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Das „Proprium quid“ der Übersetzungswissenschaft

Die grundlegende Fragestellung der Leipziger Schule beschäftigte sich mit dem „Proprium quid“ der Übersetzungswissenschaft, ihrem Verhältnis zu Nachbardisziplinen und mit den Gesetzmäßigkeiten bei der Übersetzung (vgl. Gerzymisch-Arbogast 2009). Im Fokus stand das Problem der Übersetzbarkeit.

Bei der Beschäftigung mit den Wesensmerkmalen der Übersetzungswissenschaft wurden Definitionen erarbeitet und auf diese Weise entscheidend zur Entwicklung der Metasprache der Übersetzungswissenschaft beigetragen. Ein grundlegender Begriff ist dabei

„Translation“35.

Die Translation wurde als zweisprachige vermittelte Kommunikation definiert, bei der ein Translator als Zwischenglied zwischen einem Sender (S) und einem anderssprachigen Empfänger (E‘) vermittelt. Der Prozess erfolgte in drei Phasen, wobei die erste Phase aus der Übermittlung des Textes zwischen dem Sender und dem Translator bestand. Die Kommunikation erfolgte in der Sprache des Senders, die als Ausgangssprache L1 bezeichnet wurde. Der Translator übernahm hier die Rolle des Empfängers E. Nach der Textrezeption nahm der Sprachmittler in der zweiten Phase die Umkodierung des Textes vor, von der Ausgangssprache L1 in die Zielsprache L2, welche die Sprache des eigentlichen Empfängers

35 Der Begriff Translation wurde nicht von allen Übersetzern als ideal bewertet. Insbesondere diejenigen, die im Gegensatz zu Kade entsprechende englische Literatur im Original gelesen haben (vgl. Schmitz 05.04.2012).

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war. Die Kommunikation zwischen dem Translator und dem Empfänger bildete die dritte Phase. Dabei übermittelte der Translator als Sender S‘ den Zieltext (vgl. Kade 1968:7f.).

Kade stellte den Vorgang der zweisprachigen vermittelten Kommunikation 1968 (vgl.

1968:203) in folgendem Schema dar:

Abb. 1.: Translation als zweisprachige vermittelte Kommunikation.

Neben der Bestimmung von Translation wurden u. a. auch die Hyponyme „Übersetzen“ und

„Dolmetschen“ definiert und so voneinander abgegrenzt.

Doch nicht nur die Terminologie der Translationswissenschaft oder die Prozesshaftigkeit der Übersetzung beschäftigten die Leipziger Schule. Ein wesentlicher Teil ihrer Arbeit behandelte die Frage der Übersetzbarkeit. Dabei verfolgte sie zunächst einen linguistisch orientierten Ansatz, zu dessen zentralen Begriffen „Äquivalenz“, „kommunikativer Wert“ und „Invarianz“

gehörten, mit denen die Leipziger Schule auch stets in Verbindung gebracht wird. Das Konzept der Leipziger Schule kommentierte Gerzymisch-Arbogast wie folgt:

Es ist charakteristisch für die klassische Leipziger Schule, dass sie Translation als

‚Vermittlungsprozess zwischen zwei Einzelsprachen‘ begreift und damit das Problem der Invarianz bzw. Äquivalenz zwischen diesen beiden Einzelsprachen fokussiert. Dabei sieht die klassische Leipziger Schule […] allerdings nicht nur die Linguistik als theoretischen Bezugsrahmen.“ (2007:64)

Bei der Übersetzung trägt der Begriff „Äquivalenz“ nicht die Bedeutung von „Gleichheit“, sondern von „Gleichwertigkeit“. Bei der Äquivalenzdefinition ging die Leipziger Schule nicht von der Situation aus, in die eine Äußerung eingebettet war (wie die Stylistique comparée36),

36 Die Stylistique comparée war eine Richtung der Übersetzungswissenschaft, die bereits während des Zweiten Weltkriegs entstand (mit dem Werk von Alfred Malblanc „Stylistique comparée du français et de l’allemand“).

Die wichtigste Arbeit dieses Ansatzes stammt jedoch aus dem Jahr 1958 und wurde von Jean-Paul Vinat und

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sondern von den Sprachsystemen. Zudem konzentrierte man sich zunächst auf die lexikalische Ebene und nutzte als Vergleichsmedium für die außersprachliche Realität das

„tertium comparationis“37.

Man hoffte, Elemente in der Sprache zu finden, die mithilfe eines Regelsystems durch äquivalente Elemente einer anderen Sprache ersetzt werden konnten. Auf diese Weise sollte eine Art „Übersetzungsgrammatik“ erstellt werden, auf die Sprachmittler zurückgreifen können sollten. Dementsprechend wurde angenommen, dass zwischen Sprachen eine Symmetrie vorliegt, sodass zwischen ihnen Zuordnungen vorgenommen werden können.

Beim Ansatz der „kommunikativen Äquivalenz“ ging man davon aus, dass sich Texte durch den kommunikativen Wert voneinander unterschieden und beide Texte die gleiche Funktion hatten38. Kommunikative Äquivalenz war dann gegeben, wenn der kommunikative Wert während des Kommunikationsprozesses erhalten blieb und die Texte den gleichen Effekt bei den jeweiligen Empfängern auslösten39. Der kommunikative Wert war eben genau diese Eigenschaft eines Textes, mit einem bestimmten Abbildungskomplex ausgestattet zu sein und damit einen bestimmten kommunikativen Effekt auszulösen (vgl. Jäger 1975:3). Damit stellte die kommunikative Äquivalenz das Evaluierungskriterium für die Übersetzung dar, d. h., ein Zieltext wurde als gut bewertet, wenn er äquivalent mit dem Ausgangstext war.

Zur Verfolgung des Äquivalenz-Konzepts mussten zum einen der Gegenstandsbereich auf Gebrauchstexte beschränkt werden, da bei literarischen Texten keine einfachen Äquivalenzbeziehungen herstellbar waren, zum anderen musste ein idealer Translator, nach dem Muster des idealen Sprechers / Hörers, angenommen werden, der die Jean Darbelnet verfasst: „Stylistique comparée du français et de l’anglais“. Bei dieser kontrastiv-linguistischen Herangehensweise wurde versucht, durch einen Strukturvergleich eines konkreten Sprachenpaares Übersetzungsprobleme zu ermitteln und konkrete Verfahren anzubieten, um strukturelle Unterschiede zu überwinden und Äquivalenzen zu erzeugen. Übersetzungsprobleme sollten vorhersehbar und Lösungsmöglichkeiten dank konkreter, didaktisierbarer Vorgehensweisen (z. B. Entlehnung [emprunt] oder Modulation [modulation]) in einem Regelsystem abrufbar werden. Das Problem dieses Ansatzes war die Überbetonung der Mikrostruktur, sodass nicht der gesamte Text, sondern der Satz die zu übersetzende Einheit darstellte (vgl. Prunč 2007:44ff).

37 Das tertium comparationis ist eine Gemeinsamkeit zwischen zwei verschiedenen Gegenständen oder Sachverhalten, die als Vergleichspunkt herangezogen wird (vgl. Dudenredaktion 2007:1341). Es wird bei der Übersetzung für den Einsatz von zielsprachigen Äquivalenten herangezogen. So kann zum Beispiel das englische (US) Wort „truck“ mit dem deutschen Wort „Lastkraftwagen“ bzw. „LKW“ übersetzt werden, da beide über eine Schnittmenge von gemeinsamen Eigenschaften verfügen (Fahrzeug zum Gütertransport, mehrere Achsen etc.), auch wenn sie in ihrer Erscheinung und Handhabung nicht identisch sind.

38 Im Gegensatz zur Leipziger Schule setzten die Vertreter des Funktionalismus (u. a. Reiß, Vermeer) diese Funktionskonstanz nicht mehr als gegeben voraus.

39 Dieses Konzept kann nur funktionieren, wenn, „ideale“ Kommunikationspartner vorausgesetzt, also von unterschiedlichen sozialen, kulturellen oder psychologischen Einflüssen abgesehen wird, was in der Praxis jedoch selten ist und auch von Otto Kade eingestanden wurde (Kade 1981:202).

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Übersetzungsgrammatik unabhängig von seiner Herkunft bzw. sozialen Bedingungen anwenden konnte (vgl. Prunč 2007:57).

Da die vollständige kommunikative Äquivalenz in der Praxis auch für die Leipziger eine utopische Vorstellung darstellte und man sich bewusst war, dass es schwierig wäre zu überprüfen, ob kommunikative Äquivalenz erreicht wurde (vgl. Van Vaerenbergh 2007:402), wurde das Konzept der maximalen Äquivalenz aufgestellt. Dabei wurde eine größere Verschiedenartigkeit zwischen den Texten zugelassen: Ausgangs- und Zieltext galten als äquivalent, wenn sie sich nur soweit unterschieden, wie es ihre Struktur und Verwendung erforderten (vgl. Bernado 2007:51). Daraus ergab sich dann zum Beispiel die Fragestellung, ob eine Adaptation dann noch zum Gegenstandsbereich der Übersetzungswissenschaft zu zählen war oder nicht.

In dem Maße, in dem sich das Konzept der kommunikativen Äquivalenz als zu eng und praxisfern herausstellte, erwies sich die Annahme eines symmetrischen Verhältnisses zwischen Sprachen bald als falsch. Für das asymmetrische Verhältnis zwischen Sprachen bedurfte es eines komplexeren Regelsystems, das allein mit linguistischen Mitteln nicht realisierbar war (vgl. Prunč 2007:31).

Daraufhin löste sich die Leipziger Schule allmählich vom Paradigma der Systemlinguistik (vgl. Prunč 2007:53). Gleichzeitig gewann die Textlinguistik an Einfluss, wodurch nicht mehr die Beschreibung des Sprachsystems (langue) im Mittelpunkt stand, sondern der Schwerpunkt nun auf die Untersuchung der konkreten Realisationsform in Texten (parole) gelegt wurde.

Mit dieser Entwicklung wurde der Satz als Analyseeinheit durch den Text abgelöst (vgl.

Prunč 2007:54).

Mit dem Begriff der Äquivalenz war der Invarianz-Begriff verbunden:

„Der Begriff der Invarianz wurde aus der strukturellen Linguistik übernommen. Ihr Ziel war, Sprachen als abstrakte Systeme zu untersuchen. Die Hauptaufgabe einer solchen Analyse lag darin, auf allen Sprachebenen invariante, d. h. von ihrer konkreten Realisierung unabhängige Elemente, festzustellen und sie von ihren positionsabhängigen Varianten zu unterscheiden.

Analog sollten in der Translationswissenschaft jene Elemente als invariant bezeichnet werden, die zwischen AT und ZT nicht verändert werden.“ (Prunč 2007:31)

Zu den Invarianzforderungen gehörte u. a. die Invarianz der Denotation, die „durch eine Translation [unbedingt] erreicht werden muss[te]“ (Prunč 2007:57), sodass ein Zieltext, der

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diese Eigenschaft nicht erfüllte, kein Translat war und somit nicht in den Gegenstandsbereich der Übersetzungswissenschaft gehörte.

Da bei der Translation ein bestimmter kommunikativer Wert vermittelt werden musste, war dieser Wert ebenfalls als Invariante anzusehen, die beim Übersetzen erhalten bleiben musste, damit kommunikative Gleichwertigkeit zwischen Original und Translat gegeben war. Der Begriff „kommunikativer Wert“ geht auf Kade zurück. Er bestand nach diesem sowohl aus textuellen als auch aus außertextuellen Komponenten und war somit nicht nur von sprachlichen Gegebenheiten, sondern auch von situativen Merkmalen abhängig, womit die kommunikative Gleichwertigkeit ebenfalls nicht nur von absoluten Eigenschaften der sprachlichen Zeichen abhängig war, sondern vom komplexen Gefüge der Kommunikation (vgl. Gerzymisch-Arbogast 2009). Mit dieser Entwicklung hatte die Leipziger Schule ihren Äquivalenz-Ansatz auf eine weitere Art relativiert und war von einer rein linguistischen Sichtweise abgerückt (vgl. Bernado 2007:52).

Die Leipziger können durch ihre eigene Weiterentwicklung nicht auf die Linguistik reduziert werden. Wie bei den Schwerpunkten der Hauptvertreter nachfolgend gezeigt wird, war die Sprachwissenschaft lediglich der Ausgangspunkt und wurde im Verlauf der wissenschaftlichen Auseinandersetzung u. a. mit Aspekten der Kommunikationstheorie und der Pragmatik erweitert.

Wie später in dieser Arbeit noch gezeigt wird, beschäftigten sich die Vertreter der Leipziger Schule (vor allem Otto Kade, Gerd Wotjak und Wladimir Kutz) mit der Realienproblematik.