• Aucun résultat trouvé

Kapitel 2 Explizierung und Implizierung in der Übersetzungswissenschaft

2.1 Eine metasprachliche Frage: Strategie, Taktik, Lösung

Ein allgemeines Problem der Übersetzungswissenschaft ist die terminologische Vagheit ihrer Kernbegriffe. In der noch jungen Geschichte der Disziplin haben verschiedene ÜbersetzungswissenschaftlerInnen ein und demselben Terminus verschiedene Inhalte oder umgekehrt ein und demselben Inhalt verschiedene Termini zugeordnet (Mayoral 2001: 67 in Marco 2007: 256, Chesterman 2005: 18, Gambier 2009: 63). Explizierung und Implizierung bilden dabei keine Ausnahme. Sie sind sogar Musterbeispiele dieses Problems: Sie sind sowohl als Prozess als auch als Ergebnis dieses Prozesses betrachtet worden und wurden entsprechend als Strategien (strategies), Taktiken (tactics), Techniken (techniques), Lösungen (solutions) und Verschiebungen (shifts) bezeichnet, deren Anwendung bewusst oder automatisch stattfinden könne.

Diese fehlende metasprachliche Eindeutigkeit erschwert den Vergleich von Forschungsergebnissen und die Kommunikation zwischen Übersetzungswissen-schaftlerInnen. Anhand umfangreicher Vergleiche übersetzungswissenschaftlicher Terminologien ist daher schon mehrmals versucht worden, die übersetzungs-wissenschaftliche Metasprache zu vereinheitlichen (vgl. Bardaji 2009), aber obwohl diese Versuche durchaus vielversprechend sind, ist eine eindeutige Terminologie bis heute ausgeblieben. Basierend auf Marco (2007: 257-258) werden dafür drei Gründe unterschieden:

(a) Disziplin- oder Schulzugehörigkeit: Metasprache ist oft an bestimmte Disziplinen oder Schulen gebunden;

(b) Sprache der Wissenschaftskommunikation: Wissenschaftliche Traditionen, die sich innerhalb eines Sprachraums entwickelt haben, entwickeln jeweils auch eine

eigene wissenschaftliche Terminologie; es stellt sich oft als schwer heraus, diese untereinander zu vereinheitlichen;

(c) Tätigkeitsbereich: ÜbersetzungswissenschaftlerInnen, ÜbersetzungsdozentInnen und ÜbersetzerInnen bevorzugen unterschiedlichen Jargon von fachspezifischer bis zu eher alltagsnaher Sprache.

Laut Marco wird eine einheitliche Terminologie aus den obengenannten Gründen vielleicht utopisch bleiben (Marco 2007: 258). Das dürfe allerdings kein Grund sein, Termini unkontrolliert durcheinander zu verwenden und frühere wissenschaftliche Beiträge zu deren Vereinheitlichung zu ignorieren (ebd.: 264). Weil im zweiten Teil dieser Dissertation eine produktorientierte Studie über Explizierung und Implizierung beschrieben wird, ist es das Ziel dieses Abschnitts, die metasprachliche Terminologie zu wählen, mit der in der Dissertation eindeutig über Explizierung, Implizierung und verwandte übersetzungswissenschaftliche Begriffe als Ergebnisse des Übersetzungs-prozesses geschrieben werden kann.

Chesterman (2005), Marco (2007) und Gambier (2009, 2010) machen je terminologische Vorschläge für bewusste oder automatische Entscheidungsprozesse auf Makro- oder Mikroebene, die dem endgültigen Zieltext vorangehen, sowie für das Ergebnis dieser Entscheidungsprozesse, die im Vergleich zwischen Ausgangs- und Zieltext beobachtet werden können. Im Folgenden werden diese Vorschläge miteinander verglichen (siehe Tabelle 1) und wird entschieden, welche Terminologie in dieser Dissertation verwendet wird.

Chesterman (2005) Marco (2007) Gambier (2009, 2010) Entscheidungsprozess

Entscheidungsprozesse shift / similarity technique /

solution-type solution

Tabelle 1 Terminologie von Chesterman (2005), Marco (2007) und Gambier (2009, 2010)

Der Vorschlag Chestermans (2005: 26) geht von vier Ebenen aus: der Ebene der Methode (method), der Strategie (strategy), der Technik (technique) und der Verschiebung (shift) / Ähnlichkeit (similarity).

(a) Methode: eine allgemeine, übergreifende Weise, wie übersetzt werde, in Abhängigkeit vom Übersetzungstyp (z.B. freies, wortgetreues, philosophisches Übersetzen)

(b) Strategie: kognitiver, bewusster Plan zur Lösung spezifischer Probleme im Laufe des Übersetzungsprozesses (z.B. Orientierung am Ausgangs- oder Zielpublikum, verfremdendes oder domestizierendes Übersetzen)

(c) Technik: routinemäßige, automatisierte sprachliche Vorgehensweise auf Textebene (z.B. Hinzufügen von Kohäsionsmitteln, Ersetzen von Nominal- durch Verbalstil)

(d) Verschiebung/Ähnlichkeit: Verschiebungen seien Ergebnisse einer Technik oder Strategie, die als Unterschied zwischen Ausgangs- und Zieltext beobachtbar seien und oft denselben Namen tragen wie die betreffende Technik. Parallel zu Verschiebungen gebe es auch Ähnlichkeiten zwischen Ausgangs- und Zieltext, d.h.

Fälle textueller Äquivalenz. Verschiebungen und Ähnlichkeiten können laut Zabalbeascoa (2000: 122) zusammenfassend als unterschiedliche Lösungstypen (solution-types) bezeichnet werden.

Allerdings sei der Unterschied zwischen bewussten Strategien und automatisierten Techniken nicht immer eindeutig, unter anderem weil ein Problem für die eine ÜbersetzerIn nicht unbedingt auch für eine andere ÜbersetzerIn ein Problem darstelle und weil bestimmte bewusste Vorgehensweisen im Laufe der Zeit Automatismen werden können (Chesterman 2005: 21-22).

Marco (2007: 262-263) sieht nur zwei Ebenen: Strategie (strategy) und Technik/Lösung (technique/solution-type).

(a) Strategie: kognitiver Weg, den die ÜbersetzerIn (bewusst oder automatisch) einschlage, um Probleme im Übersetzungsprozesses zu lösen

(b) Technik/Lösung: beobachtbares Verhältnis zwischen Ausgangs- und Zieltext; der Terminus Technik decke sowohl Verschiebungen als auch Ähnlichkeiten ab; der Terminus Lösung werde, wie Chesterman (2005) vorschlägt, am besten noch in Verschiebung und Ähnlichkeit aufgeteilt

Zwei Einwände sind denkbar. Erstens herrscht auf der Ergebnisebene eine terminologische Unentschlossenheit: Die Entscheidung, ob man Lösung, Verschiebung, Ähnlichkeit oder Technik sagt (wobei die einzelnen Termini in unterschiedlichem Maße Prozesse oder Produkte nahelegen), bleibt den individuellen Vorlieben überlassen. Zweitens fallen bei Marco die Entscheidungsprozesse auf Mikroebene aus der Terminologie heraus, was aus

Sicht übersetzungswissenschaftlicher Praxis unangemessen wirkt; genau diese Prozesse lassen sich ja mittels Computer-protokollierung, Eye-Tracking und gleichzeitiger oder nachfolgender Verbalisierung nachweisen (Englund Dimitrova 2005: 55-76, Jakobsen 2003: 69-71, 2006: 103-104, 2011: 37-41, Alves/Pagano/da Silva 2009: 269-270, Alves/Gonçalves/Szpak 2012: 9-16).

Gambier (2009: 78-79, 2010: 417) geht einen Mittelweg: Von militärischer Terminologie inspiriert, schlägt er die Begriffe Strategie (strategy), Taktik (tactic) und Lösung (solution) vor:

(a) Strategie: Entscheidung, die dem Verfassen des Zieltextes vorangehe, die in Abstimmung mit dem Kunden festgelegt werde und das Verhältnis zwischen Ausgangs- und Zieltext präge (z.B. verfremdend oder domestizierend übersetzen) (b) Taktik: Entscheidung, die die ÜbersetzerIn während des Übersetzens auf Text- und

Sprachebene fälle (z.B. Register, andere Informationsstruktur); die Grenze zwischen bewussten und automatischen Prozessen schwanke und sei schwer zu ziehen

(c) Lösung: Ergebnis des Entscheidungsprozesses, das im Vergleich von Ausgangs- und Zieltext als Unterschied oder Ähnlichkeit beobachtbar sei

Im Gegensatz zu Chesterman (2005: 26) unterscheidet Gambier also nicht zwischen bewussten und automatisierten Entscheidungsprozessen; im Gegensatz zu Marco (2007:

262-263) sieht er jedoch einen klaren Unterschied zwischen Entscheidungsprozessen auf Makro- und Mikroebene. Dadurch gelangt Gambier zu einer praxisnahen Dreiteilung zwischen dem, was dem Verfassen des Zieltextes vorangeht, dem, was während des Verfassens des Zieltextes stattfindet, und dem Endergebnis (vgl. Vermeer 2000).

Im Folgenden wird darum auf den Vorschlag von Gambier zurückgegriffen. Gemäß dem Ziel dieser Dissertation, eine produktorientierte, korpusbasierte Studie zu beschreiben und die Ergebnisebene in den Mittelpunkt zu rücken, werden Explizierung und Implizierung als beobachtbare Lösungen (der Deutlichkeit halber im Folgenden Übersetzungslösungen genannt) verstanden, insbesondere als Unterschiede zwischen Ausgangs- und Zieltext.

Es mag seltsam wirken, dass Explizierung und Implizierung hier als Ergebnis eines Vorganges betrachtet werden, da Wörter mit dem Suffix –ung in erster Linie Vorgänge bezeichnen, aber neue Termini der Diskussion über Explizierung und Implizierung hinzufügen, würde mehr Schaden als Nutzen bringen. Wichtiger ist, die geläufigen Begriffe zu definieren und abzugrenzen, um Klarheit darüber zu verschaffen, was konkret mit ihnen gemeint wird.