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Wirtschaftsethische Analyse

Dans le document Asile et abus = Asyl und Missbrauch : (Page 115-124)

construction et développement d’une nouvelle figure emblématique des

4 Wirtschaftsethische Analyse

Die Leitfrage dieses Beitrags lautet, wie sich die Unterscheidung zwischen legitimen Kriegsflüchtlingen und politisch Verfolgten einerseits und illegitimen

«Wirtschaftsflüchtlingen» andererseits aus wirtschaftsethischer Perspektive verhält. Da die sogenannte Wirtschaftsflucht in einer weit verbreiteten Sicht-weise ein Ausschlussgrund für die Aufnahmeberechtigung Schutzsuchender darstellt, ist davon auszugehen, dass dem Gegenstand der «Wirtschaft» im

Begriff Wirtschaftsflüchtling auch ein womöglich implizites normatives Wirtschafts- und Gesellschaftsverständnis zu Grunde liegt, das durch eine ganzheitliche Wirtschaftsethik auf Stichhaltigkeit und Universalisierbarkeit geprüft werden kann. Für eine solche Analyse wird auf den Ansatz der inte-grativen Wirtschaftsethik rekurriert.13

Eine integrative Wirtschaftsethik geht davon aus, dass die Grundlagen der Ökonomie und des zugrundeliegenden ökonomischen Denkens inhärent nicht-ökonomischer Art sind (vgl. Booms 2013). Herzstück dieses vom Wirt-schaftsethiker Peter Ulrich begründeten Ansatzes ist die sogenannte Ökono-mismuskritik, welche die normative Überhöhung wirtschaftlichen Denkens (Ökonomismus) und damit einhergehend die in zunehmend mehr und mehr Lebensbereiche vordringende Ökonomisierung der gesellschaftlichen Lebens-verhältnisse kritisiert.14 Die damit verbundene Verselbstständigung einer rein auf wirtschaftstechnische Gesichtspunkte reduzierten Gesellschaftsauffassung fusst nach Ansicht der integrativen Wirtschaftsethik auf einer Entkopplung der modernen ökonomischen Lehre und des «reinen» Wirtschaftens von der normativen Problematik der Bestimmung ganzheitlich vernünftiger Wertekri-terien wirtschaftlichen Handelns. Das Resultat ist ein letztlich selbstwider-sprüchliches Primat des Ökonomischen: “Instead of economy being embedded in social relations, social relations are embedded in the economic system”

(Polanyi 2012 [1944]: 60). Die vernunftbasierte und inhärent notwendige, bewusste Reintegration des wirtschaftlichen Denkens unter das Primat der

13 Es handelt sich hierbei um einen systematischen diskursethischen Ansatz im Feld der Wirtschaftsphilosophie, mit dem wirtschaftliche Aussagen auf ihre universelle Geltung hin überprüft werden können. Der historische Kontext ist für die wirt-schaftsethische Analyse zum besseren Verständnis des Gegenstandes von hoher Bedeutung. Allerdings lassen sich in einem derartigen systematischen Ansatz die eigentlichen Kriterien für eine normative Bewertung nicht aus einer kontingenten empirisch-historischen Begründungsperspektive wie z. B. der Politik, dem positiven Recht oder der vorfindlichen Moral herleiten. Hieraus würde stets ein Sein-Sollen-Fehlschluss resultieren. Es gilt stattdessen wirtschaftliche Aussagen wie die eingangs (vgl. Abschnitt 1) postulierte Illegitimität des Wirtschaftsflüchtlingsmissbrauchs-arguments mit diskurslogischen Instrumenten zu begründen, z. B. durch Nachweis eines performativen Selbstwiderspruchs (einer Form der reductio ad absurdum) der zu widerlegenden Gegenthese (vgl. Apel 2011). Die hier zu widerlegende Gegenthese der Legitimität des Wirtschaftsflüchtlingsmissbrauchsarguments lässt sich dabei weitergehend zergliedern. Diskurslogisch formuliert lässt sich diese Gegenthese auf folgende hier zu widerlegende Annahme zurückführen: «Wirtschaftsflüchtlinge sind nicht (oder zumindest weniger) legitim als Kriegsflüchtlinge oder politisch Verfolgte».

Asylpolitisch folgert aus dieser Annahme die Schlussfolgerung: «Wirtschaftsflüchtlinge sollten (eher) keinen Asylstatus erhalten».

14 Die folgenden Ausführungen beruhen im Wesentlichen auf den beiden Hauptwerken von Peter Ulrich (1993, 2008). Für Einführungen in die integrative Wirtschaftsethik siehe z. B. Ulrich (2015a, 2015b).

Ethik im Sinne einer aristotelischen Trias von Ethik, Politik und Ökonomie ist die zentrale Aufgabe einer integrativen Wirtschaftsethik.

Die spezifische Hypothese in der Sprache der integrativen Wirtschaft-sethik lautet nun, dass die Verselbstständigung des ökonomistischen Denkens in Zeiten einer auch real wirkmächtigen Ökonomisierung der Gesellschaft sich am Beispiel des politischen und rechtlichen Gebrauchs des Begriffs des Wirtschaftsflüchtlings materialisiert und zwar in all seiner Selbstwidersprüch-lichkeit. Dazu wird im Folgenden diskurslogisch dargelegt (vgl. Fussnote 13), dass «wirtschaftliche Sachverhalte» als normatives Kriterium zur Differenzie-rung zwischen legitimen und illegitimen Flüchtlingen im Hinblick auf die Illegitimierung von Flüchtlingen ungeeignet sind. Paradoxerweise würde die Eigenlogik des dem Konzept des Wirtschaftsflüchtlings zugrundeliegenden Ökonomismus den pejorativen Gebrauch dieses Terms zur Abschottung und Abgrenzung aus denklogischen Gründen sogar konterkarieren. Wer die (impli-ziten) normativen Vorannahmen hinter dem Begriff des Wirtschaftsflüchtlings tatsächlich ernst zu meinen versucht, muss aus Gründen innerer Kohärenz und damit zur Vermeidung von Selbstwidersprüchen für eine bedingungslose Öffnung der Grenzen sein.

Wie lässt sich eine derartige Schlussfolgerung herleiten? Es gilt hierfür die scheinbar selbstverständliche und in der Politik, im Recht (Abschnitte 1 und 2) und sogar in der Ethik (Abschnitt 3) zunehmend wirkmächtig gewor-dene Unterscheidung zwischen legitimer Flucht (Verfolgung und Krieg) und illegitimer Wirtschaftsflucht in ihren normativen Grundlagen zu entzaubern.

Ausgangspunkt der Analyse bildet also die elementarste Frage: Was soll ein

«Wirtschaftsflüchtling» eigentlich im Kern genau sein? Zur Beantwortung dieser Frage wird aus integrativ-wirtschaftsethischer Perspektive ein methodi-scher Standpunkt eingenommen, der den Begriff des Wirtschaftsflüchtlings in seinem eigenen Geltungsanspruch rekonstruiert und dadurch diskursethisch-normativ kritisiert.15

Dass Fliehende jeglicher Art, d. h. auch «Verfolgte» und «Kriegsflücht-linge», auch wirtschaften müssen, ist einleuchtend. Auf der immer auch aktiven Flucht werden z. B. Fortbewegungsmittel organisiert, Nahrungsmittel einge-teilt und Kommunikationsmittel verwaltet. All dies kann noch kein Grund sein, überhaupt irgendwelche pejorativen Differenzierungen anhand eines

«Wirtschaftskriteriums» vorzunehmen, denn alle Fliehenden sind zugleich auch wirtschaftende Wesen (obgleich in ihren Wahl- und

Handlungsmöglich-15 Selbstverständlich sind auch andere Rekonstruktionen des Begriffes möglich, z. B.

rechtshistorische, psychologische oder soziologische. Jedoch wird im hier eingenom-menen wirtschaftsethischen Standpunkt die aussichtsreichste Möglichkeit gesehen, einen kohärenten, letztgültigen Widerspruchsbeweis der Wirtschaftsflüchtlingsmiss-brauchsthese darzulegen (vgl. Fussnote 13).

keiten eingeschränkt). Der scheinbar delegitimierende Aspekt geht demnach tiefer: «Wirtschaftsflüchtlinge» würden nur aus «ökonomischen Motiven»

heraus «flüchten» und sich das Asylsystem zu Nutze machen, obwohl sie weder politisch, rechtlich noch moralisch ein Anrecht darauf hätten. Posi-tive Hilfspflichten wie die Aufnahmepflicht per Asylgesetz werden in dieser Sichtweise nur angenommen, wenn Menschen unverschuldet in Not geraten sind, z. B. durch kausal klar identifizierbare Einwirkungen und Schlechter-stellungen durch andere Personengruppen (z. B. autoritäre MachthaberInnen oder gewissenlose KriegstreiberInnen). Einer solchen, scheinbar legitimen Flucht liegt vorgängig die Attribution der vom Flüchtenden unverschuldet erfahrenen personal identifizierbaren Ungerechtigkeit zu Grunde.

Dies scheint nach gängiger Auffassung bei «Wirtschaftsflüchtlingen»

gerade nicht der Fall zu sein. Hier werden keine unmittelbaren positiven Hilfspflichten seitens der angesteuerten Staaten angenommen, denn es wird von der umgekehrten Attribution einer irgendwie selbst verschuldeten Problem-situation ausgegangen, welcher gar keine wirkliche Ungerechtigkeit zu Grunde liegt, oder zumindest keine, mit der die angesteuerten Länder irgendetwas zu tun hätten. Wie aber kommt eine solche spezifische Attribution genau zu Stande, welche die Abweisung von «Wirtschaftsflüchtlingen» legitimieren soll?

Aufklärung hierüber ergibt der methodische und damit implizit immer auch normative Blickwinkel auf den «Wirtschaftsflüchtling» unter der Annahme des Homo oeconomicus. Diese ökonomische Nutzenmaximierungs-perspektive auf das Sozialverhalten Flucht verweist auf eine viel tiefer sitzende, problematische ökonomistische Denkweise, die eng mit dem Bestreben ein-hergeht, den «Wirtschaftsflüchtling» tatsächlich auf ein rein ökonomisches Wesen zu reduzieren. Diese Reduktion legt der Begriffsname selbst bereits anschaulich dar. Ein solcher «Wirtschaftsflüchtling» verfolgt scheinbar nur sein oder ihr Eigeninteresse: Er oder sie möchte die eigenen Gewinne maximieren und dabei auf Stücke vom Kuchen zugreifen (z. B. Arbeit, Mindestlöhne, Sozialleistungen), auf welche nur die wahren Einheimischen Zugriffsrechte hätten. Diese einheimischen Eigentums- und GrenzverteidigerInnen hätten im Gegensatz zu den fremden «Wirtschaftsflüchtlingen» ja auch in die Ent-wicklung ihres eigenen Landes investiert; ein Abgeben eines Kuchenstückes an eine solche Person wäre demnach eine illegitime «Enteignung» (vgl. z. B.

Köllmann 2012: 246-247) und damit im eigentlichen Sinne ungerecht.

Stattdessen sollten sich die «Wirtschaftsflüchtlinge» ihre wirtschaftlichen Aufstiegschancen fair am «freien» Markt – interessanterweise ist aber primär nur der fremde Herkunftsmarkt gemeint – erarbeiten und verdienen. Dies hätten sie aber bisher offensichtlich nicht ausreichend getan, denn sonst würden sie ja nicht versuchen, das Asylsystem zu «missbrauchen» und als

fordernde «Wirtschaftsflüchtlinge» illegal vor der westlichen Haustür stehen (petitio principii!).

Eine solche ökonomistisch simplifizierte Analyse geht dann nicht selten mit der Feststellung einher, dass die wirksamste Massnahme zur Verhinderung von «Wirtschaftsflüchtlingen» die Verbesserung der Lebensbedingungen im Herkunftsland wäre (vgl. Abschnitt 2). Dies wird heutzutage in der Umsetzung meist als Gewährleistung des fairen Zugangs der entsprechenden Herkunfts-länder zum Weltmarkt verstanden. Genau hier kommt die immer bereits vorhandene normative Komponente eines solchen ökonomischen Redukti-onismus wieder ins Spiel. Dieser führt dazu, dass weite Teile des politischen Spektrums einerseits Freihandelsabkommen mit «Wirtschaftsflüchtlingsher-kunftsländern» zwar billigen, andererseits jedoch die Aufnahme von Personen aus eben jenen Ländern ablehnen. Es wird nicht in Erwägung gezogen, dass derartige, vermehrt marktbasierte globale Gesellschaftsstrukturen inhärent nicht-neutraler, asymmetrischer und damit ungerechter Art für die Betroffenen sein könnten und sogenannte Wirtschaftsflucht womöglich paradoxerweise nach eigener Massgabe erst induzieren würde. Stattdessen wird der Markt per definitionem «ethisch neutralisiert» (Ulrich 1993: 176). Die hoch abstrakte Denkfigur des Homo oeconomicus, durch deren Brille der «Wirtschaftsflücht-ling» in seinem scheinbar rein anreizgesteuerten Verhalten betrachtet wird, verweist also auf ein bestimmtes, nicht-integratives Wirtschaftsverständnis, das nicht nur weit über die Disziplingrenzen der Mainstream-Ökonomik hinaus extrem wirkmächtig geworden ist, sondern auch dazu führt, dass es gemeinhin als akzeptabel gilt, als einzige propagierte Lösung des «Wirtschafts-flüchtlingsproblems» das Mantra der scheinbar selbstregulierenden, neutralen und damit gewissermassen auch «freien» Märkte zuzulassen.

Das genuin ethische Problem in «wirtschaftlichen Sachverhalten»

als pejoratives Kriterium zur Differenzierung zwischen legitimen und ille-gitimen Flüchtlingen liegt in der unhinterfragten normativen Eigenlogik hinter dem Wirtschaftsverständnis im Begriff Wirtschaftsflüchtling. Diese Eigenlogik möchte in ihrer sich verselbstständigten Art (Ökonomismus) das erklären, was sie bereits voraussetzt, nämlich, dass das Marktverhalten in der wirtschaftlichen Sphäre auf unpersönlichen und für alle fairen Mechanismen beruht, innerhalb derer jede und jeder innerhalb des Marktes freiheitlich zu Wohlstand kommen könne, wenn sie oder er denn nur wirklich wolle, d. h.

sich genug anstrengen würde. Ein solches Wirtschaftssystem wird nämlich bereits in der vorherrschenden ökonomischen Grundlagentheoriebildung als eine sich selbst organisierende, dezentrale, spontane und abstrakte Ordnung von atomistisch gedachten AkteurInnen beschrieben (vgl. Hayek 1971: 38), die im Gegensatz zu politischen oder persönlichen Sozialverhältnissen eben nicht von hierarchischen Verhältnissen geprägt sei (vgl. Hayek 1971: 53–54). Die

scheinbar klar erkennbare Schlechterstellung Einzelner, wie sie bei Verfolgung und teils auch noch bei Kriegssituationen als attribuiertes Resultat von zentral gesteuerten und hierarchischen Persönlichkeitsbeziehungen angenommen wird, ist hier bereits a priori aus dem Gedankengebäude herauseliminiert:

Der von jeglichen gesamtheitlich-gesellschaftlichen Wechselverhältnissen als separat gedachte Markt wird per se als nicht-hierarchisch, symmetrisch-harmonisch und unpersönlich gesehen. Damit liegt auch der Glaube nahe, dass die real existierende (Welt-)Wirtschaft tatsächlich frei von hierarchischen Verhältnissen, verzerrenden Werten und dergleichen wäre. Ungerechtigkei-ten könnUngerechtigkei-ten in einer richtigen Marktsituation gar nicht vorkommen, denn diese sei ja im Idealfall wirklich neutral, da von persönlichkeitsbedingten, hierarchischen Verzerrungen wie z. B. gezielter Verfolgung verschont. Ein Scheitern auf dem realen Markt wird dann dem fehlenden Willen und Kön-nen der betreffenden AkteurInKön-nen selbst zugeschrieben. Dies ist der Kern des ökonomistischen Reduktionismus, der aus seinem zugrundeliegenden Weltbild annimmt, dass die von allen potentiell ungerechten persönlichen Wechselverhältnissen herausgelöste (Wirtschafts-)Welt auch wirklich so sei und der «Wirtschaftsflüchtling» aus «wirtschaftlichen» Gründen oder Motiven fliehen würde wegen ihres oder seines eigenen Verschuldens. Der neutrale, freie Markt und die sich neutral, d. h. objektiv nutzenmaximierend verhal-tenden anderen MarktakteurInnen könnten ja nichts dafür, d. h. könnten gar sicher nicht selber schuld sein. Persönlichkeitsbezogene Intentionen der MarktakteurInnen werden hier buchstäblich herausgedacht und damit die Quelle für eine Legitimierung des Flüchtlingsstatus qua Setzung eliminiert.

Allerdings erklärt und begründet ein solcher ökonomischer Reduktionismus, wie er dem Wirtschaftsflüchtlingskonzept innewohnt, bei näherem Hinsehen gar nichts. Stattdessen liegt der offenbarten normativen Überhöhung des delegitimierenden Kriteriums «Wirtschaftsflüchtling» nichts anderes als ein logischer Zirkelschluss zugrunde, der (scheinbar) ökonomische Sachverhalte aus (scheinbar) rein ökonomischen Bestimmungen heraus erklären möchte.

Eine ganzheitliche, integrative (Wirtschafts-)Ethik entzaubert nun die gängige Konzeptualisierung des Wirtschaftsflüchtlings und beraubt diese damit ihrer normativ-pejorativen Kraft.

Versuchen wir zur Veranschaulichung doch mal, den dem ökonomi-schen Standardmodell und damit dem Konzept des Wirtschaftsflüchtlings zugrundeliegenden marktlichen Moralgedanken vollends zur Geltung zu bringen und damit einer reductio ad absurdum zu unterziehen. Der Markt als Schauplatz freiwillig in kontraktualistisch gefassten, nutzenmaximieren-den Transaktionen zueinander tretennutzenmaximieren-den Menschen fungiert im Sinne von Adam Smith’s unsichtbarer Hand als der grosse, unparteiliche Harmonisa-tor von Privatinteressen und nutzenbasiertem Gemeinwohl. Indem in der

freien Marktwirtschaft Produzierende und Konsumierende ihrer Eigenliebe folgen, dienen sie ja gerade auch dem Wohlstand der Nationen (Smith 1979 [1784]: 26-27). Jegliche (!) Intervention in den Markt steht damit unter Legitimitätsvorbehalt, denn die freie Marktwirtschaft «gibt den Menschen das, was sie wollen, und nicht das, was ihnen eine bestimmte kleine Gruppe aufzwingen will. Hinter den meisten Argumenten gegen den freien Markt steckt der mangelnde Glaube in die Freiheit selbst» (Friedman 2006 [1962]:

38). Genau hier zeigt sich, dass die politischen und rechtlichen Vertrete-rInnen, die den Begriff des «Wirtschaftsflüchtlings» in delegitimierender Weise verwenden, scheinbar die normativen Grundlagen, auf welchen dieses Konzept fusst, dann eben doch nicht so ernst nehmen bzw. gar nicht ernst nehmen können. Mit anderen Worten: Sie leugnen ihren eigenen, bewusst oder unbewusst ökonomistisch reduzierten Freiheitsbegriff – und damit auch die «wahre» Freiheit und Neutralität des Marktwettbewerbs anhand ihrer eigenen Kriterien –, indem sie den Wirtschaftsflüchtlingsbegriff poli-tisch verwenden. Denn warum sollte «der Wirtschaftsflüchtling» nicht auch seinen oder ihren Eigeninteressen dienen dürfen, ja dies nicht gerade sogar sollen, um quasi nebenbei den Gesamtwohlstand zu vermehren?16 Eine hier in den Markt eingreifende politisch-rechtliche Grenzziehung, z. B. zum angeblichen Schutz der «eigenen Arbeitsplätze» – paradoxerweise staatlich-zentralistisch aufoktroyierend – erscheint dann nur auf den ersten Blick als partikularökonomisch sinnvoll, denn in Wahrheit verlieren langfristig alle, z. B. auch die einheimischen KonsumentInnen, die durch Grenzschranken geringeren Grenznutzen durch höhere Produktpreise als Folge ausgebliebener Reduktionen in den Lohnkosten der ProduzentInnen erdulden müssen (vgl.

z. B. Chang 1997: 1158).17

Der aus der fehlenden Bereitschaft, die eigene ökonomistische Logik stringent zu Ende zu denken, resultierende Widerspruch kommt noch ein-drücklicher zur Geltung, wenn man den Akt der «Wirtschaftsflucht» selbst

16 Anders formuliert: Warum sollte sich der Staat hier nicht nach Hayek (1971: 47, 51) zum Wohle aller aus dem Grenzregime heraushalten und warum sollten Wirt-schaftsflüchtlinge in Anlehnung an die Doktorin der sozialen Verträglichkeit der eigenen Profitmaximierung nicht gerade ihren eigenen Vorteil suchen (vgl. Friedman 1970)?

17 Chang (1997: 1238–1244) gelangt zu der innerhalb der utilitaristischen Marktlogik folgerichtigen Schlussfolgerung, dass tendenziell weniger Abschottung gegenüber Arbeitssuchenden sowohl auf (westlich-)nationalstaatlicher, als auch auf kosmopo-litischer Ebene ökonomisch effizient sei. Diese Schlussfolgerung mit Fokus auf die kosmopolitische Ebene wird aus utilitaristischen oder egalitaristischen Gründen auch in der Migrationsethik geteilt, z. B. in der Betonung der Wichtigkeit von Rimessen migrierter Personen für die ärmeren Herkunftsländer (vgl. Cheneval und Rochel 2012: 174; Rochel 2016: 102–104).

analysiert. Sowohl der kostenintensive, politisch getriebene «Kampf» gegen

«Schleusernetzwerke» als auch teure Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei (vgl. z. B. Kopp 2015: 13) sind demnach eigentlich nichts anderes als im mehrfachen Sinn wirtschaftsschädliche Einschränkungen in den idealerweise «freien» (Mobilitäts-)Markt von («Wirtschafts-»)Flüchtlingen.18 Diese erwerben mit der Passage in ein neues Land ja lediglich in freiwillig wechselseitigen vorteilssteigernden Transaktionen eine Dienstleistung. Die hier selbst bis weit hinein in selbst ernannte «liberale» politische Kräfte zur Schau getragene Billigung der sonst vehement abgelehnten rechtlichen Überregulierung und politisch-zentralistischen Steuerung eines Marktes, der die Menschen über unwirtschaftliche Grenzen befördert, ist ein unwirtschaft-licher, bürokratisch-entneutralisierender Eingriff in nutzenmaximierende Tauschhandlungen, etwaige Externalitäten ausgeklammert.19 Wer sich auf der einen Seite (auch implizit) die Neutralitätsthese des Marktes zu eigen gemacht hat, und dann aber die reine Verwirklichung von Neutralität durch politische und rechtliche Unterbindung des Marktes einschränkt (mit der Begründung «Wirtschaftsflüchtlinge» wären weniger legitim als «richtige Flüchtlinge»), muss sich sogar die kritische Frage gefallen lassen, ob er oder sie nicht sogar anhand der eigenen (!) Kriterien für das Verhindern einer friedfertigen, weltweiten freien Marktgesellschaft und das Befördern der Fluchtursachen verantwortbar zu machen wäre. Wer die impliziten norma-tiven und im tieferen Kern tautologischen Vorannahmen hinter dem Begriff des Wirtschaftsflüchtlings tatsächlich ernst zu meinen versucht, muss aus Gründen innerer Kohärenz und zur Vermeidung von Selbstwidersprüchen daher stets für eine bedingungslose Öffnung der Grenzen sein, um dem ethisch neutralen und effizienzmaximierenden freien Markt, der gleichzeitig auch machtasymmetrieabbauend wirken soll, universell zur Entfaltung zu bringen.

Dies wird im Übrigen auch von ökonomischen Modellberechnungen unter-mauert, die “worldwide efficiency gains from the elimination of restrictions on labour mobility” aufzeigen (Iregui 2005), die bis hin zu einem berechneten ökonomischen Mehrwert von 3,4 Billionen US-Dollar gehen (siehe Moses und Letnes 2005: 194).20

18 Eine ausführliche journalistische Darstellung der wirtschaftlich negativen Folgen der Kriminalisierung des ehemals legalen Mobilitätsmarktes für Flüchtlinge findet sich bei Carayol (2019) am Beispiel Agadez in Niger.

19 Das Externalitätenproblem in der Ökonomik lässt eine Vielzahl möglicher Gegen-argumente zur hier vorgebrachten Argumentation zu. Die wirtschaftstheoretisch und tiefergehend diskursethisch sowie wirtschaftsphilosophisch zu begründende Diskussion und Abwehr dieser Gegenargumente würde erheblich über den Rahmen dieses Beitrages hinausgehen.

20 Eine Übersicht über weitere ähnliche Studien findet sich bei Young (2014: 5–10).

Nun kann man durchaus versuchen, den normativen Aspekt des freien und neutralen Marktes hinter dem Konzept des «Wirtschaftsflüchtlings» zu relativieren und anführen, dass dies ja lediglich eine theoretische Anschauung und der Markt in der wirtschaftlichen Sphäre natürlich nicht absolut frei und neutral sei. In der Tat ist es ja gerade der Kern einer integrativen Wirtschafts-ethik die reale Unmöglichkeit des Zu-Ende-Bringens des verselbstständigten, theoretisch begründeten Ökonomismus aufzuzeigen. Sobald man jedoch final ein solches normatives Zugeständnis macht, das letztlich dann doch auf die inhärente soziale Einbettung und machtasymmetrische Natur des (markt-)wirt- schaftlichen Denkens verweist, verliert auch sofort die legitimierende Attri-bution der gerechten und neutralen Marktstrukturen, wie sie dem Konzept des Wirtschaftsflüchtlings vorausgeht, ihre normative Kraft. Dann ist das delegitimierende Argument der «wirtschaftlichen Gründe und Motive» Unsinn, denn das «wirtschaftende» Element im Begriff ist dann eben realiter doch nicht gerecht und neutral und damit nicht abzugrenzen von benachteiligten Kriegsflüchtlingen und politisch Verfolgten. Der Asylanspruch eines niemals nur auf Wirtschaft reduzierbaren Fliehenden wäre dann wie bei allen anderen als legitim geltenden Schutzsuchenden auch zu prüfen. Möchte man ein solches normatives Zugeständnis der Trennung zwischen idealer Theorie und realer Praxis jedoch nicht akzeptieren und weiterhin an der Neutralität von wahrer marktbasierter Wirtschaft in der realen Welt festhalten, so verkommt das Problem des «Wirtschaftsflüchtlings» kohärent zu Ende gedacht unweiger-lich zu einem Scheinproblem: Dass ein (wirtschaftender) Homo oeconomicus («Flüchtling») in marktförmiger Bewegung ist, liegt in der logischen Natur der Sache und wäre aus Gemeinwohlgründen zu befürworten, statt politisch zu delegitimieren. Man kann also letztlich nicht für beides einstehen, d. h.

explizit oder implizit die sich aus der Marktneutralitätsthese erst ergebende Begründungskraft hinter dem Konzept des Wirtschaftsflüchtlings befürworten und gleichzeitig für die die Neutralität und Wirtschaftsfreiheit gleichzeitig unterwandernde Abschottung gegenüber Wirtschaftsflüchtlingen eintreten, ohne sich in einem frappierenden Widerspruch zu verfangen.

Es liegt hier zusammenfassend ein Fall vor, der aufzeigt, dass aus dem ökonomistischen Denken heraus keine sinnvollen normativen Handlungskrite-rien hervorgebracht werden können, die sich gegen den (Wirtschaftsflüchtlings-) Markt wenden. Eine wirtschaftliche Reduktion des Wirtschaftsflüchtlings würde letzten Endes auch zu einer Aufhebung des politischen oder rechtli-chen Begriffs führen. Wer Wirtschaftsflüchtlinge denkt, muss auf kohärenter Weise auch offene Grenzen für WirtschaftsakteurInnen sagen. Gerade das real existierende Paradoxon der verbreiteten moralisch, politisch und rechtlich delegitimierenden Verwendung des Begriffes des Wirtschaftsflüchtlings unter Berufung auf wirtschaftliche Sachverhalte offenbart die normative Eigenlogik

(Ökonomismus) hinter dem Begriff als selbstwidersprüchlich. Der schluss-endlich protektionistische, auf nationalstaatliche Abschottung ausgelegte pejorative Gebrauch des Begriffs Wirtschaftsflüchtling ist damit ad absurdum geführt, da selbst wenn migrationsethisch irgendwelche Kriterien für Einwan-derungsobergrenzen bestimmt werden müssten – die nur von ausserhalb der ökonomistischen Eigenlogik stammen können –, ein normatives Kriterium der «wirtschaftlichen» Sachverhalte aufgrund seiner Selbstwidersprüchlichkeit

(Ökonomismus) hinter dem Begriff als selbstwidersprüchlich. Der schluss-endlich protektionistische, auf nationalstaatliche Abschottung ausgelegte pejorative Gebrauch des Begriffs Wirtschaftsflüchtling ist damit ad absurdum geführt, da selbst wenn migrationsethisch irgendwelche Kriterien für Einwan-derungsobergrenzen bestimmt werden müssten – die nur von ausserhalb der ökonomistischen Eigenlogik stammen können –, ein normatives Kriterium der «wirtschaftlichen» Sachverhalte aufgrund seiner Selbstwidersprüchlichkeit

Dans le document Asile et abus = Asyl und Missbrauch : (Page 115-124)