur globalen Mittlersprache ist jedoch durch sozial-ökonomische Faktoren beschränkt. Der Ausbreitung des Englischen, die sich heute in der Regel als Folge eines erhöhten politischen und ökonomischen Einflusses der USA vollzieht, sind durch das sozialistische Lager und durch die um ihre vollständige Befreiung von der imperialistischen Bevormundung ringenden jungen Nationalstaaten Grenzen gesetzt […] Die Erfahrungen, die bei der Verbreitung des Russischen in der Sowjetunion und teilweise im sozialistischen Lager gesammelt wurde, berechtigen zu dem Schluß, daß der Sieg des Kommunismus im Weltmaßstab günstige Voraussetzungen für die Ausbreitung einer globalen Mittlersprache schaffen wird.“ (Kade 1968:53)

Wie zu Beginn dieses Abschnittes erwähnt, war Kade nicht der einzige Vertreter der Leipziger Schule, in dessen Arbeiten ideologische Betrachtungen zu finden sind. Gert Jäger51 hat ebenfalls auf den Marxismus-Leninismus oder Lenins linguistische Ansichten verwiesen.

Beispielsweise bezieht sich Jäger bei der Klärung der Frage, wie sich die Bedeutung und damit der kommunikative Wert eines Textes zusammensetzen, auf Lenin:

51 Gert Jäger war u. a. der letzte Parteisekretär am Institut vor der Wiedervereinigung. Dieses Amt wurde wie die Institutsleitung rotationsmäßig vergeben (Schmitz 05.04.2012).

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„Die marxistisch-leninistische Sprachtheorie kann bei der Lösung dieser (über die Linguistik hinaus in die Erkenntnistheorie hineinreichenden) Frage an eine Bemerkung LENINS anknüpfen, der das Wesen des Problems sehr tief erfaßte, als er notierte ‚… Name ist Zufälligkeit und drückt ‚die Sache selbst‘ nicht aus‘ (1971:265). Wir gehen demnach grundsätzlich davon aus, daß die Motivation von Benennungen nicht deren signifikative Bedeutung reflektiert oder die signifikative Bedeutung einer Benennung nicht durch die Motivation der Benennung bestimmt ist […].“ (1975:96)

Jäger sieht die Sprachwissenschaft als eine marxistisch-leninistische Disziplin, wodurch auch bestimmte wissenschaftliche Herangehensweisen vorgegeben werden: „Die marxistisch-leninistische Sprachtheorie muß deshalb von einer dialektischen Auffassung des sprachlichen Zeichens ausgehen […]“ (1975:97).

Kade orientiert sich ebenfalls an den Sprachauffassungen des Marxismus-Leninismus. Er sieht Karl Marx und Friedrich Engels zwar nicht als Sprachwissenschaftler, deren Aussagen über die Sprache52 bilden dennoch für ihn die Grundlage für die Sprachbetrachtung und damit auch für die Sprachmittlung (vgl. Kade 1980 Fußnote 31). Auch für Kade ergeben sich bestimmte Ansätze aus der Annahme der marxistisch-leninistischen Sprachauffassung:

„Für eine auf dem Marxismus-Leninismus fußende Sprachwissenschaft ist die kommunikationswissenschaftliche Betrachtung vielmehr eine notwendige Ergänzung, die es gestattet, sprachliche Phänomene […] in größeren gesellschaftlichen Zusammenhängen zu sehen.“ (1980:27)

Außerdem soll die Translationslinguistik für Gert Jäger einen Beitrag zur sozialen Erkenntnis leisten und der Gesellschaft dienen. Dabei ist sie mit der geltenden Weltanschauung verbunden:

Das bedeutet aber auch, daß sich die Translationslinguistik sowohl als eine auf den Marxismus-Leninismus gegründete theoretische Disziplin als auch als eine Disziplin verstehen muß, die zugleich auch eine praktisch-geistige Tätigkeit umfaßt, d. h. die geistige Vorwegnahme von auf die praktische Aneignung und Veränderung der Wirklichkeit gerichteten Tätigkeiten ebenfalls zum Gegenstand hat.“ (Jäger 1977:21)

52 Diese Aussagen wurden 1974 in „Über Sprache, Stil und Übersetzung“ in Berlin veröffentlicht.

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Jäger sah zwischen der Sprachmittlung unter sozialistischen und unter kapitalistischen Bedingungen einen Unterschied (vgl. Fleischmann 2007:100). Durch den „Klasseninhalt“

(Jäger 1984:24) und die unterschiedliche Beantwortung der Fragen, für wen und wozu übersetzt werde, unterscheiden sich beide Sprachmittlungsformen (vgl. Jäger 1984:24). In der DDR diente die Sprachmittlung „verantwortungsvollen Aufgaben“ wie der Durchsetzung der

„friedlichen Koexistenz“, der Fortsetzung des „antiimperialistischen Kampfes“, der auslandswirksamen Darstellungen des „realen Sozialismus“ und der Herausbildung eines

„Feindbildes vom Imperialismus“ (Jäger 1984:24f.). Laut Fleischmann zeige sich hier Jägers Absicht, „die zentralen Begriffe der DDR-Philosophie mitzubestimmen“ (Fleischmann 2007:100). Für Jäger sollte die Translationslinguistik

„im Rahmen der marxistisch-leninistischen Sprachtheorie eine marxistisch-leninistische Theorie der Translation […] erarbeiten, die auf den Grundbestandteilen des Marxismus-Leninismus aufbaut und ihn zugleich bereichert.“ (Jäger 1975:83)

Jäger beschränkt die gesellschaftlichen Unterschiede, die zweifelsfrei vorhanden waren, allerdings auf politische Umstände. Auch er sah in der marxistischen Parteilichkeit des Übersetzers die richtige Parteilichkeit. Genau genommen gab es nur die marxistische bzw.

sozialistische Parteilichkeit. Eine kapitalistische Parteilichkeit existierte nicht. Nach Jägers Auslegung der marxistisch-leninistischen Parteilichkeit stellten sich ihre Anhänger in den Dienst des gesellschaftlichen Fortschritts (vgl. Fleischmann 2007:101). Übersetzer und Dolmetscher, die einer anderen Gesellschaftsordnung angehören, würden einem Betrug und Irrtümern zum Opfer fallen. Die Arbeit dieser Sprachmittler sei nach Kade als „parteiisch“ zu beurteilen (Kade 1980:38). Nach außen würde durch den „bewußten oder unbewußten Verzicht […] auf die Bewertung der gesellschaftlichen Rolle von Aussagen“ (Kade 1966:159f.) Objektivität vorgegeben, um die Parteilichkeit zu verbergen.

Jäger und Kade haben einige Arbeiten gemeinsam verfasst, wie zum Beispiel den Artikel „Zu einigen Aspekten des Verhältnisses von Sprachmittlung und Gesellschaft“ von 1973. In diesem Text thematisieren sie erneut die Parteilichkeit von Sprachmittlern,

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„wobei sie wiederum den Versuch unternahmen, die vom Sprachmittler geforderte Gründlichkeit, Sachlichkeit, Neutralität und Auftragsgebundenheit in ‚marxistisch-leninistische Parteilichkeit‘ umzufunktionieren.“ (Fleischmann 2007:100)

Bei ihren Überlegungen gingen sie dahingehend durchaus von richtigen Annahmen aus, dass sich in der Sprache – insbesondere in der Lexik – gesellschaftliche Zusammenhänge widerspiegeln (vgl. Kade / Jäger 1973:211). Die Bedeutung des Kontextes und des Zwecks der Sprachmittlung sind ebenfalls gesellschaftlich unterschiedlich, sodass Kade und Jäger auch hier Recht hatten. Doch engten sie den funktionalen Bereich zu sehr ein, indem sie Menschen ausschließlich als Vertreter einer Klasse oder Schicht wahrnahmen (vgl.

1973:212).

Abschließend wollten Jäger und Kade in ihrem Beitrag noch darauf aufmerksam machen, dass sich Parteilichkeit und Objektivität nicht ausschließen. Ihre Schlussfolgerung ist in einem DDR-typischen Stil verfasst und daher relativ lang:

„Deshalb gehört zu den zu postulierenden Qualifikationsmerkmalen des Sprachmittlers nicht nur die Kenntnis zweier Sprachen und der Äquivalenzbeziehungen zwischen ihnen sowie Sachverständnis in bezug auf den Gegenstand der Kommunikation, sondern auch und vor allem ein fester Klassenstandpunkt, d. h. marxistisch-leninistische Parteilichkeit (bzw. unter den Bedingungen der Machtausübung der Arbeiterklasse sozialistische Parteilichkeit), die auf dem Fundament einer soliden gesellschaftswissenschaftlichen Bildung (im besonderen in Marxismus-Leninismus und Länderwissenschaften) in ständiger politisch-ideologischer Verarbeitung der Ereignisse und Entwicklungen in der weltweiten Klassenauseinandersetzung zwischen dem sieghaften Sozialismus/Kommunismus und dem absterbenden Imperialismus/Kapitalismus wachgehalten und immer wieder erneuert werden muß. Das Postulat der Parteilichkeit des Sprachmittlers ist eine zwingende Schlußfolgerung aus der gesellschaftlichen Determiniertheit der Sprachmittlung, die wir nachzuweisen versucht haben […] Die marxistisch-leninistische […] Parteilichkeit des Sprachmittlers äußert sich darin, daß er die für den Verlauf und das Ergebnis der Sprachmittlung relevanten gesellschaftlichen Gegebenheiten (sowohl die über die sprachlichen Zeichen vermittelten als auch die unmittelbar aus dem gesellschaftlichen Kontext heraus wirkenden) vom Standpunkt der Arbeiterklasse und ihrer wissenschaftlichen Weltanschauung aus beurteilt und bewertet, um hieraus die im Interesse der Objektivität und Originaltreue notwendigen Schlußfolgerungen für die Umkodierung […] zu ziehen. […] Nur der Marxismus-Leninismus liefert dem Sprachmittler sichere Bewertungsmaßstäbe, denen vom Menschen erkannte objektive Gesetzmäßigkeiten […] zugrunde liegen. Marxistisch-leninistische (sozialistische) Parteilichkeit steht daher nicht etwa im Widerspruch zur Originaltreue, sondern bildet vielmehr eine solide Basis für deren Einhaltung.“ (Kade / Jäger 1973:214f.)

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Auch anderen Betrachtungen ist die Erwähnung des Marxismus-Leninismus nicht entgangen.

So schreibt Ballard:

„Désireux de ménager les susceptibilités des dirigeants politiques, les traductologues est-allemands parlaient volontiers de Karl Marx, citaient des journaux et des revues communistes et décortiquaient complaisamment les interviews accordées par le secrétaire général du comité central du SED. Ainsi, dans une étude intitulée « Translation und Texttheorie », Albrecht Neubert cite un article paru dans le Morning Star ; dans une étude intitulée « Die Rolle der Präinformation bei der Analyse und Übersetzung von Texten », S. Bastian cite des phrases-exemples tirées des Cahiers du Communisme ; et un numéro de la revue Fremdsprachen paru en 1985 contient de larges extraits d’un entretien accordé par Erich Honecker au quotidien Le Monde.“ (2011 :166)

Gleichzeitig belegt er damit, dass diese Haltung zur Normalität gehörte, sodass Kade und Jäger nicht als Ausnahmen gesehen werden können. Wie diese Haltung und die wissenschaftliche Arbeit der Leipziger Schule von anderen Translatologen aufgenommen wurden, soll im nächsten Abschnitt erläutert werden.