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Bürgernahe Gesundheitsversorgung in der Europäischen Region der WHO

Dans le document Der Europäische Gesundheitsbericht 2009 (Page 152-156)

Auch wenn bei der Verbesserung der Gesundheitssysteme eindeutige Erfolge erzielt werden konnten, kommt es immer wieder zu Engpässen bei der ärztlichen Primärversorgung (insbesondere in ländlichen Gebieten) und zu langen Wartezeiten. Außerdem werden die Patienten aufgefordert, steigende Beiträge für ein System zu leisten, das den Anforderungen nicht gewachsen zu sein scheint, da es einen großen Anteil seiner Ressourcen für spezielle Heilbehandlungen und nicht für Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung verwendet, obwohl die zuletzt genannten Bereiche die globale Krankheitslast um schätzungsweise 70% reduzieren könnten (38). Die steigenden Kosten der Versorgung sind angesichts der derzeitigen Weltwirtschaftslage besonders problematisch, da die Gefahr besteht, dass immer mehr Menschen den Zugang zur Versorgung verlieren.

Auch die primärversorgenden Ärzte haben mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Sie haben zu viele – häufig ältere – Patienten mit zunehmend komplexer chronischer Komorbidität und zu wenig Zeit, um sich ihnen angemessen widmen zu können. Zudem wächst der Verwaltungsaufwand und es ist ihnen nicht möglich, mit den neusten medizinischen Entwicklungen Schritt zu halten. Allgemein fehlt es den Ärzten an der notwendigen Zeit, um ihre Aufgaben zufrieden stellend zu erfüllen (46). Dies gilt für die gesamte Region.

Beispielsweise hat eine Untersuchung in Kirgisistan kürzlich gezeigt, dass sich umfangreiche Berichtspflichten negativ auf die Qualität der Versorgung auswirken, da auf diese Weise

Bürgernahe Primärversorgung Schwerpunkt: gesundheitliche Bedürfnisse dauerhafte persönliche Beziehung

umfassende, kontinuierliche und patientenorientierte Versorgung

Verantwortung für die Gesundheit aller Mitglieder der Gemeinschaft während ihres gesamten Lebens; Verantwortung für die Steuerung der Krankheitsdeterminanten

Die Menschen setzen sich in partnerschaftlicher Zusammenarbeit für ihre eigene Gesundheit und den Gesundheitszustand ihrer Gemeinschaft ein.

Programme zur Bekämpfung von Krankheiten Schwerpunkt: prioritäre Krankheiten

Beziehung auf Implementierung des Programms beschränkt Krankheitsbekämpfungsmaßnahmen am Programm ausgerichtet

Verantwortung für Krankheitsbekämpfungsziele innerhalb der Zielpopulation

Beziehung auf jeweilige punktuelle Konsultation beschränkt punktuelle Heilbehandlung

Verantwortung beschränkt auf wirksame und sichere Beratung des Patienten zum Zeitpunkt der Konsultation

Nutzer als Kunden für bestimmte Versorgungsleistungen

Tabelle 3.1: Unterschiede zwischen konventioneller Gesundheitsversorgung und bürgernaher Primärversorgung

Quelle: The world health report 2008. Primary health care – Now more than ever (38).

weniger Zeit für die Patienten verbleibt. An einem durchschnittlichen Arbeitstag verbringen Hausärzte nur 34% ihrer Zeit mit der unmittelbaren Versorgung der Patienten. Die übrige Zeit nehmen Aufzeichnungen und Berichte in Anspruch (47).

Die Organisation der ärztlichen Praxis bestimmt den strukturellen Zugang zum Gesundheitswesen und ist in den einzelnen Ländern höchst unterschiedlich ausgestaltet. Aus Tabelle 3.2 geht hervor, dass Hausärzte in Finnland und Schweden ihren Patienten mehr Zeit widmen können, als dies bei ihren Kollegen in den Niederlanden und im Vereinigten Königreich der Fall ist. Dennoch müssen Patienten in Finnland und Schweden anscheinend länger als in anderen Ländern auf einen Arzttermin warten. Die Arbeitsbelastung der Hausärzte ist ein weiterer Faktor, der sich auf den strukturellen Zugang und die Zufriedenheit der Patienten auswirkt. In Tabelle 3.2 wird die Arbeitsbelastung anhand der durchschnittlichen Zahl von Praxispatienten, telefonischen Beratungen und Hausbesuchen gemessen. Auch hier sind zwischen den einzelnen Ländern erhebliche Unterschiede festzustellen. In Deutschland und Ungarn arbeiten Hausärzte mehr als 10 Stunden pro Tag.

Die hohe Arbeitsbelastung, die in einigen Ländern festzustellen ist, könnte auch darauf hindeuten, dass in der primären Gesundheitsversorgung personelle Engpässe bestehen bzw. ein Rückgang der verfügbaren Arbeitskräfte zu verzeichnen ist. Beispielsweise ist in Deutschland der Anteil, den Hausärzte innerhalb der gesamten Ärzteschaft einnehmen, zwischen 1990 und 2007 um über 10% gesunken, während die Zahl der primärversorgenden

Deutschland

2006 wurde in Deutschland der Versuch unternommen, die Funktion des Hausarztes als primärer Ansprechpartner in gesundheitlichen Belan-gen zu stärken. Traditionell handelt es sich bei den Hausärzten um selbständige Ärzte, die überwieBelan-gend in Einzelpraxen arbeiten und mit Fach-ärzten um Patienten konkurrieren. Das Krankenkassensystem bietet den versicherten Bürgern an, freiwillig Hausarztverträge abzuschließen.

Die versicherte Person meldet sich bei einem Hausarzt ihrer Wahl an und verpflichtet sich, stets zuerst diesen Hausarzt zu konsultieren, bevor sie sich an einen Facharzt wendet. Versicherte, die einen solchen Vertrag abschließen und sich an die Bedingungen halten, werden von der Pra-xisgebühr in Höhe von 10 € befreit, die andernfalls pro Quartal zu entrichten ist.

Bis Mai 2007 hatten sich 5,3 Mio. Versicherte für ein solches Hausarztmodell entschieden und einen entsprechenden Vertrag abgeschlossen.

Dabei handelte es sich überwiegend um ältere oder chronisch kranke Versicherte. Eine Evaluierung hat ergeben, dass 90% der bei einem Haus-arzt registrierten Patienten der Auffassung waren, dass sich die Versorgung nach ihrem Beitritt zum HausHaus-arztmodell nicht geändert habe (44).

Kirgisistan

Die primäre Gesundheitsversorgung war einer der Eckpunkte der 1996 eingeleiteten Reform des Gesundheitssektors. Deren Hauptmerkmale waren die organisatorische und finanzielle Trennung von primärer Gesundheitsversorgung und Krankenhausversorgung und die Einrichtung neuer gemeinschaftlich betriebener Familienpraxen, die den organisatorischen Mittelpunkt der primären Gesundheitsversorgung bilden.

Neben Pflegekräften und Hebammen wurde diesen Familienpraxen jeweils mindestens ein Arzt (Hausarzt) zugeteilt. Dieser teamorientierte Ansatz wurde auf allen Dienstleistungsebenen eingeführt. Zuvor mussten sich die Patienten bei einem Hausarzt ihrer Wahl anmelden und die einzelnen Gemeinschaftspraxen hatten bis zu 2000 Personen zu betreuen. Die neuen Hausärzte sind somit die primären Ansprechpartner, die den Zugang zur sekundären und tertiären Versorgung eröffnen.

Im Rahmen der Reorganisation der Leistungserbringung wurden in einer zweiten Stufe herkömmliche Polikliniken zu übergreifenden Polikli-niken für Männer und Frauen zusammengeschlossen, und ab 2002 wurden die PolikliPolikli-niken erneut umstrukturiert und in Zentren für Familien-medizin umbenannt. Sie bieten nun eine Kombination aus primären und sekundären ambulanten Versorgungsleistungen an, die von der all-gemeinen Gesundheitsversorgung bis hin zu fachärztlichen Versorgung und Diagnose ein breites Spektrum abdecken. Auf diese Weise soll die Zahl der Fachärzte in den genannten Zentren schrittweise abgebaut werden.

Evaluationen haben ergeben, dass inzwischen eine Verlagerung von der sekundären zur primären Gesundheitsversorgung erfolgt ist. Parallel zum erweiterten Angebot und der besseren Reichweite der primären Gesundheitsversorgung ist festzustellen, dass die Zahl der Überweisun-gen und der überflüssiÜberweisun-gen KrankenhauseinweisunÜberweisun-gen gesunken ist (45).

Fallbeispiel 3.1.: Ziele der Reformierung der Primärversorgung in Deutschland und Kirgisistan

Ärzte in Frankreich in etwa auf demselben hohem Niveau blieb (Abb. 3.1). In Finnland, das in Europa im Bereich der primären Gesundheitsversorgung eine Spitzenposition einnimmt, verringerte sich die Zahl der primärversorgenden Ärzte zwischen 2000 und 2005 um 25%.

Hierfür wurden folgende Ursachen verantwortlich gemacht: weniger Möglichkeiten für Hausärzte, ihre eigene Arbeit zu steuern und zu gestalten; weniger fachliche Anreize in Form von Unterstützung durch Kollegen; Aufteilung von Bereitschaftsdiensten; begrenzte

Hausbesuche

Tabelle 3.2: Arbeitsbelastung und Organisation von Primärversorgungspraxen in ausgewählten Ländern

a Zugrunde gelegt wurden Daten aus dem Jahr 1993.

b Vom Hausarzt gemeldete Tage zwischen Terminvereinbarung und Konsultation im Hinblick auf nicht akute Fälle.

n. v.: nicht verfügbar.

Quelle: Europäische Datenbank „Gesundheit für alle“ (9).

Abb. 3.1: Prozentualer Anteil der Hausärzte an der Gesamtzahl der Ärzte in ausgewählten europäischen Ländern (1990–2007)

Möglichkeiten für Forschung und Weiterbildung verglichen mit den in den Krankenhäusern beschäftigten Fachärzten (48). Auch das Honorar, das im Vergleich zu den Niederlanden und dem Vereinigten Königreich relativ niedrig ist, hat dazu geführt, dass finnische Hausärzte der primären Gesundheitsversorgung kritisch gegenüberstehen (49).

In Mittel­ und Osteuropa sowie in Zentralasien ist die Personaldecke in der primären Gesundheitsversorgung völlig anders ausgestaltet als in Westeuropa und die Ressourcen sind deutlich begrenzter. Dennoch haben auch diese Länder bei der Einrichtung von Gesundheitssystemen, die den Menschen stärker in den Vordergrund stellen, grundsätzlich mit demselben Problem zu kämpfen: Die personellen Ressourcen in der primären Gesundheitsversorgung sind knapp. In Kirgisistan, Litauen und Slowenien ist die Zahl der primärversorgenden Ärzte seit 1990 gestiegen, doch verglichen mit der Zahl der Ärzte, die in anderen Sektoren arbeiten, ist ihr Prozentsatz mit 12–20% immer noch relativ gering (Abb.

3.1). In Ländern wie Kroatien und Slowenien besteht das zusätzliche Problem, dass viele Hausärzte in den Ruhestand getreten sind bzw. bald das Rentenalter erreichen werden und die nachrückende Generation noch nicht in der Lage ist, ihre Vorgänger zu ersetzen (50).

Während derartige Informationen zu personellen Engpässen in der primären Gesundheitsversorgung unproblematisch beschafft werden können, sind andere Faktoren, z.

B. Koordination und Integration, schwieriger nachzuweisen. Es fehlt an festen Indikatoren und Daten bzw. werden diese von Land zu Land unterschiedlich verwendet. Primäre Gesundheitsversorgung findet in keinem geschlossenen und steuerbaren Umfeld statt, wie dies z. B. in einem Krankenhaus der Fall ist, und daher lassen sich Informationen über bestehende Versorgungslücken bisweilen nur mithilfe von Proxy­Indikatoren auf der Grundlage von Erhebungen gewinnen.

Die Türkei hat eine umfassende Reform der familienmedizinischen Primärversorgung eingeleitet. Eine später in zwei Provinzen durchgeführte Untersuchung ihrer Auswirkungen (Tabelle 3.3) ergab unter anderem, dass nicht alle Hausärzte jeden Patiententermin Tabelle 3.3: Verfügbarkeit und Verwendung der als Grundvoraussetzung für Kontinuität und integrierte Versorgung geltenden klinischen Informationen anhand von durch Hausärzte aus zwei türkischen Provinzen gemeldeten Daten

Quelle: Kringos et al. (51).

Bolu (N = 37) Eskişehir (N = 41)

Positionen

Aufzeichnung von Patientendaten Immer

mit Einschränkungen

Klassifikation der Patienten nach Diagnose oder Gesundheitsrisiko Unproblematisch

mit Schwierigkeiten verbunden sehr schwierig oder unmöglich

Verwendung von Überweisungsformularen für alle oder die Mehrheit der Überweisungspatienten Benachrichtigung durch Facharzt nach Behandlung

Regelmäßig weniger als 50% der Fälle selten oder nie

Erhalt eines Entlassungsscheins nach Hospitalisierung innerhalb von 30 Tagen

selten oder nie

N % N %

13 35 20 49

24 65 21 51

10 28 11 27

14 39 14 34

12 33 16 39

20 56 5 12

1 3 1 2

8 22 5 12

28 75 35 86

3 8 4 10

30 81 30 73

routinemäßig dokumentierten. Dies wäre jedoch eine Voraussetzung für informationelle Kontinuität. Seit 2005 jedoch werden alle Patientenbesuche routinemäßig ärztlich dokumentiert, und seit Mai 2009 werden sämtliche Aufzeichnungen elektronisch an das Gesundheitsministerium übermittelt. Dies wäre jedoch eine Voraussetzung für informationelle Kontinuität. Die meisten Hausärzte hatten auch Schwierigkeiten, ihre Patienten nach Diagnoseergebnissen oder Gesundheitsrisiken zu klassifizieren. Ohne eine solche Einordnung ist es allerdings nicht möglich, die Patientenstruktur der Praxen zu analysieren und sinnvolle Behandlungspläne für Einzelpersonen oder Bevölkerungsgruppen zu erstellen.

Für eine koordinierte und integrierte Versorgung müssen entsprechende Daten verfügbar sein. Auch wenn es nicht ungewöhnlich ist, dass die Koordination sowie die Schnittstellen zwischen primärer, sekundärer und tertiärer Gesundheitsversorgung in der Übergangsphase Schwachpunkte aufweisen (die Türkei ist hier nur eines von vielen Beispielen), scheinen die Patienten die Anstrengungen der Regierungen für eine bürgernahe Gesundheitsversorgung anzuerkennen. In der Studie erklärten ca. 95% der befragten Patienten aus den beiden türkischen Provinzen, sie seien mit der Behandlung durch ihren Hausarzt zufrieden. (51)

Erfolgreiche Strategien für eine bürgernahe Versorgung: Beispiele aus der

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