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Kapitel 3 Ein relevanztheoretischer Ansatz

3.1 Theoretischer Rahmen

3.1.2 Der Verständnisprozess

Stellen wir uns folgende Situation vor: Eine Mutter und ihre Tochter wollen ins Kino gehen.

Die Tochter wohnt im ersten Stock eines Hochhauses neben dem Kino, aber die Türklingel ist kaputt. Mutter und Tochter haben vereinbart, dass die Mutter ihrer Tochter deswegen eine SMS schickt, sobald sie an der Straßenecke steht. Eine halbe Stunde vor Beginn des Films simst die Mutter ihrer Tochter (1). Die Tochter liest die SMS, verlässt die Wohnung und trifft ihre Mutter.

(1) Ich bin da.

Was zwischen dem Lesen der Textnachricht und der Entscheidung, die Wohnung zu verlassen, passiert, wird in der Relevanztheorie als der Verständnisprozess (comprehension process) bezeichnet. Der Verständnisprozess werde ausgelöst, sobald die Tochter eine Äußerung lese, der in einer Sprache verfasst sei, die sie ausreichend verstehe.

Allerdings sei das Lesen noch nicht Teil des Verständnisprozesses, sondern ein reiner Dekodierungsprozess (decoding process), bei dem ein Satz, der nur eine Kombination grafischer Symbole sei, als sprachlicher Stimulus fungiere, der dem inferentiellen Verständnisprozess vorangehe und ihm untergeordnet sei. Was enkodiert werde, sei nur ein Hinweis auf das, was gemeint sei (Sperber/Wilson 1995: 177).

Der eigentliche Verständnisprozess fange erst an, wenn die Tochter erkenne, dass ihre Mutter mit der Äußerung eine kommunikative Intention (communicative intention) verfolge, nämlich die Intention, ihrer Tochter etwas mitzuteilen, und zum Beispiel nicht etwa eine Notiz an sich selbst getippt und nur versehentlich an ihre Tochter abgeschickt habe. Sobald sie diese kommunikative Intention erkannt habe, ermittele die Tochter die informative Intention (informative intention) ihrer Mutter, d.h. das, was ihre Mutter versuche, deutlich zu machen. Dazu orientiere sich die Tochter am Relevanzprinzip: Sie gehe davon aus, dass die Äußerung der Mutter die relevanteste sei, die sie in dieser Situation machen könne, und entscheide, welche Annahmen von ihrer Mutter intendiert seien (ebd.: 178-179). Dazu arbeite die Tochter eine Reihe von Schritten ab (siehe Abbildung 1).

Zuerst identifiziere die Tochter die richtige, d.h. die von ihrer Mutter intendierte propositionale Form (propositional form). Zu diesem Zweck seien verschiedene Operationen wie Referenzzuschreibung (reference assignment), Disambiguierung (disambiguation) und Anreicherung (enrichment) erforderlich (ebd.: 179, 183-189): Die Tochter schreibe dem ‘ich‘ einen Referenten zu, hier ‘meine Mutter‘. Sie disambiguiere die mehrdeutigen Begriffe ‘bin‘ und ‘da‘ als ’stehe‘ bzw. ‘an der Straßenecke‘ und reichere die

Dekodierung

Weiterentwicklung

Aus dem Gedächtnis abgerufen oder aus den Explikaturen und dem Kontext abgeleitet

Abbildung 1 Rekonstruktion eines Beispiels verbaler Kommunikation aus relevanztheoretischer Perspektive

Äußerung

“Ich bin da.“ (SMS)

Logische Form

(Referenzzuschreibung) ich  meine Mutter (Disambiguierung) bin  stehe

(Disambiguierung) da  an der Straßenecke (Anreicherung) zeitlicher Aspekt  jetzt

Explikaturen

(propositionale Form) Meine Mutter steht jetzt an der Straßenecke.

(Satzmodus) Meine Mutter behauptet, dass sie jetzt an der Straßenecke steht.

(Attitüde) Meine Mutter glaubt, dass sie jetzt an der Straßenecke steht.

Implikaturen

(implikative Prämisse) Meine Mutter und ich wollen zusammen ins Kino gehen.

(implikative Prämisse) Meine Mutter hat versprochen, mir eine SMS zu schicken, sobald sie an der Straßenecke steht.

(implikative Schluss- Meine Mutter will, dass ich jetzt auf die Straße folgerung) gehe und mit ihr ins Kino gehe.

Äußerung an, indem sie sie zeitlich als ‘jetzt‘ situiere. Auf diese Weise identifiziere die Tochter die propositionale Form (2).

(2) Meine Mutter steht jetzt an der Straßenecke.

Sobald die propositionale Form identifiziert sei, bestimme die Tochter den Satzmodus (linguistic mood) der Äußerung sowie die Attitüde (attitude) der Mutter der Äußerung gegenüber (ebd.: 180-181). Im obigen Beispiel deuten Wortstellung und Zeichensetzung darauf hin, dass der Satzmodus deklarativ sei (und nicht etwa interrogativ) sowie dass die Aussage nicht trügerisch oder ironisch gemeint sei, sondern dass die Mutter glaube, was sie gerade geschrieben habe, nämlich dass sie in dem Moment an der Straßenecke stehe.

Die Identifikation der propositionalen Form, das Bestimmen des Satzmodus und der Haltung der Mutter der Äußerung gegenüber seien drei Schritte im Verständnis-prozess, die als die Weiterentwicklung einer logischen Form (development of a logical form) zusammengefasst werden können, d.h. als die Konstruktion einer Annahme, die auf der logischen Form der Äußerung basiere (ebd.:181). Annahmen, die in dieser Phase des Verständnisprozesses konstruiert werden, werden Explikaturen (explicatures) genannt.

Wenn die Explikaturen konstruiert seien, höre der Verständnisprozess noch nicht auf. Um zu verstehen, warum die Mutter der Tochter sage, wo sie in dem Moment sei, gehe die Tochter einen Schritt weiter, indem sie auch die Implikaturen (implicatures) rekonstruiere, d.h. die implikativen Prämissen (implicated premises) und implikativen Schlussfolgerungen (implicated conclusions), die die Äußerung ihrer Mutter für sie relevant machen. Die implikativen Prämissen werden von der Tochter geliefert, “who must either retrieve them from memory or construct them by developing assumption schemas retrieved from memory“ (ebd.: 195). Prämissen, die die Äußerung (3) für die Tochter relevant machen könnten, seien zum Beispiel (4) und (5). Aus diesen Prämissen leite die Tochter die implikative Schlussfolgerung (6) ab. Das Erreichen der implikativen Schlussfolgerung sei das Ende des Verständnisprozesses.

(3) Ich bin da.

(4) Meine Mutter und ich wollen zusammen ins Kino gehen.

(5) Meine Mutter hat versprochen, mir eine SMS zu schicken, sobald sie an der Straßenecke steht.

(6) Meine Mutter will, dass ich jetzt hinuntergehe und mit ihr ins Kino gehe.

Wie aus Abbildung 1 hervorgeht, gebe es zwei verschiedene Arten von Annahmen, zu denen eine Äußerung führen könne: Explikaturen und Implikaturen. Explikaturen seien Annahmen, die aus der logischen Form der Äußerung weiterentwickelt werden. Sie

werden explizit kommuniziert. Implikaturen seien Annahmen, die sich auf Informationen stützen, die aus dem Gedächtnis abgerufen oder aus den Explikaturen und dem Kontext abgeleitet werden. Sie werden implizit kommuniziert.

Was die relevanztheoretische Unterscheidung zwischen explizit und implizit so besonders mache, sei “that no assumption is simply decoded, and that the recovery of any assumption requires an element of inference [because every] explicature is a combination of linguistically encoded and contextually inferred conceptual features“ (ebd.: 182) (siehe Abbildung 2).

Abbildung 2 Von einer Äußerung hervorgerufene Annahmen