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Kapitel 1 Einführung zum theoretischen Teil

1.1 Explizierung und Implizierung

Seit über sechzig Jahren sind Explizierung (explicitation) und Implizierung (implicitation) Teil der Übersetzungswissenschaft. Nach der Ersterwähnung durch Vinay/Darbelnet in 1958 wurden Explizierung und Implizierung von verschiedenen Sprach- und ÜbersetzungswissenschaftlerInnen als interessanter Forschungsgegenstand präsentiert und untersucht. Explizierung und Implizierung brachten eine Vielzahl von Studien in den unterschiedlichsten Sprachen und Übersetzungskombinationen hervor. Somit entwickelten sie sich zu einem der zentralen Forschungsthemen der korpusbasierten Übersetzungswissenschaft.

Paradoxerweise aber hat die Aufmerksamkeit, die den Themen Explizierung und Implizierung in den vergangenen Jahrzehnten gewidmet worden ist, nicht in demselben Maße zu deren besserem Verständnis geführt. Im Gegenteil: Die Forschung über Explizierung und Implizierung ist so heterogen, dass es schwierig, wenn nicht unmöglich ist, ihre Ergebnisse zu vergleichen und zu schlüssigen Erkenntnissen über die Rolle von Explizierung und Implizierung beim Übersetzen und in der Übersetzungswissenschaft zu gelangen (vgl. Kamenická 2007: 45, Becher 2010b: 3-4, Murtisari 2013: 315, De Sutter/Lefer 2019: 5).

In der Tat gibt es fast so viel Definitionen wie Studien, so viel Interpretationen wie WissenschaftlerInnen, wie folgende Auflistung – ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben – illustriert: Vinay und Darbelnet (1958/1977) betrachteten Explizierung und Implizierung als Folgen lexikogrammatischer Unterschiede zwischen den beiden am Übersetzungsprozess beteiligten Sprachen. Nida (1964) erweiterte den Geltungsbereich beider Begriffe um was Klaudy (1998/2008) später als optionale und pragmatische Explizierung und Implizierung bezeichnete. Darauf verschwand Implizierung zwei Jahrzehnte lang von der übersetzungswissenschaftlichen Bühne, als Blum-Kulka (1986) ihre Explizierungshypothese formulierte, die besagt, dass Übersetzung immer eine

Zunahme der (kohäsiven) Explizitheit mit sich bringe. Diese übersetzungsinhärente Eigenschaft der Explizierung wurde durch Séguinot (1988) und Klaudy (1998/2008) fest in der Übersetzungswissenschaft verankert. Doch erst Baker (1993) öffnete der Forschung nach Explizierung Tür und Tor, als sie Korpora in die Übersetzungswissenschaft introduzierte und Explizierung als eines von mehreren möglichen Übersetzungsuniversalien annahm. Außerdem sei Explizierung nicht nur in Parallelkorpora, sondern auch in vergleichbaren Korpora zu entdecken – letzteres wurde aber später von Krüger (2014) bestritten. Pápai (2004) und Englund Dimitrova (2005) sahen die Möglichkeit, neben produktorientierter Forschung auch prozessorientierter Forschung nach Explizierung durchzuführen, obschon die Grenze zwischen beiden Methodologien sich nicht klar ziehen ließ. Erst 2005 trat Implizierung aus dem Schatten seines dann schon vielerforschten Pendants, als Klaudy und Károly (2005) die Asymmetriehypothese formulierten, die postuliert, dass Explizierung in der einen Übersetzungsrichtung nicht durch Implizierung in der anderen Übersetzungsrichtung ausgeglichen wird. Die Asymmetriehypothese wurde von Becher (2010a, 2011) neuen übersetzungswissenschaftlichen Einsichten angepasst und umformuliert.

Der offensichtliche Bedarf an andauernder Neudefinierung gibt schon an, wie komplex Explizierung und Implizierung sind. Darüber hinaus lässt er ein unterschwelliges Problem vermuten, dessen Annahme als Ausgangspunkt dieser Dissertation betrachtet werden kann. Es wird angenommen, dass Explizierung und Implizierung bisher nicht in ihrer ganzen Komplexität verstanden, ja nicht einmal für übersetzungswissenschaftliche Ziele befriedigend definiert worden sind. Im Allgemeinen werden Explizierung und Implizierung als etwas betrachtet, was in einem Text expliziter (oder weniger implizit) bzw.

impliziter (oder weniger explizit) als in einem anderen Text ist. Varianten dieser eher grob formulierten Definitionen, die die Begriffe explizit und implizit ohne Erklärung voraussetzen, finden sich in der gesamten übersetzungswissenschaftlichen Literatur (vgl.

Murtisari 2013: 315). Dies ist auf das Fehlen eines theoretisch fundierten Verständnisses von Explizitheit und Implizitheit zurückzuführen: Es bleibt unklar, was diese Begriffe genau beinhalten und worauf sie sich beziehen. Die in der Literatur formulierten Definitionen und Interpretationen von Explizierung und Implizierung sind dadurch, wie Krüger (2015) bemerkte, oft auffallend kreisförmig:

“the root morphemes explicit and implicit occur both in the definiendum and the definiens. Claiming, for example, that implicitation means making something implicit immediately begs the question as to what exactly is meant by some piece of information being implicit in the source/target language.“

(Krüger 2015: 222-223)

Die Begriffe Explizitheit und Implizitheit wurden meistens der individuellen Interpretation überlassen. Dadurch wurden Explizierung und Implizierung in der Übersetzungs-wissenschaft vor allem intuitiv interpretiert. Zu diesem intuitiven Ansatz trug außerdem bei, dass die Begriffe explizit und implizit und ihre Äquivalente in anderen Sprachen Teil der Alltagssprache sind. Deshalb haben die meisten Sprachbenutzer eine intuitive Vorstellung davon, was Explizitheit und Implizitheit bedeuten. Man vergleiche Beispiele (1) bis (4):

(1) Ich bin da.

(2) Ich stehe an der Ecke.

(3) Ich stehe jetzt an der Straßenecke.

(4) Ich stehe jetzt an der Straßenecke, wo wir uns treffen wollten.

Wenn sich (1) bis (4) auf denselben Sachverhalt beziehen, dann werden die meisten Sprecher des Deutschen intuitiv zustimmen, dass sich die Explizitheit der Situationsbeschreibung von (1) zu (4) erhöht (daher: Explizierung) und dass sich die Implizitheit der Situationsbeschreibung von (4) zu (1) erhöht (daher: Implizierung), und zwar auch ohne, dass sich die betreffenden Sprecher auf eine solide, theoriebasierte Definition von Explizitheit und Implizitheit verlassen. Weil sich auch viele ÜbersetzungswissenschaftlerInnen auf ein solches intuitives Verständnis von Explizitheit und Implizitheit stützten (vgl. Becher 2010b: 4-8, 2011: 20-76), sind die Definitionen und Interpretationen von Explizierung und Implizierung in der übersetzungswissenschaftlichen Literatur ebenso vage wie unterschiedlich.

Erst 2007 wurde mit der Studie von Hansen-Schirra, Neumann und Steiner (2007) den ernsthaften Versuch gemacht, Explizitheit und Implizitheit für übersetzungs-wissenschaftliche Ziele zu definieren und Explizierung und Implizierung somit eine solide theoretische Basis zu verschaffen. Sie fokussierten dabei auf lexikogrammatische Unterschiede zwischen Sprachen. Später folgten auch Becher (2010, 2011), Krüger (2013) und Murtisari (2013) mit Definitionen von Explizitheit und Implizitheit: Becher (2010, 2011) übernahm dabei Pyms (2005) Risikomodell, Krüger (2013) betrachtete Explizitheit und Implizitheit aus kognitiv-linguistischer Sicht und Murtisari (2013) wählte die Relevanztheorie (Sperber/Wilson 1986/1995) als theoretische Grundlage. Obwohl die Bedeutung dieser Versuche für das Verständnis von Explizierung und Implizierung nicht unterschätzt werden darf, können bestimmte Bedenken formuliert werden. Somit ist eine Neudefinierung von Explizitheit und Implizitheit für das Verständnis von Explizierung und Implizierung immer noch erforderlich.