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Kommerzielle Risiken als Verbraucherrisiken

Jürgen Basedow *

B. Kommerzielle Risiken als Verbraucherrisiken

Der größte Unterschied zwischen dem Verbrauchervertragsrecht und dem Versicherungsvertragsrecht der EG liegt, was den Anwendungsbereich zwin-gender Bestimmungen betrifft, in ihrer Erstreckung auf Versicherungsver-träge, die mit mittelständischen Unternehmen abgeschlossen werden. Diese Differenz erinnert an grundlegende Debatten der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts.

So ist die Diskussion über die Kontrolle Allgemeiner Geschäftsbedin-gungen seinerzeit in erster Linie unter dem Gesichtspunkt des Schutzes der Endverbraucher geführt worden.36Dementsprechend war zunächst beabsich-tigt worden, das Gesetz zur Regelung des Rechts der Allgemeinen Geschäfts-bedingungen als ein Gesetz zum Schutz der Endverbraucher zu konzipieren.

Dieser Ansatz passte freilich von Anfang an nicht recht zu der Tatsache, dass sich die höchstrichterliche Rechtsprechung zur Inhaltskontrolle von AGB in Deutschland ganz überwiegend an Fällen entwickelt hatte, in denen auf bei-den Seiten Unternehmer beteiligt gewesen waren.37 Das Bedürfnis für eine inhaltliche Beschränkung der Vertragsfreiheit im Bereich der Verwendung standardisierter Vertragsbestimmungen ist denn auch für den kaufmän-nischen Rechtsverkehr auf dem Deutschen Juristentag 1974 überwiegend

an-36 Siehe schon den Titel des Gutachtens A von Hein Kötz zum 50. Deutschen Juristentag 1974 :

„Welche gesetzgeberischen Maßnahmen empfehlen sich zum Schutze des Endverbrauchers ge-genüber Allgemeinen Geschäftsbedingungen und Formularverträgen ?“, München 1974, siehe ferner dort S. A 9 f. und A 69.

37 Siehe schon Hein Kötz in : Münchener Kommentar zum BGB, Band I, 2. Aufl., München 1984, § 24 AGBG Rdnr. 1.

Verbraucherschutz oder Versichertenschutz ? erkannt worden.38Im Laufe der Jahre haben viele europäische Länder Rege-lungen geschaffen, die eine Inhaltskontrolle vorformulierter oder sogar aller Vertragsbestimmungen auch jenseits der Verbrauchergeschäfte im kommer-ziellen Bereich ermöglichen.39Freilich stimmen diese nationalen Regelungen darin überein, dass sie den Gerichten, jedenfalls hinsichtlich der Verträge zwischen Unternehmern, einen weiten Bewertungsspielraum eröffnen. Ein solcher ist im allgemeinen Vertragsrecht unabdingbar, wenn der Eigenart der einzelnen Vertragstypen, den Gegebenheiten der jeweiligen Wirtschafts-zweige und den Besonderheiten des individuellen Vertrages Rechnung ge-tragen werden soll.

Das zwingende Versicherungsvertragsrecht ist in Kontinentaleuropa durchweg schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und folglich lange vor einer gesetzlichen Regelung des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbe-dingungen kodifiziert worden. Die nationalen Versicherungsvertragsgesetze beschränken die Möglichkeit der Versicherungsunternehmen, den Inhalt von Versicherungsverträgen durch standardisierte Bedingungen einseitig zu ihren Gunsten zu verändern. Insofern enthalten diese Gesetze eine vorweg genommene gesetzliche Kontrolle Allgemeiner Geschäftsbedingungen40und lassen sich gerade auch hinsichtlich ihres Anwendungsbereichs mit der neueren Entwicklung im Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen gut vergleichen. Unter diesem Blickwinkel wird man den über den Verbrau-cherschutz hinausreichenden Anwendungsbereich der Rechtsakte zum Eu-ropäischen Versicherungsvertragsrecht nicht als Zeugnis einer inzwischen überwundenen anfänglichen Unsicherheit der europäischen Rechtspolitik hinsichtlich des angemessenen Umfangs zwingender Schutzbestimmungen würdigen können. Die spätere Fokussierung der europäischen Gesetzgebung auf den Schutz der Endverbraucher ist vielmehr darauf zurückzuführen, dass Konsumenten in aller Regel weder Möglichkeiten noch ausreichende Anreize zur inhaltlichen Überprüfung einzelner Vertragsbestimmungen ha-ben und dass deshalb der EG-Vertrag ihren Schutz zu einem besonderen Ziel der Gemeinschaftspolitik erhoben hat (vgl. Art. 95 Abs. 3 und Art. 153 EG).

Damit ist jedoch nicht in Abrede gestellt, dass gewerbliche und freibe-rufliche Teilnehmer am Wirtschaftsverkehr hinsichtlich einzelner

Vertrags-38 Beschluss Nr. 4 der betreffenden Abteilung, der mit 211 :156 :15 Stimmen angenommen wurde, lautete : „ Die Regelung sollte in ihrem persönlichen Anwendungsbereich grundsätzlich unbe-schränkt sein, vorbehaltlich sachlich gebotener Zusatzregelungen zum Schutze der Endverbrau-cher.“ Siehe „50. Deutscher Juristentag in Hamburg“, NJW 1974, 1987, 1988.

39 Siehe die kurzen Länderberichte zur Umsetzung der Richtlinie 93/13/EG über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen bei MünchKomm-Basedow, vor § 305 Rn. 24-38 (Fn. 25) ; zu ver-weisen ist insbesondere auf die Generalklausel des § 36 des Skandinavischen Vertragsgesetzes für Dänemark, Finnland und Schweden, ferner auf gesetzliche Regelungen in den Niederlanden, Österreich und Portugal sowie auf § 307 BGB in Deutschland.

40 Siehe Kötz (Fn. 36), A 38.

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typen und/oder einzelner Vertragsbestimmungen möglicherweise ebenfalls der Hilfe durch zwingendes Recht bedürfen. Dass dies gerade im Versiche-rungsvertragsrecht der Fall ist, erkennt das Gemeinschaftsrecht im Übrigen nicht nur durch die Begrenzung der Rechtswahlfreiheit, sondern auch durch die Beschränkung der Gültigkeit von Gerichtsstandsklauseln in der VO 44/2001 an.41Wenn die Urheber jener Regelungen die Versicherungsnehmer über den Kreis der Verbraucher hinaus gerade vor Missbräuchen schützen wollten, „die sich aus so genannten Adhäsionsverträgen ergeben können“42, so weisen sie damit auf Gefahren hin, die naturgemäß nicht nur bei Gerichts-standsklauseln drohen, sondern bei vorformulierten Klauseln aller Art.

Die Gefahr eines Missbrauchs standardisierter Vertragsbestimmungen nimmt ab mit zunehmender Grösse des Unternehmens des Versicherungs-nehmers, auf das sich der abgeschlossene Versicherungsvertrag bezieht.

Insofern sind die in Art. 5 lit. d) iii der Ersten Richtlinie zur Schadenversi-cherung angegebenen Schwellenwerte durchaus Indikatoren für das Schutz-bedürfnis. Je größer nämlich das Unternehmen des Versicherungsnehmers ist, desto bedeutsamer wird im Allgemeinen das versicherte Risiko und desto höher wird deshalb in absoluten Zahlen die vereinbarte Prämie sein. Dabei wächst mit der Unternehmensgröße auch der ökonomische Anreiz für den Versicherungsnehmer, mit dem Versicherer in Verhandlungen über die ein-zelnen Bedingungen des Vertrages einzutreten. Eine genaue Grenzziehung ist zwar naturgemäß willkürlich. Sie ist aber im Interesse der Rechtsklarheit unabdingbar, wenn sich daran bestimmte Klauselverbote und nicht nur eine allgemeine Ermächtigung zur richterlichen Inhaltskontrolle wie bei der zi-vilrechtlichen Generalklausel des § 307 BGB knüpft.

Allerdings ist fraglich, ob die unternehmensbezogenen Indikatoren für Großrisiken – Bilanzsumme, Nettoumsatz und Beschäftigtenzahl – hinrei-chend aussagekräftig sind. Wenn die Abgrenzung zwischen zwingendem und dispositivem Recht davon abhängen soll, welchen Anreiz der Versiche-rungsnehmer hat, sich um Verständnis und Aushandlung einzelner Klauseln zu bemühen, dann erschiene es sinnvoller, einen Schwellenwert zu wählen, der sich unmittelbar auf die ökonomische Bedeutung des Vertrages bezieht, insbesondere also die Höhe einer Jahresprämie. Übersteigt diese bestimmte Schwellenwerte, beispielsweise 5.000 oder 10.000 €, wird man von einem um-sichtigen Unternehmer erwarten können, dass er den Vertrag nicht ohne

Be-41 Vgl. Art. 12-14 VO 44/2001 (Fn. 34) ; siehe dazu Helmut Heiss, Gerichtsstandsfragen in Versiche-rungssachen nach Europäischem Recht, in : Fritz Reichert-Facilides / Anton K. Schnyder (Hrsg.), Versicherungsrecht in Europa – Kernperspektiven am Ende des 20. Jahrhunderts, Basel 2000, 105, 113 f.

42 Siehe den Bericht von Jenard zum Übereinkommen vom 27.9.1968 über die gerichtliche Zustän-digkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. EG 1979 C 59/1, 29.

Verbraucherschutz oder Versichertenschutz ? ratung durch einen Makler oder Versicherungsberater abschließt. Ein solcher Schwellenwert würde sich viel enger an der wirtschaftlichen Bedeutung des Risikos orientieren als die gegenwärtig imacquis communautaireverwendeten unternehmensbezogenen Indikatoren.

Der Vergleich mit dem Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen wirft eine letzte Frage nach der Art der Inhaltskontrolle auf. Während miss-bräuchliche Vertragsklauseln in anderen Vertragstypen jedenfalls im kom-merziellen Verkehr allein mit dem Instrument der Generalklausel kontrol-liert werden43, ist eine derart weit reichende Verweisung auf das richterliche Ermessen im Versicherungsvertragsrecht der europäischen Staaten nirgends anzutreffen. Sie wäre für das Versicherungsvertragsrecht auch unangemessen.

Dies hängt mit den unterschiedlichen Regelungsgegenständen zusammen.

Das zwingende Vertragsrecht der europäischen Verbraucherrichtlinien betrifft vorrangig Fragen der Verbraucherinformation und des Vertrags-schlusses, zum Teil, vor allem in der Richtlinie zum Verbrauchsgüterkauf,44 auch Sekundäransprüche nach Leistungsstörungen. Dagegen regelt das zwingende Versicherungsvertragsrecht der Mitgliedstaaten unmittelbar As-pekte der primären Leistungsbeziehungen : Aufklärungspflichten des Versi-cherungsnehmers, Dokumentationspflichten, Laufzeit und Beendigung des Vertrages, ferner das Gleichgewicht der Vertragspflichten nach Verände-rungen des gedeckten Risikos, die Pflicht zur Prämienzahlung, die Leis-tungspflicht des Versicherers etc. Eine generalklauselartige Begrenzung der Formulierungsautonomie des Versicherers genügt hier nicht dem Bedürfnis aller Beteiligten nach Rechtsklarheit.

Überließe man es zum Beispiel den Allgemeinen Versicherungsbedin-gungen der einzelnen Unternehmen, den Zeitpunkt präzise festzulegen, zu dem die Deckung im Falle der Kündigung des Versicherungsvertrages oder der Leistungsfreiheit des Versicherers endet, so würden die Unternehmen davon zweifellos auf sehr unterschiedliche Weise Gebrauch machen. Auch die Gerichte würden im Nachhinein eine ihnen zustehende generalklausel-artige Kontrollbefugnis abhängig von den Umständen des Einzelfalles auf ganz verschiedene Art nutzen. Für ein Massengeschäft, in dem alljährlich in vielen Millionen Fällen Verfahren der Antragsbearbeitung, der Prämienzah-lung und -verbuchung, der Anzeige und Bearbeitung von Versicherungsfäl-len ablaufen, eignet sich eine solche nachträgliche und einzelfallbezogene Prüfung nicht. Sie lässt sich nur mit rechtskundigem Personal durchführen und verursacht dadurch exorbitante Transaktionskosten. Die Geschäftsab-läufe bedürfen vielmehr der Gleichförmigkeit, die allein durch präzise ge-fasste zwingende Normen hergestellt werden kann.

43 Siehe oben bei Fn. 39.

44 Richtlinie 1999/44/EG (Fn. 22).

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Die detaillierte Regelung des Versicherungsvertragsrechts in Verbin-dung mit einer Abgrenzung des zwingenden Schutzbereichs, die sich auf mehr oder weniger zufällig gegriffene numerische Indikatoren stützt, führt zwar an den Grenzen dieses Anwendungsbereichs zu einem recht arbiträren Übergang vom zwingenden zum dispositiven Recht. Im Hinblick auf das geschilderte Bedürfnis nach Rechtsklarheit in einem Massengeschäft ist dies jedoch unausweichlich und deshalb hinzunehmen.

IV. Ausblick

Bei der Ausarbeitung eines europäischen Versicherungsvertragsrechts, wie sie gegenwärtig von der ProjektgruppeRestatement of European Insurance Con-tract Lawbetrieben wird, ist die Abgrenzung des Anwendungsbereichs der zwingenden vertragsrechtlichen Normen eine zentrale Frage. Deracquis com-munautairestellt dafür zwei Lösungsmodelle zur Verfügung, deren erstes die Anwendung des zwingenden Rechts auf Verbraucherverträge beschränkt, wie in zahlreichen Richtlinien der Gemeinschaft zum Verbrauchervertrags-recht. Danach bezöge sich das zwingende Versicherungsvertragsrecht nur auf Versicherungsverträge, die der Versicherungsnehmer zu privaten Zwe-cken abschließt. Schon die nicht völlig nebensächliche zusätzliche Zweck-bestimmung des Vertrages für gewerbliche oder berufliche Zwecke entzöge einen Versicherungsvertrag nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften dem Anwendungsbereich zwingender Be-stimmungen. Wenn also ein Landwirt eine Feuerversicherung für sein Hof-gebäude abschließt, das sowohl Stallungen und sonstige Betriebsräume wie auch die Wohnung des Landwirts umfasst,45so bliebe die Ausgestaltung des Vertrages der uneingeschränkten Vertragsfreiheit der Parteien überlassen, in der Realität also der Formulierungsautonomie des Versicherers.

Als zweites Modell bietet der acquis communautaire im Bereich des in-ternationalen Privatrechts und des inin-ternationalen Zivilprozessrechts der Versicherungsverträge eine Abgrenzung von Großrisiken und sonstigen Ri-siken an, wobei Vertragsfreiheit im Sinne einer freien Wahl des anwendbaren Rechts oder des zuständigen Gerichtsstands nur für Großrisiken besteht.

Diese Lösung vermeidet einerseits Härten, wie sie mit der Beschränkung des zwingenden Rechts auf Verbraucherverträge zwangsläufig verbunden sind. Ausserdem trägt sie eher dem Umstand Rechnung, dass die Anreize zur geistigen Durchdringung von Versicherungsverträgen und zur Verhand-lung darüber im mittelständischen Bereich durchweg ebenso gering sind wie bei Verbrauchern. Andererseits sind die unternehmensbezogenen

Indi-45 So der Sachverhalt der EuGH-Entscheidung im Falle Gruber ./. BayWa (Fn. 35).

Verbraucherschutz oder Versichertenschutz ? katoren für die Abgrenzung des mittelständischen Bereichs von den Großri-siken – Bilanzsumme, Nettoumsatz, Beschäftigtenzahl – höchst willkürlich.

Unter dem Gesichtspunkt der Anreizstruktur empfiehlt es sich, sie durch einen auf die Jahresprämie bezogenen Schwellenwert, zum Beispiel 10.000 €, zu ersetzen.

Die Erste Richtlinie zur Schadenversicherung benennt zwei weitere Gruppen von Großrisiken, die sich auch zur Abgrenzung des Schutzbereichs eines künftigen materiellen europäischen Versicherungsvertragsrechts eig-nen würden. Hinsichtlich der Kautions- und Kreditversicherung kommt es ähnlich wie beim Begriff der Verbraucherverträge auf die Funktionalität des Versicherungsschutzes für berufliche und geschäftliche Zwecke an. Die Sonderstellung der Versicherung von Transport- und Verkehrsrisiken lässt sich aus der Internationalität dieser Materie heraus rechtfertigen. Soweit es sich bei ihnen um Verbraucherversicherungen handelt, ist vor diesem Hin-tergrund eine umfassendere Vertragsfreiheit angezeigt.

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