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Anfälligkeit, gefährdete Gruppen und Gesundheit

Situationsanalyse Unter Anfälligkeit (vulnerability) wird mitunter einfach die mangelnde physische

und/oder psychische Widerstandsfähigkeit von Einzelpersonen verstanden, doch hier bezieht sich der Begriff auf einen breiteren Kontext: die Anfälligkeit gegen-über sozialen Härten wie auch Krankheit. Sie ist das Ergebnis ausschließender Prozesse, die in verschiedenen Teilen der Gesellschaft jeweils unterschiedliche Wirkung entfalten und zur Bildung eines sozialen Gefälles im Gesundheitsbereich beitragen. Auch wenn soziale Ausgrenzung ein dynamisches und graduelles Phä-nomen ist und ausschließende Prozesse durch gezielte Maßnahmen bekämpft werden müssen, so ist es doch ebenso wichtig, Einzelpersonen oder Gruppen zu ermitteln, die sozial ausgegrenzt sind, und sie sowohl in der Forschung als auch in der Politikgestaltung gebührend zu berücksichtigen. Viele der Proble-me, von denen anfällige Gruppen allgemein betroffen sind, lassen sich anhand der Situation zweier Bevölkerungsgruppen – der Migranten und der Roma – gut veranschaulichen.

Die Gruppe der Migranten in Europa ist heute sehr heterogen und umfasst re-guläre und irrere-guläre Migranten, Opfer von Menschenhandel, Asylbewerber, Flüchtlinge, Vertriebene und Rückkehrer. Viele Menschen verlassen ihre Heimat aus wirtschaftlichen Gründen. In der Europäischen Region der WHO leben ins-gesamt ca. 75 Mio. Migranten; dies entspricht etwa 8% der Gesamtbevölkerung und 39% aller Migranten weltweit (77). Bei den meisten Migranten in der Europä-ischen Region handelt es sich um junge Erwachsene. Frauen machen die Hälfte aller Migranten aus und sind häufig in den anfälligen Gruppen überrepräsen-tiert, namentlich bei den Opfern des Menschenhandels zum Zweck der sexuellen Ausbeutung (125).

Es bestehen beträchtliche Unterschiede, die je nach Gruppe, Land und betrach-tetem Gesundheitsproblem verschieden stark ausfallen. Trotzdem ist die Belas-tung durch Gesundheitsdefizite bei den von Ausgrenzung betroffenen Grup-pen von Migranten häufig unannehmbar hoch (126). Dort, wo aussagekräftige Zahlen vorliegen, deuten sie in der Regel auf eine niedrigere Lebenserwartung bei Migranten hin, und manche Gruppen weisen auch erhöhte Säuglingssterb-lichkeitsraten auf. Migranten haben zumeist ähnliche Krankheiten wie der Rest der Bevölkerung, wenngleich manche Gruppen in bestimmten Bereichen eine höhere Prävalenz aufweisen, etwa bei übertragbaren Krankheiten, schlechter Er-nährung, Alkohol- und Drogenmissbrauch, Defiziten in der sexuellen und repro-duktiven Gesundheit, berufsbedingten Gesundheitsproblemen und psychischen Störungen (127–129).

Migranten

Die erhöhte Anfälligkeit der Migranten ist durch eine häufigere Exposition ge-genüber gefährlichen Arbeitsbedingungen, schlechten Wohnverhältnissen und Ausbeutung am Arbeitsplatz sowie einen unzulänglichen Zugang zur Gesund-heitsversorgung gekennzeichnet. Die Rate der Arbeitsunfälle liegt bei Arbeits-migranten ungefähr doppelt so hoch wie bei Arbeitskräften, die in der Europäi-schen Region geboren sind (126).

Die gesundheitlichen Verhältnisse und die allgemeinen Rahmenbedingungen im Herkunftsland der Migranten (z. B. hohe Prävalenz von Tuberkulose- oder HIV-Infektionen) sind ausschlaggebend für viele ihrer grundlegenden gesundheit-lichen Merkmale; schon die Reise ist mit gesundheitgesundheit-lichen Risiken verbunden, etwa aufgrund traumatischer Erlebnisse (130). Nach der Ankunft haben Armut und gesellschaftliche Ausgrenzung den stärksten Einfluss auf die Gesundheits-ergebnisse, aber auch die Verfügbarkeit, Zugänglichkeit, Annehmbarkeit und Qualität der Dienstleistungen im Gastland wirken sich auf die Gesundheit der Migranten aus (126). Nach der Ankunft kann eine Vielzahl von Faktoren die psy-chosoziale Vulnerabilität erhöhen und eine erfolgreiche Eingliederung in die Gesellschaft behindern. Migranten können beim Zugang zur Gesundheitsver-sorgung vor Hürden stehen; dies kann auf Stigmatisierung, mangelnde Informa-tionen über vorhandene Angebote oder auf die Tatsache zurückzuführen sein, dass diese Informationen nicht in anderen Sprachen als den vorherrschenden Sprachen des Gastlandes vorliegen.

In der Europäischen Region leben etwa 12 bis 15 Mio. Roma, davon schätzungs-weise allein 10 Mio. in den EU-Staaten. So beträgt der Bevölkerungsanteil der Roma in Bulgarien ca. 10%, in der Slowakei 9% und in Rumänien 8% – mit stei-gender Tendenz (126,131).

Es gibt Hinweise darauf, dass die Lebenserwartung in Roma-Gemeinschaften etwa 10 bis 15 Jahre unter dem Durchschnitt liegt und dass bei ihnen eine er-höhte Säuglingssterblichkeit und eine beunruhigend hohe Mütter- und Kinder-sterblichkeit und -morbidität besteht (131–133).

Offiziellen Angaben zufolge verzeichnen Roma-Gruppen höhere Krankheits-quoten als die Mehrheitsbevölkerung, etwa höhere Raten von Diabetes Typ II, koronarer Herzkrankheit und Adipositas bei Erwachsenen sowie Mangelkrank-heiten und Mangelernährung bei Kindern. So ergaben etwa Untersuchungen in Roma-Siedlungen in Serbien, dass viele Frauen unterernährt sind (51%) und rauchen (fast alle). Aus einer vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nati-onen (UNDP) durchgeführten Erhebung über Vulnerabilität geht hervor, dass 50% aller Roma-Kinder mehr als zweimal monatlich der Gefahr der Mangeler-nährung ausgesetzt sind; in der Mehrheitsbevölkerung sind es lediglich 6% der Kinder (134–136).

In vielen Ländern sind die Roma in den einkommensschwachen Schichten deut-lich überrepräsentiert; Untersuchungen zufolge gehören sie sogar mehrheitdeut-lich der untersten Einkommensgruppe an. Eine durch Diskriminierung bedingte Ausgrenzung der Roma kann ein unabhängiger Gefährdungsfaktor in Bezug auf Armut sein (132,137).

Die vorliegenden Daten weisen auf eine erhebliche Benachteiligung der Roma im Vergleich mit der Mehrheitsbevölkerung in Bezug auf den Zugang zu den Gesundheitssystemen wie auch den Gesundheitszustand hin. So etwa geht aus Daten über Schwangerschaftsbetreuung, niedriges Geburtsgewicht, Prävalenz des Stillens, Rauchen bei Müttern, Ernährungszustand und Impfra-ten eine deutliche Benachteiligung der Roma gegenüber der Mehrheitsbe-völkerung hervor, teilweise sogar im Vergleich zu dem ärmsten Quintil der Gesamtbevölkerung (138,139).

Roma

Bewährte Lösungen

Da die gesundheitlichen Probleme von Migranten und anderen gefährdeten Gruppen durch deren benachteiligte gesellschaftliche Stellung verursacht oder verschärft werden können, dürften Maßnahmen zur Bekämpfung gesellschaft-licher Ausgrenzungsprozesse in Bezug auf ihre Gesundheit die stärkste Wirkung entfalten. Darüber hinaus sollten durch geeignete Handlungskonzepte die Be-nachteiligung von Migranten, Roma und anderen Opfern von Ausgrenzung in Bezug auf ihre Gesundheitssituation wie auch die Zugänglichkeit und Qualität der ihnen zur Verfügung stehenden gesundheitlichen und sozialen Angebote bekämpft werden. Viele der Strategien, mit denen sich dies erreichen lässt, sind nicht spezifisch auf die Roma zugeschnitten, sondern weisen Ähnlichkeiten mit Strategien auf, wie sie für ethnische Minderheiten und andere Gruppen benötigt werden, die einer Vielzahl ausschließender Prozesse ausgesetzt sind.

Dazu zählt die Ausbildung von Gesundheitsfachkräften zur Arbeit mit Minder-heiten und marginalisierten Bevölkerungsgruppen, die Einbeziehung dieser Gruppen in die Gestaltung, Umsetzung und Bewertung von Gesundheitspro-grammen und die Verbesserung von Gesundheitsinformationssystemen, damit Daten nach ethnischer Zugehörigkeit aufgeschlüsselt erhoben und in einem entsprechenden Format präsentiert werden können. Integrierte Lösungskon-zepte, die an den vielfältigen Ursachen der sozialen Ausgrenzung ansetzen, sind am erfolgreichsten (140).

Viele der mit Migration verbundenen gesundheitlichen und sozioökonomischen Herausforderungen sind das Ergebnis weltweiter Ungleichgewichte, und Hand-lungskonzepte, die lediglich auf die Aufnahmeländer abzielen, werden weniger Wirkung entfalten als integrierte Programme mit globaler Ausrichtung, die so konzipiert sind, dass sie die Einflussfaktoren in den Herkunfts- und Aufnahme-ländern bzw. -regionen abfedern.

Migranten sind häufig auch mit geschlechtsspezifischen Herausforderungen konfrontiert, insbesondere im Hinblick auf die Gesundheit von Müttern, Neu-geborenen und Kindern sowie auf die sexuelle und reproduktive Gesundheit, aber auch in Bezug auf Gewalt. Migranten sollten schon frühzeitig Zugang zu Angeboten in den Bereichen Reproduktionsgesundheit, Gesundheitsvorsorge und Gesundheitsförderung sowie zu Reihenuntersuchungen, Diagnosemaßnah-men und Angeboten der Schwangerschaftsbetreuung und Geburtshilfe haben.

Besondere Aufmerksamkeit sollte Frauen und Mädchen gelten, die Opfer von Menschenhandel sind, da viele von ihnen geschlechtsspezifischer Gewalt aus-gesetzt waren.

Für die anfälligen Gruppen von Belang sind auch Resolutionen der WHO, die auf globaler Ebene und auf Ebene der Region auf gesellschaftliche Integration ab-zielen und sich mit Armut und Gesundheit befassen. Dazu zählen die Resolution der Weltgesundheitsversammlung über den Abbau gesundheitlicher Benachtei-ligungen durch Ansetzen an den sozialen Determinanten von Gesundheit (47) und die aufgrund der Resolution EUR/RC52/R7 des Regionalkomitees über Armut und Gesundheit (141) geleistete Arbeit, die namentlich der Bekämpfung gesund-heitlicher Ungleichheiten infolge von Migration und ethnischer Zugehörigkeit dient (126).

Konkret zur Thematik der Gesundheit von Migranten wurde auf der Grundlage ei-ner Resolution der Weltgesundheitsversammlung von 2008 (142) im Rahmen der spanischen EU-Präsidentschaft 2010 eine globale Konsultation der WHO und der Internationalen Organisation für Migration über einen geeigneten Handlungs-rahmen durchgeführt (143). Die Notwendigkeit abgestimmter und langfristiger Maßnahmen war auch der Gegenstand verschiedener politischer Prozesse und Konferenzen, die zur Verabschiedung von Abschlussdokumenten wie der 2007 von den der Mitgliedsländern des Europarates unterzeichneten Erklärung von

Bratislava über Gesundheit, Menschenrechte und Migration (144) und den Emp-fehlungen des Ministerkomitees des Europarates über Mobilität, Migration und Zugang zur Gesundheitsversorgung aus dem Jahr 2011 (145) führte. Die Interna-tionale Konvention zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen (146) bietet einen umfassenderen Rahmen für das univer-sale Menschenrecht auf Gesundheit ohne Diskriminierung.

Die Dekade der Roma-Integration 2005–2015 stellt eine politische Verpflichtung der Regierungen Europas dar, die sozioökonomische Situation und gesellschaftli-che Integration der Roma zu verbessern. Darin ist neben Bildung, Beschäftigung und Wohnen auch Gesundheit ein vorrangiger Schwerpunktbereich. 2011 star-tete die Europäische Kommission einen EU-Rahmen für nationale Strategien zur Integration der Roma bis 2020, in dem alle EU-Länder ersucht werden, zielgerich-tete Strategien zur Integrationsförderung auf den Gebieten Gesundheit, Woh-nungswesen, Bildung und Beschäftigung auszuarbeiten und umzusetzen (131).

Ferner in diesem Zusammenhang erwähnenswert sind die Mitteilung des Euro-päischen Rates über Solidarität im Gesundheitswesen und die Schlussfolgerun-gen des Europäischen Rates über die Roma (147).

Chancengleichheit zwischen den Geschlechtern