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Nachdem in den 80er und 90er Jahren Vertreter einer bilingualen Bildung zum Teil auf erbitterten Widerstand in Deutschland gestoßen sind, öffnen sich heute immer mehr Förderschulen für ein bilinguales Bildungsangebot. Dafür waren zwei Schulversuche wegweisend, die in den Förderschulen in Hamburg und in Berlin in der Primar- und in der Sekundarstufe I durchgeführt wurden (Günther et al., 2004; Günther & Hennies, 2011).

In beiden Schulversuchen wurden eine gebärdensprachliche und eine aural-orale Förderung in einem bilingualen Konzept integriert. Das bedeutete, dass sowohl Gebärdensprache als auch Lautsprache von Anfang gefördert wurden.

Das zentrale Ziel dabei war, auf der Grundlage der individuellen Entwicklungs-voraussetzungen eine altersangemessene Kommunikation und Lernentwick-lung der Schüler zu erreichen. Es wurde davon ausgegangen, dass sich dabei die DGS zur dominierenden Sprache der gehörlosen Kinder entwickelt, da sie zu dieser aufgrund der visuellen Modalität besseren Zugang haben. Die DGS diente dazu, den Erwerb der Lautsprache positiv zu unterstützen. Um beide Sprachen anzubahnen, wurde auf das Prinzip “one person – one language”

gesetzt. In beiden Schulversuchen wurden deshalb – wann immer entsprechende Ressourcen zur Verfügung standen – im Unterricht Teams aus gehörlosen und hörenden Lehrern eingesetzt, wobei der gehörlose Lehrer DGS und der hörende Lehrer Deutsch mit Lautsprachunterstützenden Gebärden verwendeten. Ziel

Bilinguale Bildung hörgeschädigter Kinder in deutschen Schulen...

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des Sprachunterrichts war außerdem die Entwicklung eines metasprachlichen Bewusstseins. Dies wurde durch ein kontrastives Vorgehen im bilingualen Spra-chunterricht gefördert, bei dem die Strukturen der beiden Sprachen miteinander verglichen wurden. Auf diese Weise wurde Sprachwissen in beiden Sprachen vermittelt und die Sprachtrennung gefördert. Außerdem konnten die Schüler in beiden Kulturen – der Gehörlosenkultur und der “Welt der Hörenden” – Erfah-rungen sammeln. Die gehörlosen Lehrer dienten dabei auch als Rollenvorbilder.

In den Unterrichtsfächern Mathematik und im weiteren Fachunterricht wurde DGS als Unterrichtssprache verwendet. Die Schüler der Schulversuche erreich-ten sehr gute Gebärdensprachkompeerreich-tenzen, die sie erfolgreich für den Erwerb des Deutschen nutzen konnten. So schnitt die Gruppe der bilingual geförderten Schüler zum Beispiel in den Lese- und Schreibkompetenzen besser ab als Kon-trollgruppen hochgradig schwerhöriger bzw. gehörloser Schüler (Günther et al., 2004; Günther, Hennies, 2011).

Die Verwendung von Gebärdensprache in der Bildung erfuhr schließlich eine Anerkennung durch die Empfehlung der Kultusministerkonferenz4 zum För-derschwerpunkt Hören von 1996, die heute noch gilt [Sekretariat der Ständi-gen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutsch-land, 1996]. Die Kultusministerkonferenz empfiehlt, neben der Lautsprache bei Bedarf auch Gebärdensprache zu fördern. Außerdem sollen Lehrkräfte über ausreichende gebärdensprachliche Kompetenzen verfügen. 2002 erfolgte die offizielle Anerkennung der Deutschen Gebärdensprache, indem Recht auf die Deutsche Gebärdensprache im “Gesetz zur Gleichstellung behinderter Men-schen (Behindertengleichstellungsgesetz – BGG)” und in verschiedenen Geset-zen der Sozialgesetzgebung verankert wurde. Eine breite gesetzliche Veranke-rung der Deutschen Gebärdensprache im Bildungsbereich blieb aber aus, da die Bundesländer die KMK-Empfehlungen sehr unterschiedlich in Rechtsvor-schriften umgesetzt haben. Nur das Bundesland Berlin hat zum Beispiel den Anspruch auf eine bilinguale Bildung und die Weiter- und Ausbildung der Lehr-kräfte in Gebärdensprache sehr umfassend im Landesgesetz verankert (Berliner Landesgleichstellungsgesetz 1999/Änderung 2004 § 12 Lehrerbildung).

4 In der “Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland”

(KMK) sind alle Minister der Bundesländer vertreten, die für die Bildung zuständig sind. Die KMK hat die Aufgabe, die Bildungspolitik der Länder zu koordinieren und kann unter anderem Empfehlungen aussprechen, die dann aber erst von den einzelnen Bundesländern rechtlich umgesetzt werden müssen.

Claudia Becker

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Eine rechtlich bindende Anerkennung auf bundesdeutscher Ebene erfuhr die bilinguale Bildung für hörgeschädigte Kinder erst 2009, als Deutschland die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung ratifizierte.

Im Artikel 24 wurde das Recht auf Gebärdensprache in der Bildung festge-schrieben. Dennoch wird ein bilinguales Bildungsangebot immer noch nicht in allen deutschen Förderschulen umgesetzt. Allerdings haben sich in den vergan-genen zwei Jahrzehnten etliche Lehrerinnen und Lehrer auf den Weg gemacht, bilinguale Konzepte bzw. Gebärdensprache für hörgeschädigte Kinder einzu-führen [s. z.B. Becker & Schneider, 2009; Bohl, 2006]. Aus diesem Grund sind folgende Entwicklungen zu verzeichnen, die den oben formulierten Qualitäts-standards gerecht werden:

- Implementierung des Unterrichtsfachs Deutsche Gebärdensprache:

In einigen Bundesländern (z.B. Berlin, Brandenburg, Hamburg, Bayern, Sachsen-Anhalt) wurde in den vergangenen Jahren das Unterrichtsfach DGS offiziell eingeführt. In Berlin wurde zum Beispiel im Schuljahr 2011/2012 die Stundentafel für gehörlose Kinder um zwei Stunden für das Unterrichtsfach DGS erweitert, so dass heute das Unterrichtsfach DGS systematisch von der ersten bis zur zehnten Klasse angeboten wird.

Für das Unterrichtsfach DGS wurden verschiedene Rahmenlehrpläne von der Klasse 1-10 entwickelt (Bayrisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus 2003; Ministerium für Bildung Jugend und Sport des Lan-des Brandenburg et al. 2012; Kultusministerium Sachsen-Anhalt, 2012).

Diese sind zum Teil bereits für den inklusiven Unterricht angelegt, indem sie sowohl für gehörlose Kinder als auch für hörende Kinder verwendet werden können. Bislang wird das Unterrichtsfach allerdings ausschließ-lich von einigen Förderschulen angeboten. Vorschläge für die Ausweitung bis zum Abitur und zur Ausgestaltung als abiturrelevantes Prüfungsfach liegen ebenfalls vor, allerdings ist in Deutschland DGS noch nicht als Prü-fungsfach für das Abitur anerkannt.

- Implementierung der Inhalte der “Hörgeschädigtenkunde”:

Die deutsche Hörgeschädigtenpädagogik hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten erkannt, dass es auch Aufgabe der Schule ist, hörgeschädigte Kinder in ihrer Identitätsarbeit zu unterstützen, indem der Erwerb ver-schiedener Strategien im Umgang mit der eigenen Hörschädigung, die Auseinandersetzung mit Behinderungserfahrungen ermöglicht wird und

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die Lebensweisen und die Kultur schwerhöriger und gehörloser Menschen thematisiert werden. Impulse dafür kamen aus der Identitätsforschung [u.a. Hintermair, 1999]. Insbesondere hörgeschädigte Lehrer entwickel-ten deshalb Lehrpläne und Materialien für die Inhalte der “Hörgeschä-digtenkunde” (s. z.B. Fries, 2004; Mende-Bauer, 2007; zusammenfassend Becker, 2010).

- DGS in der Ausbildung von Lehrkräften:

Die Ausbildung von Förderschullehrern mit dem Förderschwerpunkt Hören findet in Deutschland an fünf Universitäten statt (Berlin, Hamburg, Heidelberg, Köln, München). Die Ausbildung ermöglicht den Erwerb umfangreicher Fachkompetenzen im gesamten Spektrum der Hörgeschä-digtenpädagogik, da sie ein sonderpädagogisches BA- und MA-Studium umfasst. Außerdem schließt sich an die universitäre Ausbildung auch noch ein Referendariat an, das heißt eine ein- bis zweijährige Ausbil-dung, die im Anschluss an das Studium an einer Schule absolviert wird.

Mittlerweile bieten alle fünf Universitäten Sprachkurse für Lehramtsstu-dierende in DGS an, allerdings in sehr unterschiedlichem Umfang. Wäh-rend an einigen Hochschulen im Lehramtsstudium nur geringe Basis-kompetenzen in DGS vermittelt werden, nimmt die DGS-Ausbildung an anderen Universitäten einen großen Umfang des Studiums ein. An der Humboldt-Universität zu Berlin wird Gebärdensprache zum Beispiel innerhalb der sonderpädagogischen Fachrichtung “Gebärdensprachpä-dagogik” vermittelt. Diese enthält eine umfassende Ausbildung in DGS sowie Inhalte der Gebärdensprachlinguistik, Gebärdensprachdidaktik sowie Geschichte, Kultur und Lebensweisen hörgeschädigter Menschen [Becker, 2015]. Viele ältere Lehrer haben in ihrer Ausbildung allerdings keine DGS gelernt. Durch die uneinheitlichen Ausbildungsbedingungen und Weiterbildungsmöglichkeiten verfügen die Schulen heute über sehr unterschiedliche personelle Ressourcen für den bilingualen Unterricht.

- Zusammenarbeit von gehörlosen, schwerhörigen und hörenden Lehrern:

Die Anzahl schwerhöriger und gehörloser Lehrer ist in den letzten zwei Jahrzehnten in Deutschland kontinuierlich gestiegen. So hat das Netzwerk gehörloser und schwerhöriger Lehrer in Deutschland zur Zeit ca. 70 Mit-glieder, so dass an einigen Schulen hörende und hörgeschädigte Pädago-gen mittlerweile eng zusammenarbeiten. Allerdings ist der Bedarf damit

Claudia Becker

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nicht gedeckt. Insbesondere in den ländlichen Gebieten fehlen hörgeschä-digte Lehrer. Außerdem werden hörgeschähörgeschä-digte Lehrer bislang fast aus-schließlich an Förderschulen eingesetzt, so dass hörgeschädigte Schüler, die eine Regelschule besuchen, häufig keinen Kontakt zu ihnen haben.

- Entwicklung von Medien für den bilingualen Unterricht:

Die Lehrer, die DGS in Deutschland unterrichten, müssen unter hohem Zeitaufwand und mit viel Kreativität Unterrichtsmaterialien neu entwi-ckeln. Mittlerweile gibt es einige Medien für den bilingualen Unterricht, die die Arbeit in der Schule erleichtern und auch wichtige Hilfen sind, um DGS in den Familien anzubahnen (verschiedene DGS-Lexika und Bilderbücher mit Schrift- und Gebärdensprache, s. z.B. Bundeselternver-band gehörloser Kinder e.V., 2009 und Unterrichtsmaterialen unter www.

univie.ac.at/teach-designbilingual/ und www.signlanguage-school.eu).

Es fehlt allerdings an publizierten Lehr- und Lernmaterialien insbeson-dere für die Sprachreflexion in den verschiedenen Klassenstufen. So wird dringend eine didaktisch aufgearbeitete Grammatik der DGS benötigt, die Lehrer als Grundlage für den Grammatikunterricht verwenden können.

Ein dringender Bedarf besteht außerdem an diagnostischen Verfahren für die gebärdensprachlichen Kompetenzen für unterschiedliche Altersgrup-pen [s. z.B. Haug, 2011].

Das Konzept des bilingualen Schulversuchs in Hamburg war auf eine weit-gehend homogene Sprachlerngruppe zugeschnitten, die im Klassenverband an einer Förderschule über mehrere Jahre unterrichtet wurde. Es wurde davon ausgegangen, dass bei einer bilingualen Förderung gehörloser Kinder die Gebärdensprache als Basis- bzw. Erstsprache erwerben und mit ihrer Hilfe die Lautsprache als Zweitsprache lernen. Heute lässt sich aber am Grad der Hör-schädigung nicht mehr voraussagen, welche der Sprachen sich zur dominanten Sprache entwickelt. Darüber hinaus kann sich die Bedeutung einer Sprache in der Erwerbsbiographie verändern. Lerngruppen an den Förderschulen sind des-halb sprachlich sehr heterogen:

- Aufgrund der verbesserten Hörtechnik wie Cochlear Implantaten haben mehr hochgradig hörgeschädigte Kinder auf einem natürlicheren Weg Zugang zur Lautsprache als noch vor 20 Jahren. Viele dieser Kinder erwerben deshalb die Lautsprache als Erstsprache, wenn auch zum Teil

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zeitverzögert. Die DGS lernen sie – wenn überhaupt – als Zweit- oder Fremdsprache.

- Hörgeschädigte Kinder erwerben die Gebärdensprache durch ihre gehör-losen Eltern oder durch eine bilinguale Frühförderung als Erstsprache und erwerben die Lautsprache als zweite Erst- oder als Zweitsprache.

- In Deutschland befindet sich eine nicht unerhebliche Anzahl von hörgeschä-digten Kindern in den Förderschulen, die aus unterschiedlichen Gründen weder die Laut- noch die Gebärdensprache altersangemessen als funktio-nale Sprache entwickelt haben. Wir wissen heute, dass auch mit CI-Ver-sorgung bei ca. 50 % der Kinder massive Störungen im Lautspracherwerb auftreten (Szagun, 2010). Haben sie keine Möglichkeit bekommen, in der Frühförderung oder im Elternhaus Gebärdensprache zu lernen, erwerben sie DGS oder Deutsch als Erstsprache erst verspätet in der Schule.

- Durch die Möglichkeit der Beschulung an einer Regelschule ist das Schul-system durchlässiger geworden. Kinder wechseln von der Regelschule in die Förderschule oder umgekehrt, so dass sich die Klassenzusammenset-zung immer wieder verändern kann. Kinder, die erst eine Regelschule besucht und dann an eine Förderschule wechseln, verfügen in der Regel über keinerlei Gebärdensprachkompetenz.

Lehrer empfinden diese unterschiedlichen sprachlichen Voraussetzungen und Bedarfe hörgeschädigter Schüler innerhalb einer Klasse als eine große Herausforderung für die Gestaltung der sprachlichen Bildung sowie der Unter-richtskommunikation. Einige Förderschulen sind deshalb dazu übergegangen, Klassen nach der sprachlichen Orientierung der Kinder zu bilden. Die verschie-denen “Sprachlerngruppen” werden nach unterschiedlichen Förderkonzepten unterrichtet (z.B. ausschließlich hörgerichtet, hörgerichtet mit Verwendung manueller Hilfen, bilingual (DGS und Deutsch) [Köhler-Krauß, 2001]). Aller-dings können gerade kleinere Förderschulen mit der Bildung von Sprachlern-gruppen dem Spektrum der unterschiedlichen Bedürfnisse der Schüler nicht gerecht werden. Es bedarf deshalb heute weiterer Konzepte, die eine Indivi-dualisierung im Rahmen einer bilingualen Förderung zulassen. Diese müssen z.B. Einzel- und Kleingruppenförderung sowie Angebote für DGS als Erst-, Zweit- oder Fremdsprache beinhalten. Einige Schulen haben sich bereits auf den Weg gemacht, hier geeignete Lösungen zu finden. Eine Evaluation von Best Practice-Beispielen in Deutschland steht allerdings noch aus.

Claudia Becker

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