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„Gesundheit 2020“ ist ein Rahmenkonzept, das sowohl für wirtschaftlich gute als auch für weniger gute Zeiten geeignet ist. Dennoch lassen sich aus der jüngs-ten Finanzkrise und dem damit verbundenen Einbruch der Konjunktur nützliche Lehren ziehen. Nicht nur wegen der hohen Anteile der Ressorts Gesundheit und Soziales an jedem Staatshaushalt, sondern auch aufgrund der oft relativ schwa-chen Verhandlungsposition der Gesundheitsministerien sind diese beiden Res-sorts bei Konjunkturflauten besonders häufig von Kürzungen betroffen. In der Charta von Tallinn (24) erklärten die Mitgliedstaaten, dass „es heute nicht mehr

hingenommen werden darf, dass Menschen infolge von Gesundheitsproblemen verarmen“. Dieser Grundsatz kann jedoch untergraben werden, wenn Regierun-gen versuchen, als politische Antwort auf Haushaltsprobleme die Finanzierungs-last auf die Privathaushalte abzuwälzen. Die Wirtschaftskrise stellt die Mitglied-staaten vor eine große Herausforderung in Bezug auf die Frage, wie sie den Zielen der Chancengleichheit, der Solidarität und der finanziellen Absicherung weiter verpflichtet bleiben können. Gleichzeitig bietet sie jedoch auch eine Chance, sich für die Gesundheit einzusetzen und in diese zu investieren und die Gesundheits-systeme zu stärken.

Die jüngste Wirtschaftskrise hatte Auswirkungen auf viele Länder in der Europä-ischen Region und führte dazu, dass Verpflichtungen in Bezug auf soziale Siche-rung (einschließlich Gesundheit und Chancengleichheit) in Frage gestellt wurden.

Dabei müssen diese Ziele in wirtschaftlich schwierigen Zeiten sogar nachdrück-licher als sonst verfolgt werden, sodass die politischen Reaktionen auf die Wirt-schaftskrise staatlichen Prioritäten folgen, und nicht kurzfristigen Sachzwängen zwecks Haushaltsausgleich durch pauschale Kürzungen. Die Erkenntnisse, die die Länder der Region aus früheren wirtschaftlichen Krisen gewonnen haben, bieten den heutigen politischen Entscheidungsträgern durchaus Antworten auf die Frage, wie sich die negativen Auswirkungen auf die Gesundheit und das so-ziale Wohl der Bevölkerung abschwächen lassen. Denn Gesundheitssysteme mit starker Führung und gut funktionierenden Steuerungsmechanismen sind gene-rell leistungsstärker, und dies insbesondere in Krisenzeiten.

Die Auswirkungen von Wirtschaftskrisen auf die Gesundheit sind komplex, und der Bestand an Erkenntnissen dazu wächst kontinuierlich. Durch schrumpfende Einkommen und höhere Preise könnten die Zahlen der Straßenverkehrsunfälle und der von Adipositas Betroffenen sinken, und der soziale Zusammenhalt könn-te gestärkt werden. Unabhängig davon nehmen die psychosozialen Belastungen in wirtschaftlich schwierigen Zeiten zu und führen zu einem Anstieg der Suizidra-ten, einer Reihe ungesunder Verhaltensweisen sowie einer stärkeren Inanspruch-nahme von Gesundheitsleistungen aufgrund körperlicher wie auch psychischer Gesundheitsprobleme.

Auch wenn der Gesamtbestand an Erkenntnissen noch einer weiteren Untersu-chung bedarf, so müssen doch Gesundheitssysteme auch während wirtschaftlich schwieriger Zeiten weiter funktionieren und die Aktivitäten zur psychosozialen Unterstützung, insbesondere für Einkommensschwache und Schutzbedürftige, ausweiten, um schwerwiegende Auswirkungen auf die gesundheitlichen Resul-tate zu verhindern. Neben den Auswirkungen auf die Gesundheit haben Haus-haltskürzungen eine höhere finanzielle Belastung der Bürger durch die Kosten von Gesundheitsleistungen allgemein und insbesondere von Arzneimitteln zur Folge. Die Verlagerung eines erheblichen Teils der Last der Gesundheitsfinanzie-rung von einer Beitragsgemeinschaft auf die Leistungsempfänger mittels höherer Zahlungen aus eigener Tasche (Nutzergebühren, Zuzahlungen) erhöht oftmals die Gefahr einer Verarmung von Haushalten infolge von Krankheit und bewirkt eine Verringerung der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen. Dies kann letztlich zu höheren Kosten für das Gesundheitssystem und zu schlechteren Ge-sundheitsergebnissen für den Einzelnen führen.

Sozialausgaben wirken sich in erheblichem Maße auf die Gesundheit aus. Es gibt Belege dafür, dass eine Erhöhung solcher Ausgaben bei der Senkung der Mortalität eine siebenfach höhere Wirkung erzielt als ein Anstieg des Bruttoin-landsproduktes in derselben Größenordnung (37). In Ländern, die bei drastischen Einschnitten in die staatlichen Gesundheitsausgaben das Niveau der Sozialaus-gaben beibehielten oder sogar erhöhten, hatten die Einschnitte nur einen sehr geringen Anstieg der Armut zur Folge.

Das WHO-Regionalbüro für Europa berief 2009 zusammen mit der norwegischen Regierung eine hochrangige Tagung in Oslo ein. Damals wurden Empfehlungen für politische Maßnahmen zur Gesundheitsförderung und zur Armutsbekämp-fung ausgearbeitet. Dazu gehört es beispielsweise, kostenwirksamen Leistungen in den Bereichen der öffentlichen Gesundheit und der primären Gesundheits-versorgung Priorität einzuräumen. Außerdem wurde von den Teilnehmern aner-kannt, wie wichtig es ist, beim Einsatz öffentlicher Mittel Effizienz sicherzustellen („Mehr Gesundheit für das Geld“) – eine Voraussetzung für eine glaubwürdige Forderung nach „mehr Geld für die Gesundheit“. In den Empfehlungen von Oslo wird für die Einführung neuer Steuern auf den Verbrauch von Zucker und Salz sowie für Erhöhungen bei den Abgaben auf Alkohol und Tabak plädiert – beides steuerpolitische Maßnahmen, die zugleich aber auch wirksame Maßnahmen zu-gunsten der öffentlichen Gesundheit darstellen.

Seitdem haben die Mitgliedstaaten eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, die der Fortsetzung der Anstrengungen zur Verbesserung der Gesundheit und zum Schutz der Bevölkerung vor finanziellen Härten in Verbindung mit der Inan-spruchnahme von Gesundheitsleistungen dienen. Diese Instrumente lassen sich wie folgt in Gruppen einteilen:

Langfristig denken: Eine Option sind antizyklische öffentliche Ausgaben durch Ansparen von Reserven in der staatlichen Krankenversicherung („in guten Zei-ten sparen, um in schlechZei-ten ZeiZei-ten ausgeben zu können“) oder die Neuzuwei-sung von Steuermitteln für Gesundheitsausgaben während einer Rezession.

Diese antizyklischen Ausgaben können kurzfristig als Puffer dienen, der dann möglicherweise die Länder von drastischen Maßnahmen abhält, die sich ne-gativ auf die Gesundheit der Bevölkerung auswirken würden.

Vermeidung pauschaler Haushaltskürzungen: Wenn Etats aus fiskalischen Gründen gekürzt werden müssen, ist es wichtig, dies nicht pauschal zu tun, sondern auf der Grundlage konkreter Zielsetzungen. Eine häufig genutzte und relativ sichere Option besteht in einem Investitionsaufschub, der es dem Gesundheitswesen u. U. ermöglicht, Niveau und Umfang der Gesundheits-leistungen (einschließlich der öffentlichen Gesundheitsdienste) aufrechtzu-erhalten, sofern die Infrastruktur vor Einsetzen der Krise ordnungsgemäß instand gehalten wurde.

Gezieltere Ausrichtung öffentlicher Ausgaben nach sozialer Bedürftigkeit und Schutz einkommensschwacher und anfälliger Personen: Eine Aufrechterhal-tung des Zugangs zu GesundheitsleisAufrechterhal-tungen für einkommensschwache und schutzbedürftige Personen kann dazu beitragen, die dramatischen Folgen ei-nes schwerwiegenden Konjunktureinbruchs zu verringern. Die Veränderung des Spektrums der Leistungen, die im gesetzlichen Leistungsumfang enthal-ten sind, kann ein wertvolles Instrument für die Festlegung von Prioritäenthal-ten im Gesundheitssystem sein. Dies gilt insbesondere, wenn solchen Veränderungen konkrete Erkenntnisse zugrunde liegen und dadurch die Inanspruchnahme hochwertiger (kostenwirksamer) Leistungen gefördert und die Nutzung min-derwertiger Leistungen mit negativen Anreizen belegt wird.

Effizienzsteigerungen durch klügeren Einsatz von Arzneimitteln und Technologien:

Die Verbesserung der Effizienz bei der Erbringung von Leistungen für die Be-völkerung ist für alle Länder eine wichtige Option bei ihren Bemühungen, die Auswirkungen der Krise zu verringern. So haben etwa einige Länder durch den kostenwirksameren Einsatz von Arzneimitteln und durch Heranziehung von Gesundheitstechnologiebewertungen als Grundlage für Erstattungsentschei-dungen Effizienzgewinne erzielt. Andere Länder greifen auch zu Kostendämp-fungsmaßnahmen, etwa durch Ankündigung pauschaler Preissenkungen für Hersteller bzw. Aushandlung niedrigerer Preise, effizientere Arzneimittelbe-schaffung mittels Ausschreibungen, verbesserte Regeln für Verschreibungen

und den Einsatz von Generika, die Beschneidung der Gewinnspannen von Großhändlern und Apotheken und die Durchführung von Maßnahmen für eine rationellere Verschreibung von Arzneimitteln.

Effizienzsteigerungen durch Straffung der Strukturen für die Leistungserbringung:

Wenn die Mittel an die Leistungsanbieter und insbesondere an die Kranken-häuser spärlicher fließen, greifen diese vielleicht selbst zu Rationierungsmaß-nahmen, beispielsweise indem sie klinische Leistungen aufschieben, ver-weigern oder verwässern („Sparen bei der Qualität“), es sei denn, es werden schwierige strukturelle Entscheidungen zur Verbesserung der Effizienz des Krankenhauswesens getroffen. Die Krise bietet eine Gelegenheit zur Einfüh-rung lange überfälliger Reformen zur EffizienzsteigeEinfüh-rung, die vor der Krise po-litisch vielleicht weniger gut durchsetzbar waren. Hierbei lassen sich kurzfristig kaum Einsparungen erzielen, und die Gefahr, dass eine ordnungsgemäße Ge-sundheitsversorgung der Menschen während des Übergangszeitraums nicht gelingt, ist hoch, doch bei einer sorgfältigen Umsetzung ist der langfristige Nutzen beträchtlich.

Den Gesundheitsministerien und den Regierungen insgesamt kommt allgemein eine wichtige Führungsrolle zu. Auch wenn es nicht möglich sein mag, Konjunk-tureinbrüche zu verhindern, so können sich Regierungen doch besser auf die Probleme einstellen, mit denen sie konfrontiert sein werden. Ein Augenmerk auf Effizienz und die verantwortungsbewusste Verwaltung öffentlicher Mittel im Gesundheitswesen in Verbindung mit einer umsichtigen Finanzpolitik der öffentlichen Hand insgesamt ist während der Jahre wirtschaftlichen Wachstums ausschlaggebend, denn in wirtschaftlichen Krisenzeiten ist es durchaus denkbar, dass bei der Bevölkerung ein größerer Bedarf an Sozial- und Gesundheitsleis-tungen entsteht, für die ausreichende öffentliche Finanzmittel zur Verfügung stehen müssen, um Chancengleichheit und Effizienz bei der Bereitstellung einer flächendeckenden Versorgung zu gewährleisten. Länder, die bei Einsetzen des Konjunktureinbruchs Rücklagen verwenden oder eine Defizitfinanzierung auf-rechterhalten konnten, waren viel besser imstande, ihre Bevölkerung vor den Folgen der Krise zu schützen. Die Bewältigung der Krise ist eine wahrhaft ge-samtstaatliche Aufgabe.