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Kapitel 2 Explizierung und Implizierung in der Übersetzungswissenschaft

2.3 Suche nach einer theoretischen Basis

2.3.3 Relevanztheoretischer Ansatz

Die relevanztheoretische Annäherung an das Übersetzens ist von Gutt (1991/2000) eingeführt worden. Auf der Suche nach einer allgemeinen Übersetzungstheorie kam er zu der Schlussfolgerung, dass Übersetzen als Kommunikationsakt eine Kommunikations-theorie brauche, die über die Grenzen des immer noch verwendete Kodemodells (Shannon/Weaver 1949 in Sperber/Wilson 1995: 4) hinausgehe (Gutt 2000: 22); die Relevanztheorie entspreche diesen übersetzungswissenschaftlichen Bedürfnissen (ebd.:

vii).

Die 1986 von Sperber und Wilson entwickelte Relevanztheorie betrachtet Kommunikation aus einer kombinierten linguistisch-pragmatischen und kognitiven Perspektive (siehe Kapitel 3 für eine ausführlichere Darstellung). Einer der wesentlichen Bausteine dieser Theorie ist die Unterscheidung zwischen explizit und implizit

kommunizierten Informationen: Explizite Informationen werden mittels einer Explikatur (explicature) mitgeteilt, implizite Informationen werden mittels einer Implikatur (implicature) mitgeteilt. Die Unterscheidung Explikatur-Implikatur verläuft aber nicht ganz parallel zu der üblichen Zweiteilung kodiert-inferiert: Der Relevanztheorie zufolge enthalten auch Explikaturen Informationen, die im Kommunikationsprozess inferiert werden müssen (Sperber/Wilson 1995: 182).

Die Möglichkeiten dieser relevanztheoretischen Zweiteilung für die Interpretation von Explizierung und Implizierung wurden von Murtisari (2013) anerkannt. Während Explizierung traditionell mit Informationen in Verbindung gebracht werde, die im Ausgangstext Teil einer Implikatur und im Zieltext Teil einer Explikatur seien, könne sich Explizierung aus relevanztheoretischer Perspektive auch auf Informationen beziehen, die sowohl im Ausgangs- als auch im Zieltext Teil einer Explikatur seien, im Zieltext aber expliziter seien als im Ausgangstext. Diese unterschiedlichen Arten von Explizierung bezeichnet Murtisari als kategoriale Explizierung (categorical explicitation) bzw. als relative Explizierung (scalar explicitation; 2013: 329-340).

Ähnlich soll Implizierung für Informationen gelten, die im Ausgangstext Teil einer Explikatur und im Zieltext Teil einer Implikatur sind (kategoriale Implizierung), sowie für Informationen, die sowohl im Ausgangs- als auch im Zieltext Teil einer Explikatur sind, im Zieltext aber weniger explizit sind als im Ausgangstext (graduelle Implizierung). Murtisari selbst spricht statt von Implizierung von De-Explizierung (ebd.: 333) und formuliert folgende zusammenfassende Definitionen2:

Explizierung: “shifts of meaning from the implicit to the explicit or simply to a higher degree of explicitness” (ebd.: 332)

De-Explizierung: “to shift a particular meaning from the explicit to the implicit or to simply lower its degree of explicitness” (ebd.: 333)

Explizitheit und Implizitheit werden also als notwendige Voraussetzung für Explizierung und Implizierung betrachtet (ebd.: 320). Murtisari übernimmt dazu die relevanz-theoretischen Definitionen, wie sie von Carston (2002) formuliert wurden:

“An assumption3 communicated by an utterance U is explicit [hence an

“explicature”] if and only if it is a development of a logical form encoded by U. An assumption communicated by U which is not explicit is implicit [hence an “implicature”].” (Carston 2002: 377 in Murtisari 2013: 322)

2 Bemerken wir, dass Explizierung als Übersetzungslösung, De-Explizierung aber als Taktik beschrieben wird.

3 “Assumptions” sind “thoughts treated by the individual as representations of the actual world (as opposed to fiction, desires, or representations of representations)” (Sperber/Wilson 1995: 2).

Obwohl diese Definitionen von Explizitheit und Implizitheit innerhalb der Relevanztheorie gut anwendbar sind, lassen sie sich nicht unbesehen in die Übersetzungswissenschaft übertragen. Murtisaris tatsächliche Anwendung der Definitionen auf Explizierung und Implizierung leidet dadurch unter einem grundlegenden Mangel, nämlich dem Import von Termini “from other fields of knowledge (which is quite understandable), but [with] very little adjustment to the specificities of their new setting (which is less understandable and much less forgivable)“ (Toury 2012: 35). Dies ist zugegebenermaßen ein wiederkehrendes Problem der Übersetzungswissenschaft, wie auch bereits von Gambier (2009: 63, 2010:

412) aufgezeigt wurde.

Die relevanztheoretischen Definitionen sind nämlich keine Definitionen von Explizitheit und Implizitheit, sondern von Annahmen (assumptions), in denen Explizitheit und Implizitheit nur als Eigenschaften dieser Annahmen beschrieben werden. Auch werden Explizitheit und Implizitheit in den Definitionen als kategoriale Eigenschaften dargestellt: Annahmen sind entweder explizit oder implizit. Dies steht aber im Gegensatz zu Murtisaris eigenen Definitionen von Explizierung und Implizierung, in denen Explizitheit als relativ dargestellt wird. Zwar fügt Murtisari den Definitionen hinzu: “different utterances may have the same explicatures, but with a different degree of explicitness.

[…] The smaller the contribution of the context, the more explicit the explicature is.“ (ebd.:

323-324) Aber weil Explizitheit und Implizitheit und daher auch Explizierung und Implizierung auf die Ebene der Annahmen beschränkt bleiben, ist der Bezug zu Äußerungen unklar. Für die eigentliche übersetzungswissenschaftliche Forschung, in der ja Äußerungen verglichen werden, sind Murtisaris Definitionen somit unbrauchbar.

Nebenbei fügt Murtisari hinzu, dass es neben Explizierung und Implizierung auch Bedeutungsmodifizierung (meaning modification) und Fehlübersetzung (mistranslation) geben kann, die sich aber von Explizierung und Implizierung unterscheiden, “since meaning modifications and mistranslations are neither a development of the logical form of the ST [source text] nor the recovery of any of its implicatures“ (ebd.: 341-342). Mit Bedeutungsmodifizierung scheint bei Murtisari nicht Hinzufügung und Weglassung gemeint zu sein wie bei Hansen-Schirra, Neumann und Steiner (2007), Becher (2010a, 2011) und Krüger (2013). Vielmehr scheint sie Bedeutungsmodifizierung als eine zusätzliche Kategorie zu betrachten, die sie, wie Hinzufügung und Weglassung, der Explizierung und Implizierung gegenüberstellt (im dritten Kapitel der vorliegenden Dissertation wird diese zusätzliche Kategorie als Substitution bezeichnet):

“Meaning modification can be defined as translation shifts in which the particular meaning of the TT [target text] is not immediately based on an obvious interpretation of the ST [source text], i.e. it is neither a development of the logical form of the ST nor the recovery of any of its implicatures. The TT

is instead modified by the translator for particular effects in the TT; for instance for stylistic reasons or cultural adaptations.” (Murtisari 2013: 341)

Während Bedeutungsmodifizierung zugunsten des Zieltextes oder des Zielpublikums angewandt und mithin als Ergebnis eines bewussten Denkprozesses der ÜbersetzerIn beschrieben wird, ist das bei Fehlübersetzung nicht der Fall:

“Mistranslation, on the other hand, refers to changes of meaning in the TT that are irrelevant to the purpose of the translation, being most often due to misinterpretation rather than the application of accurate knowledge by the translator.” (Murtisari 2013: 341)

Der Unterschied zwischen Bedeutungsmodifizierung und Fehlübersetzung liegt somit nicht unbedingt in deren Wirkung auf das Zielpublikum, sondern in den Beweggründen der ÜbersetzerIn. Hätte sie die Bedeutungsänderung im Text tatsächlich vor, so sei Bedeutungsmodifizierung gemeint; hätte sie die Bedeutungsänderung nicht vor, so liege eine Fehlübersetzung vor. In der vorliegenden Dissertation wird aber betont, dass aufgrund produktorientierter Studien keine prozessorientierten Aussagen gemacht werden können. Zwar kann Bedeutungsänderung beim Vergleich von Ausgangs- und Zieltext festgestellt werden, aber der vorangehende Prozess seitens der ÜbersetzerIn nicht. Mangels Aufschlüssen über den Denkprozess der ÜbersetzerIn bleibt die Entscheidung, ob eine Bedeutungsmodifikation oder eine Fehlübersetzung vorliegt, spekulativ.

Obwohl Murtisari die Relevanztheorie zu Recht als den geeignetsten theoretischen Rahmen für Explizierung und Implizierung in der Übersetzungswissenschaft betrachtet, bleibt doch festzuhalten, dass eine relevanztheoretische Neudefinition von Explizitheit und Implizitheit notwendig ist, bevor diese Kategorien für übersetzungswissenschaftliche Zwecke verwendbar sind. Eine solche Neudefinition wird im folgenden Kapitel vorgeschlagen.