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Academic year: 2022

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Texte intégral

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Abstrakt

In diesem Aufsatz werden Hans Magnus Enzensbergers Selbstdarstellungen als Publizist rekonstruiert, indem einige seiner wesentlichen Stellungnahmen über die Funk- tion des literarischen Journalismus innerhalb der deutschen Öffentlichkeit anhand zweier Sorten von Materialien analysiert werden: Einerseits werden kontextuelle Materialien herangezogen, wie z. B. die Programme der von ihm gegründeten Zeitschriften, die für deren Ankündigung gegebenen Interviews, oder auch die Überlegungen des Autors über die aus seiner Sicht wichtigsten literarischen und publizistischen Textgattungen. Ande- rerseits erfolgt die Rekonstruktion anhand einiger rhetorischen, d. h. textinternen diskur- siven Elemente. Insbesondere werden Passagen mit metajournalistischen Überlegungen aus Enzensberger Schriften herausgelöst und als Momente der Annahme eines bestimm- ten Ethos, und somit auch als Momente der Selbstdarstellung des Autors, gedeutet.

Abstract

The present contribution reconstructs Hans Magnus Enzensberger’s self-depic- tion as a publicist. We analysed some of his most significant public statements about literary journalism in Germany by means of two sources. On the one hand, we consul- ted contextual material, i.e. the programs of the periodicals he founded, interviews given at this occasion, as well as reflections of the author about the according to him most important literary and publicist genres. On the other hand, we based our recons- truction on rhetorical, i.e. discursive, text-inherent elements. We focused our analysis on sections from Enzensberger’s writings, which contain meta-journalistic reflections and construed them as moments in the adoption of a certain ethos, and thus also as moments in the author’s self-presentation.

Sara M

amprin

Ein Nomade Im Regal

Hans Magnus Enzensbergers Selbstrepräsentation zwischen Literatur, Journalism und den „Unkosten der Pressefreiheit ”

Um diesen Artikel zu zietieren :

Sarah MaMprin: Ein Nomade im Regal. Hans Magnus Enzensbergers Selbstre- präsentation zwischen Literatur, Journalism und den „Unkosten der Pressfreihiet”.

In: Interférences littéraires/Literaire interferenties, nouvelle série, n° 6, „Postures

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Geneviève Fabry (UCL) Anke gilleir (KULeuven) Gian Paolo giudiccetti (UCL) Agnès guiderdoni (FNRS – UCL) Ortwin de graeF (Kuleuven) Jan HerMan (KULeuven) Marie HoldswortH (UCL) Guido latré (UCL) Nadia lie (KULeuven)

Michel lisse (FNRS – UCL)

Anneleen MasscHelein (FWO – KULeuven) Christophe Meurée (FNRS – UCL)

Reine Meylaerts (KULeuven) Olivier odaert (UCL)

Stéphanie vanasten (FNRS – UCL) Bart vanden boscHe (KULeuven) Marc van vaecK (KULeuven) Pieter Verstraeten (KULeuven)

Olivier aMMour-Mayeur (Monash University) Ingo berensMeyer (Universität Giessen)

Lars bernaerts (Universiteit Gent & Vrije Universiteit Brussel)

Faith bincKes (Worcester College, Oxford) Philiep bossier (Rijksuniversiteit Groningen) Franca bruera (Università di Torino)

Àlvaro ceballos viro (Université de Liège) Christian cHelebourg (Université de Nancy II) Edoardo costadura (Université de Rennes II) Nicola creigHton (Queen’s University Belfast) William M. decKer (Oklahoma State University) Michel delville (Université de Liège)

César doMinguez (Universidad de Santiago de Compostella & King’s College)

Gillis dorleijn (Rijksuniversiteit Groningen)

Ute HeidMann (Université de Lausanne)

Klaus H. KieFer (Ludwig-Maxilimians-Universität München)

Michael KolHauer (Université de Savoie) Isabelle KrzywKowsKi (Université de Grenoble) Sofiane lagHouati (Musée Royal de Mariemont) François lecercle (Paris IV - Sorbonne) Ilse logie (Universiteit Gent)

Marc MauFort (Université Libre de Bruxelles) Isabelle Meuret (Université Libre de Bruxelles) Christina Morin (Queen’s University Belfast) Miguel norbartubarri (Universiteit Antwerpen) Andréa oberHuber (Université de Montréal) Jan oosterHolt (Universiteit Oldenburg) Maïté snauwaert (Université d’Alberta)

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David Martens (KULeuven & UCL) – Rédacteur en chef - Hoofdredacteur

Matthieu sergier (FNRS – UCL & Factultés Universitaires Saint-Louis) – Secrétaire de rédaction Laurence van nuijs (FWO – KULeuven) – Redactiesecretaris

Elke d’HoKer (KULeuven)

Lieven d’Hulst (KULeuven – Kortrijk) Hubert roland (FNRS – UCL)

Myriam wattHee-delMotte (FNRS – UCL)

Interférences littéraires / Literaire interferenties KULeuven – Faculteit Letteren Blijde-Inkomststraat 21 – Bus 3331

B 3000 Leuven (Belgium)

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Herr Keuner begegnete Herrn Wirr, dem Kämpfer gegen die Zeitungen.

Ich bin ein großer Gegner der Zeitungen, sagte Herr Wirr, ich will keine Zeitungen.

Herr Keuner sagte: Ich bin ein größerer Gegner der Zeitungen, ich will andere Zeitungen.1

Risiko-Spieler, poeta doctus, angry young man. Luftmensch oder Besserwisser, Fortschrittler oder Reaktionär, ideologischer oder unvoreingenommener Intellek- tueller; und noch dazu naturwissenschaftliche Metaphern wie Chamäleon,2 reptilar- tiges Geschöpf,3 seismographische Sensibilität:4 dies sind nur einige der zahlreichen Versuche, Hans Magnus Enzensbergers Persönlichkeit zu definieren. Wegen seiner Äußerungen wurde er ebenso oft bewundert wie scharf kritisiert. Bis heute werden seine verlegerischen Initiativen in der Öffentlichkeit oft durch aufgeregte Polemi- ken empfangen. In seiner intellektuellen Laufbahn sind die großen Debatten der europäischen Intelligenz der Nachkriegszeit und die umstrittensten intellektuellen Kontroversen Deutschlands zusammengefasst.

Hans Magnus Enzensberger war auch schon sehr früh ein Zeitungsgegner im Brecht’schen Sinne und griff nicht nur in einigen seiner bissigsten Essays eta- blierte westdeutsche Presseorgane wie den Spiegel, die Bild-Zeitung oder die Frank- furter Allgemeine Zeitung an.5 Bereits in den 50er und 60er Jahren wollte er mit seinen oft provokanten Thesen zur Etablierung einer deutschen Gegenöffentlichkeit bei- tragen. Man nahm ihn als einen Autor wahr, der als Theoretiker und Kulturkritiker

1. Bertolt brecHt: „Geschichten von Herrn Keuner“. In: Prosa III. Sammlungen und Dialoge, hrsg. v. Werner HecHt, Jan KnopF, Werner Mittenzwei, K.-D. Müller, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1995, S. 30.

2. Martin Kane: „Chasing the Chamaleon. With Hans Magnus Enzensberger Into the 1970s and Beyond”. In: Keith bullivant (Hrsg.), After the „Dead of Literature“. West German Writing of the 1970s, Oxford: Berg, 1989, S. 227-45.

3. In Lars Gustafssons Roman Herr Gustafsson persönlich (zit. in Jörg lau: Hans Magnus Enzens- berger: ein öffentliches Leben, Berlin: Suhrkamp, 1999, S. 282).

4. In Reinhold griMM: „Bildnis Hans Magnus Enzensberger. Struktur, Ideologie und Vorge- schichte eines Gesellschaftskritikers“. In: griMM (Hrsg.), Hans Magnus Enzensberger, Frankfurt a. M.:

Suhrkamp, 1984, S. 178.

5. Vgl. Hans Magnus enzensberger: „Die Sprache des Spiegel“ [1957] und „Journalismus als Eiertanz“ [1962]. In: Einzelheiten I. Bewußtseins-Industrie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1964, S. 18–105;

ders.: „Der Triumph der Bild-Zeitung, oder die Katastrophe der Pressefreiheit“ [1983]. In: Mittelmaß und Wahn: gesammelte Zerstreuungen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988, S. 74–88.

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wie auch als Autor und Medienunternehmer die publizistischen Möglichkeiten der Medien äußerst kritisch begleitete. Das Fernsehen, der Rundfunk, das Kino oder auch das Internet kommen dennoch nur marginal vor. Seine bedeutendsten Arbei- ten müssen in der Lyrik und Publizistik verortet werden.

Enzensberger schreibt nicht nur seit mehr als 50 Jahren regelmäßig für die deutsche und internationale Presse, er hat auch selbst Zeitschriften gegründet und jahrelang geleitet. Das berühmteste Organ ist sicherlich das Kursbuch; außerdem hat er zusammen mit Gaston Salvatore TransAtlantik (1980–1982) gegründet und an anderen Zeitschriftenprojekten teilgenommen, so z. B. an der „internationa- len“ Zeitschrift Gulliver (1960–1961)6 und am italienischen Magazin Tempo Illustrato (1983–1985)7. Obwohl nicht alle so erfolgreich wie das Kursbuch waren, dokumen- tiert seine Hingabe zu mehreren Zeitschriftenprojekten zwischen den 60er und 80er Jahren seine Erwartungen in Bezug auf den literarischen Journalismus: Die Li- teratur hätte aus ihren Anleihen beim Journalismus weitaus größere Vorteile ziehen können, wenn sie es sich zur Aufgabe gemacht hätte, die gesellschaftliche demokra- tisierende Funktion, die sie laut Enzensberger in der ersten Hälfte des 19. Jahrhun- derts einbüßte,8 neu zu überdenken. Enzensbergers Überlegungen zum Verhältnis von Literatur und Journalismus sollen daher in diesem Beitrag beleuchtet werden, indem die Entwicklung seines Selbstverständnisses und seiner Selbstrepräsenta- tion als Publizist vom Anfang seiner Karriere bis zum Ende des 20. Jahrhunderts rekonstruiert wird.

Kann nach Jérôme Meizoz die Gesamtheit der Selbstdarstellungen eines Schriftstellers innerhalb des literarischen Feldes in dem Begriff posture9 zusammen- gefasst werden, so muss deren doppelte Dimension in Betracht gezogen werden, die sowohl aus rhetorischen, d. h. textinternen, als auch aus handlungsbezogenen („actionnelle“ ), d. h. kontextuellen Elementen besteht:10

Pour moi, cette notion [posture] a une double dimension, en prise sur l’histoire et le langage: simultanément elle se donne comme une conduite et un discours.

C’est d’une part la présentation de soi, les conduites publiques en situation lit- téraire (prix, discours, banquets, entretiens en public etc.); d’autre part, l’image de soi donnée dans et par le discours, ce que la rhétorique nomme l’ethos.11

Im Folgenden werden daher Enzensbergers Selbstdarstellungen als Publizist rekonstruiert, indem einige seiner wesentlichen Stellungnahmen über die Funktion des literarischen Journalismus innerhalb der deutschen Öffentlichkeit anhand zweier Sorten von Materialien analysiert werden: Einerseits werden kontextuelle Materia- lien herangezogen, wie z. B. die Programme der von ihm gegründeten Zeitschrif- ten, die für deren Ankündigung gegebenen Interviews, oder auch die Überlegungen

6. Vgl. Anna panicali (Hrsg.): Gulliver. Progetto di una rivista internazionale, Mailand: Marcos y marcos, 2003.

7. Alfonso berardinelli: „Ein Italiener“. In: Du 9/1999, S. 8-11.

8. Vgl. Enzensbergers Stellungnahme über das Thema „Tod“ in der Literatur in „Gemein- Vgl. Enzensbergers Stellungnahme über das Thema „Tod“ in der Literatur in „Gemein- plätze, die Neueste Literatur betreffend“. In: Kursbuch 15/1968, S. 187–197; zit. nach enzensberger: Palaver. Politische Überlegungen (1967–1973), Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1974, S. 41–54.

9. Meizoz definiert den Begriff „posture d’auteur“ als „l’ensemble de ses auto-figurations dans le champ littéraire“. Jérôme Meizoz: Postures littéraires. Mises en scène modernes de l’auteur, Genève : Slatkine, 2007, S. 45.

10. Ebd., S. 17.

11. Ebd., S. 21. Ebd., S. 21.

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des Autors über die aus seiner Sicht wichtigsten literarischen und publizistischen Textgattungen. Andererseits erfolgt die Rekonstruktion anhand einiger rhetoris- chen, d. h. textinternen diskursiven Elemente. Insbesondere werden Passagen mit metajournalistischen Überlegungen aus Enzensberger Schriften herausgelöst und als Momente der Annahme eines bestimmten Ethos, und somit auch als Momente der Selbstdarstellung des Autors, gedeutet. Es handelt sich hauptsächlich um publi- zistische Schriften, da Enzensberger dazu neigt, sich dieses Teils des literarischen Feldes, insbesondere der Essayistik, als „Multiplikator des gewünschten Bilds seiner selbst“ zu bedienen, wie Markus Joch hervorhebt.12

Außerdem erfolgt meine Analyse erstens ex negativo, d.h. auf der Grundlage von Enzensbergers zahlreichen, meist unsystematischen pressekritischen Äußerun- gen über den Zustand des deutschen Journalismus seit den fünfziger Jahren bis in die Gegenwart; zweitens werden als konstruktiver Gegensatz seine Zeitschrif- tenprogramme als konkrete Zeugnisse der Hoffnungen Enzensbergers auf einen literarischen Journalismus untersucht.

Enzensberger vermeidet explizite Selbstdarstellungsformen als Autor inne- rhalb seiner Texte. Autobiographische Passagen sind sowohl in seiner Lyrik, als auch in anderen Schriften kaum zu finden. Sein lyrisches und sein essayistisches

„Ich“ sind beide tendenziell flüchtige und zweideutige rhetorische Gerüste.13 Im Gegensatz dazu liebt es Enzensberger, der poeta doctus der zeitgenössischen deuts- chen Literatur schlechthin, sich mit der literarischen Tradition auseinanderzusetzen, in der er seine intellektuellen Wurzeln wiedererkennt. Demzufolge scheint es ange- messen, die intellektuellen Muster in Betracht zu ziehen, die Enzensberger selbst im Laufe seiner Überlegungen über den literarischen Journalismus heraufbeschwört, mal um sich ein Beispiel daran zu nehmen, mal um sich davon zu distanzieren.

Dank solcher Verweise innerhalb des vergangenen und gegenwärtigen literarischen Feldes kann die Entwicklung von Enzensbergers posture als Publizist am genauesten rekonstruiert werden.

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Enzensberger äußerte sich erstmals über die Presse in zwei seiner berühmtes- ten Essays, in Die Sprache des »Spiegel« (1957) und in Journalismus als Eiertanz (1962).

Beide Arbeiten entstanden als Rundfunkessays und wurden später in die Essay- Sammlung Einzelheiten I. Bewußtseins-Industrie aufgenommen. Der Rahmenbegriff der ,Bewusstseins-Industrie‘ erklärt den Ausgangspunkt seiner Pressekritik: En- zensberger will das Konzept der Kulturindustrie14 radikaler, zugleich aber auch op- timistischer weiterdenken. Er schließt sich Adornos und Horkheimers Theorie über die Industrialisierung der Kulturproduktion und die ideologische Manipulationen der Verbraucher an; er will aber noch einen Schritt weitergehen, indem er behaup-

12. Markus Markus jocH: „Anreger und Aufreger. Wie Hans Magnus Enzensberger überrascht und in welchen Medien“. In: Markus jocH, York-Gothart Mix, Norbert Ch. wolF: Mediale Erregungen? Auto- nomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kulturbetrieb der Gegenwart, Tübingen: Niemeyer, 2009, S. 92.

13. Vgl. M Vgl. Matthias uecKer: Marketing the self: Hans Magnus Enzensberger’s rhetorical strategies. In: Arthur williaMs (Hrsg.): Literature, markets and media in Germany and Austria today, Bern: Peter Lang, 2000, S. 53-69.

14. Vgl. Theodor W. adorno, Max HorKHeiMer: „Kulturindustrie“. In: Dia- lektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, hrsg. v. Rolf tiedeMann, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1981, S. 141–192.

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tet, dass nicht nur die Kulturproduktion, sondern auch das gesamte menschliche Bewusstsein den Industrialisierungsprozessen unterworfen ist. Gesellschaftlicher Pessimismus sei dennoch nicht zwingend, denn das Bewusstsein könne ja nicht industriell „produziert“, sondern nur „reproduziert“ werden. Die Ideen, von denen die Bewusstseins-Industrie sich ernähre, werden nur im „Dialog des einzelnen mit den andern“15 hervorgebracht, d. h. von frei denkenden Menschen. Und hier liege der fruchtbare Anknüpfungspunkt, den der Intellektuelle gezielt und verantwort- lich ausnutzen müsse, indem er sich selbst die Mittel und Medien dieser Industrie zunutze macht. Eine Alternative hat er nicht, es sei denn, er will durch die Kulturin- dustrie instrumentalisiert werden:

Er [der Intellektuelle] sieht sich neuen Gefahren und neuen Möglichkeiten ausgesetzt. Er hat mit Bestechungs- und Erpressungsversuchen neuer und subtiler Art zu rechnen. Freiwillig oder unfreiwillig, bewußt oder unbewußt, wird er zum Komplizen einer Industrie, deren Los von ihm abhängt wie er von dem ihren, und deren heutiger Auftrag, die Zementierung der etablierten Herrschaft, mit dem seinen unvereinbar ist. Wie er sich auch verhält, er setzt auf dieses Spiel nicht nur, was ihm gehört.16

Aus diesem Zitat, das durchaus der Hoffnung auf die demokratisierende Funktion der Medien Ausdruck verleiht, ist zu folgern, dass Enzensberger in den 50er und 60er Jahren zwischen Adornos und Horkheimers Medienpessimismus und Brechts und Benjamins zuversichtlicherem Blick in Bezug auf die Funktion und die Mö- glichkeiten von Massenmedien schwebt, wie die Literaturwissenschaft schon oft hervorgehoben hat. 17 Anhand Enzensbergers Spiegel-Kritik ist es aber möglich zu belegen, dass er sich damals auch mit anderen als deutschen intellektuellen Mustern identifizierte.

Während er in Journalismus als Eiertanz hauptsächlich eine kompromisslose Kritik an der FAZ, die mit der Bonner Regierung zu freundlich umgehe, formu- liert und auf manipulierte Nachrichten verweist, sieht er im Spiegel bessere Voraus- setzungen für guten literarischen Journalismus; die Zeitschrift wage es immerhin, das politische System und die politischen Autoritäten öffentlich zu attackieren.

Letztlich sei aber auch diese Form der Kritik nur eine Pseudokritik, die in der Öffentlichkeit keine entscheidende Wirkung hinterlasse. Das liegt nach Enzensber- ger vor allem an der von der Redaktion gewählten Sprache sowie an den Textsorten, d.h. an literarischen Ausdrucksmitteln. Die Sprache des Spiegel sei eigentlich ein klischeehafter „Jargon“, der im Gegensatz zur literarischen Sprache nicht kreativ aus dem behandelten Gegenstand herausgearbeitet werde. Somit unterscheide sich dann letztlich die Sprache des Spiegel nicht von den Regeln der Bewusstseins-Indus- trie. Dieser ,Jargon‘ werde losgelöst und unabhängig vom einzelnen Autor, vom politischen Standpunkt oder gesellschaftlichen Kontext gewählt und beruhe auf einem festen rhetorischen Gerüst. Selbstgefälliger, nicht zu anspruchsvoller Humor und eine Terminologie à la page sollen den Geschmack der zu offener Gesellschafts-

15. enzensberger: Einzelheiten I (Anm. 5), S. 8.

16. Ebd., S. 17.

17. Das Verhältnis Enzensbergers in den 50er und 60er Jahren zu Adorno einerseits und zu Das Verhältnis Enzensbergers in den 50er und 60er Jahren zu Adorno einerseits und zu Benjamins und Brechts Medientheorien andererseits wurde schon untersucht. Vgl. Alasdair King: Hans Magnus Enzensberger. Writing, Media, Democracy, Oxford u. a.: Peter Lang, 2007, S. 27–61; Chri- stian HauptMann: Medientheoretische Konzepte und Strategien im Werk von Hans Magnus Enzensberger, Ann Arbor, Michigan: University Microfilm International, 1999, S. 206 ff.

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kritik ohnehin unfähigen Leser treffen. Anders als die literarische Sprache, die auf die schöpferische Erkundung der Wirklichkeit abzielt,18 bezweckt der Spiegel-Jar- gon keine Aufklärung oder gar kritische Aktivierung des Lesers, sondern nur die

„Pointe“, also eine kurzfristige Wirkung auf das Lesepublikum. Eine Verflachung jedes Themas sei dessen unmittelbare Folge.

Im selben Aufsatz arbeitet Enzensberger auch die Kriterien für eine unter dem Lesepublikum sehr erfolgreiche Textgattung, die Story, heraus, die, wie der Spiegel-Jargon, allerdings weit entfernt von einem seriösen Journalismus sei. Be- ruhen Nachrichten vorwiegend auf objektiv berichteten Tatsachen, die den Leser kritische und orientierungsfähige Impulse geben sollten, so begnüge sich die Sto- ry mit einem Amüsement des Lesers, den sie vor allem emotional anzusprechen versucht. Um dieser Wirkung wegen betten die Journalisten die Tatsachen in eine Erzählung ein, die über einen Anfang, ein Ende und einen Helden verfügt.19 Um die Nachrichten an das Story-Format anzupassen, zerlegt die Redaktion zunächst die Fakten und setzt sie dann in eine atomisierte Version der Tatsachen wieder zusammen. Was dem Leser als harmlose und spontane Erzählung erscheint, ist im Grunde eine raffinierte und oft hinterlistige Version der ursprünglichen Fakten.

Enzensberger kritisiert ein solches Narrativierungsverfahren, das eher dem Verfah- ren eines Romanschriftstellers als dem eines Journalisten ähnelt:

Die Story ist eine degenerierte epische Form; sie fingiert Handlung, Zusam- menhang, ästhetische Kontinuität. Dementsprechend muß sich ihr Verfasser als Erzähler aufführen, als allgegenwärtiger Dämon, dem nichts verborgen bleibt und der jederzeit, wie nur je ein Cervantes ins Herz des Don Quijote, ins Herz seiner Helden blicken kann. Während aber Don Quijote von Cer- vantes abhängt, ist der Journalist der Wirklichkeit ausgeliefert. Deshalb ist sein Verfahren im Grunde unredlich.20

Enzensberger kritisiert die Einführung der Story als Textgattung nicht nur in jour- nalistischen, sondern auch in populärwissenschaftlichen Texten: In dem Aufsatz Muss Wissenschaft Abrakadabra sein? (1969) äußert er sich ähnlich über die Qualität der deutschen populärwissenschaftlichen Literatur und spitzt die Debatte zu, indem er behauptet, dass diese Branche für den Durchschnittsleser aufgrund unpassender Narrativierung wissenschaftlicher Themen grob und nutzlos sei, anders als in den angelsächsischen Ländern. Am Beispiel eines Sachbuchs von C. W. Ceram schreibt er:

Das Interesse an dem romanhaften Aspekt, der hier hervorgekehrt wird, lenkt den Leser vom Kern der Sache ab. Nach welchem Prinzip ist das Material, das der Autor mit so viel Fleiß und Gründlichkeit gesammelt hat, organisiert? Die 18. So lautete noch 1979 das So lautete noch 1979 das TransAtlantik-Programm. Vgl. H.M. enzensberger und G. sal-

vatore: Konzept einer Zeitschrift für das westliche Deutschland, München 1979. Dieses unveröffentlichte Dokument wie auch der Werbeprospekt für TransAtlantik (München 1979) werden nach der in der Diplomarbeit von Daniela Winkler reproduzierten Version zitiert (Literarischer Journalismus. Ein Por- trät der Zeitschrift „TransAtlantik“, FU Berlin: Institut für Publizistik, 1998), die mir freundlicherweise Prof. Erhard Schütz zur Verfügung gestellt hat.

19. Die Dichotomie zwischen „objektiv“ berichteten Tatsachen und einer „Story“, die En- Die Dichotomie zwischen „objektiv“ berichteten Tatsachen und einer „Story“, die En- zensbergers Spiegel-Kritik zugrunde liegt, hat einige Jahre später Hayden wHite widerlegt (vgl. Tropics of Discourse: Essays in Cultural Criticism, Baltimore: Johns Hopkins University Press, 1978; dt.: Auch Klio dichtet, oder die Fiktion des Faktischen: Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, Stuttgart: Klett- Cotta, 1991, S. 145–160).

20. enzensberger: Einzelheiten I (Anm. 5), S. 89.

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Wissenschaft organisiert ihr Material methodisch, unser Text organisiert es nach dem Prinzip einer Abenteuerstory. Diese beiden Arten, den Stoff zu glie- dern, schließen sich aber letzten Endes aus. Seine Elemente lassen sich entwe- der in einer Kette von Zweifel und Beweis, von Voraussetzung und Folgerung, oder in einer Abfolge romanhafter Episoden anordnen. Beides zugleich ist nicht möglich.21

Was hier in Bezug auf Enzensbergers posture bedeutend ist, ist seine Ablehnung des „romanhaften Aspekts“ der Story: wer sich gesellschaftskritisch äußert, wer das Lesepublikum über Ketten „von Zweifel und Beweis, von Voraussetzung und Fol- gerung“ aufklären will, muss sich vom Habitus des Erzählers fernhalten und eher den des Wissenschaftlers annehmen. Das muss aber nicht um einer vermutlichen Sachlichkeit willen geschehen – woran Enzensberger seit jeher zweifelt22 – sondern um den Standpunkt des Autors wirksamer zu machen. Wer den Überzeugungen des Spiegel nachgehen wollte, würde sich letztendlich verspottet fühlen. Er würde auf einander widersprechende Stories stoßen, die aber alle gleich unterhaltsam und voll Anspielungen auf die angebliche Unabhängigkeit der Zeitschrift seien. Die Story und die Sprache des Spiegel bewirken daher keine politische Stellungnahme, denn die Zeitschrift hat keine politische Überzeugung. Aber „wer nicht bereit ist, Stellung zu beziehen (und eben dies ist dem Spiegel-Schreiber verwehrt), der schränkt seine Kritik von vornherein auf bloße Taktik ein“.23 Insofern sei die Spiegel-Kritik nur Pseudo-Kritik: wer keinen Standpunkt hat, kann auch kein klares Ziel haben und es ist ihm unmöglich, das Existierende zu kritisieren. Er sei den jeweiligen taktischen Erfordernissen der deutschen Öffentlichkeit ausgeliefert, und seine Kritik ohne Perspektive ist blind. Da aber der „taktische Realismus“ des Spiegel nicht in der Lage sei, radikale Fragestellungen zu entwerfen, verdächtigt Enzensberger die Redaktion der Zeitschrift, eine inquisitorische und verleumderische Haltung gegen diejenigen Intellektuellen anzunehmen, die wirklich radikaler Stellungnahmen fähig sind, und diese Haltung hinter ironischen und gönnerhaften Tönen zu verhehlen. Um seinen Vorwurf präziser zu konturieren, veranschaulicht er ihn am Beispiel eines Angriffs, den der Spiegel 1956 gegen Jean Paul Sartre richtete. Enzensberger vergleicht von ei- nem rhetorischen Standpunkt aus zwei Spiegel-Essays über den französischen Den- ker. Während ihn 1949 der erste Essay noch hoch lobte, kritisiert ihn der zweite, der in Dezember 1956, wenige Monate nach dem ungarischen Volksaufstand, erschien, ziemlich scharf. Enzensberger will beweisen, dass der Spiegel 1956 Sartre nicht etwa kritisiert, weil der Philosoph seine Meinungen geändert hat, sondern weil der poli- tische Kontext in Europa ständig wechselt, und da der Spiegel eben diesem Kontext ausgeliefert sei und keinen eigenen Standpunkt habe, greife er diejenigen an, die klarer Stellungnahmen fähig sind, um die eigene Standpunktlosigkeit nicht gestehen zu müssen.

Die Sprache des »Spiegel« wurde in den ersten Monaten des Jahres 1957 verfasst, gleich nach dem Spiegel-Angriff gegen Sartre. Die Rundfunksendung erfolgte im Februar 1957 und der Essay erschien im Spiegel vom 6. März 1957. Diesem Streitfall

21. Ebd. Ebd.

22. Vgl. Vgl. enzensberger: „Interview mit Ursula Reinhold“. In: Weimarer Beiträge 5/1971, S. 71- 91. („Der ganze Begriff des Dokumentarischen hängt ja von dem der Echtheit ab, und über dessen Destruktion hat Benjamin alles Nötige bereits gesagt. [...] Diese ganzen Kategorien von Fiktion und Nichtfiktion, von echt und unecht, von dokumentarisch und erfunden halte ich alle für außerordent- lich fragwürdig“).

23. enzensberger: Einzelheiten I (Anm. 5), S. 91.

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widmet Enzensberger auch den Aufsatz Sartre im trüben »Spiegel«24 in «Texte und Zeichen». Das bestärkt den Eindruck, dass 1957 Sartre kein beliebiges Beispiel ist, wie andere im Spiegel-Essay erwähnte Intellektuelle. Die Querele zwischen Sartre und dem Spiegel ist der eigentliche Auslöser von Enzensbergers Spiegel-Kritik. In den 50er Jahren ist Enzensberger von Sartres Denken stark beeinflusst,25 und mit seinem Spiegel-Essay positioniert er sich als „furchtloser“26 Intellektueller näher am französischen Philosophen, der ihm als Inbegriff des westlichen radikal engagier- ten Intellektuellen gilt, als am Kulturpessimisten Adorno oder an Brecht, der sich in die DDR zurückgezogen hat.

Nicht nur die Story wird von Enzensberger als „degenerierte epische Form“

innerhalb des Journalismus verurteilt. Auch mit der Textgattung der Rezension setzt er sich auseinander, weil er sie für ebenso „inquisitorisch“ hält. Zu Beginn seiner Laufbahn schrieb Enzensberger noch literarische Rezensionen, im Spiegel etwa verfasste er zwischen 1962 und 1963 monatlich eine Literaturkolumne. Ab 1965 aber, dem Jahr der Kursbuch-Gründung, verfasste er keine Rezensionen mehr27 und verbannte zugleich die Besprechungen aus seinen Zeitschriften. Im Kern richtet sich Enzensbergers Ablehnung der Rezension als publizistisches Genre gegen die Zunft der Literaturkritiker. Hinter dieser Haltung, die in zahlrei- chen Essays unterstrichen wird,28 steckt einerseits sein Wunsch nach Abgrenzung von der deutschen Intelligenz, vielleicht auch als Form der Selbstverteidigung gegenüber den Vorwürfen, die seit den 80er Jahren von mehreren Literaturkri- tikern gegen seine intellektuelle Sprunghaftigkeit erhoben wurden.29 Ein weitaus wichtigerer Beweggrund scheint allerdings in der Tatsache zu liegen, dass Enzens- berger bereits relativ früh eine Abneigung gegen Rezensionen entwickelte. Die Chancen für eine demokratisierende Funktion von Literatur hatte diese publizis- tische Textgattung – so seine mehrfach belegte Überzeugung – zwischen dem 19.

Jahrhundert und der Weimarer Republik. Schriftsteller äußerten sich damals über die literarischen Arbeiten anderer Schriftsteller, meist ausführlich im Essay und nicht in der kümmerlichen Form heute üblicher Besprechungen, und sie taten dies unabhängig vom Verlagsmarkt und von der Werbung. Heutzutage habe die Rezension diese Funktion weitgehend verloren; sie sei ein reines Instrument des Verlagsmarktes und eine peinliche Arena für die Machtkämpfe der Intelligenz, der sich Enzensberger entziehen will:30

24. enzensberger: „Sartre im trüben Spiegel“. In: Texte und Zeichen, 12/1957, S. 199-204.

25. Vgl. Helmut Vgl. Helmut peitscH: „Publizistische Transformationen der Utopie bei Hans Magnus Enzensberger“. In: Rolf jucKer (Hrsg.): Zeitgenössische Utopieentwürfe in Literatur und Gesellschaft: Zur Kontroverse seit den achtziger Jahren, Amsterdam: Rodopi, 1997, S. 239-71.

26. jocH (Anm. 12), S. 92.

27. Einzige Ausnahme ist eine 1978 verfasste Rezension des Buches Alexander Kluges Einzige Ausnahme ist eine 1978 verfasste Rezension des Buches Alexander Kluges Neue Geschichten. Vgl. enzensberger: „Ein herzloser Schriftsteller“. In: Der Spiegel, 11/1978.

28. Vgl. Vgl. enzensberger: „Der Kritiker als Denunziant. Über die Polemik als Menschenjagd“.

In: Die Zeit, 18.11.1983; ders.: „Boulevardinquisition. Tendenzen der Literaturkritik“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22/27.1.2004, S. 33; ders: „Rezensenten-Dämmerung“ [1986]. In: Mittelmaß (Anm.

5), S. 53–60.

29. Dies ist die von Markus Joch vorgeschlagene Deutung von Enzensbergers intellektuellem Dies ist die von Markus Joch vorgeschlagene Deutung von Enzensbergers intellektuellem Habitus in der Spiegel-Querele; vgl. jocH: „Gaining Positions of Distinctions: On Enzensberger’s Provocations“. In: Gerhard FiscHer (Hrsg.): Debating Enzensberger. Great Migration and Civil War, Tü- bingen: Stauffenburg, 1996, S. 13–30.

30. Das Echo von Habermas’ Das Echo von Habermas’ Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962) ist hier offensichtlich, obwohl Enzensberger ihn nie explizit zitiert; dazu vgl. King (Anm. 17), S. 152–56, lau (Anm. 3), S. 148.

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Dass der Kritiker in diesem altertümlichen Sinn keine Rolle mehr spielt, liegt auf der Hand. […] Er ist von der gesellschaftlichen Bühne abgetreten, weil er nicht mehr gebraucht wird; weil die Literatur, von der er sprach, ihrerseits ihre übergreifende Bedeutung eingebüßt hat. Die Literatur ist frei, aber sie kann die Verfassung des Ganzen weder legitimieren noch in Frage stellen; […]

Unter diesen Umständen läuft die Militanz des klassischen Kritikers leer; […]

seine Autorität wird nicht einmal mehr angefochten, sie erweist sich schlicht als überflüssig.31

Enzensbergers Ablehnung der Rezension und die kargen Hinweise auf seine Über- legungen zum Zustand der Literaturkritik in Deutschland sollen erklären, dass er, wenn er seine eigenen Zeitschriften als „Literaturzeitschriften“ bezeichnet, damit auf keinen Fall Organe im Sinne hat, in denen ausschließlich oder hauptsächlich li- terarische Themen behandelt werden. Er meint im Gegenteil Zeitschriften, die sich mit anderen, nicht literarischen Themen auseinandersetzen. Eine nicht selbstrefe- rentielle Literatur, die in der Lage ist, die Welt zu beobachten und zu erzählen und die sich des Formats der Zeitschrift bedient, um sich rechtzeitig in die wichtigeren Debatten einschalten und ein breiteres Publikum erreichen zu können.

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eitsChriftenkonzept für eine WestdeutsChe journalistisChe

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Wenn Stories, Rezensionen und kritische Kommentare Enzensbergers Erwar- tungen nicht erfüllen, welche Textgattungen sind dann noch in der Lage, seine Idee des literarischen Journalismus umzusetzen? Eine Betrachtung seiner Zeitschrif- tenprogramme kann vielleicht Aufschluss darüber geben, wobei Enzensbergers Pressekritik aus den 50er und 60er Jahren ex negativo als Ausgangspunkt für das Kursbuch-Programm betrachtet werden sollte.

Schon 1965 mit der Ankündigung von Kursbuch beansprucht Enzensberger als Verleger ein Recht, von dem er immer häufiger auch als Schriftsteller Gebrauch machen wird: das Recht nämlich, politisch und ideologisch unverbindlich zu sein, und seiner intellektuellen Beweglichkeit zugunsten des Lesepublikums nachgehen zu können. Wie ein echtes Kursbuch wollte seine 1965 gegründete Zeitschrift we- der politische Lösungen finden noch ideologische Richtungen anzeigen, sondern begnügte sich damit, möglichst viele intellektuelle Verbindungen und Anschlüsse aufzuzeigen, ohne einen bestimmten Weg je zu Ende zu gehen:

Ankündigung einer neuen Zeitschrift: Absicht. Kursbücher schreiben keine Richtungen vor. Sie geben Verbindungen an, und sie gelten solange wie diese Verbindungen. So versteht die Zeitschrift ihre Aktualität.32

Diese programmatische, politische und ideologische Unbestimmtheit hat bekannt- lich vielseitige Kritik erregt.33 Die von Enzensberger erwünschte „Aktualität“ der Zeitschrift bringt ihn der journalistischen Tätigkeit näher und entfernt ihn zugleich

31. enzensberger: Mittelmaß (Anm. 5), S. 55 ff.

32. enzensberger: „Ankündigung einer neuen Zeitschrift“. In: Kursbuch, Bd. I/Kursbuch 1-10.

1965-1967 [Reprint bei Zweitausendeins], S. 2.

33. Vgl. Dieter E. Vgl. Dieter E. ziMMer: „Enzensbergers Kursbuch“. In: Die Zeit, 02.07.1965; und Enzens- bergers Antwort: „Nachträge zum Kursbuch. Enzensbergers Antwort auf einen Zeit-Artikel – und eine Antwort auf die Antwort“. In: Die Zeit, 23.07.1965.

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von ihr: er will auf keinen Fall mit der Massenpresse auf dem Gebiet des hektischen journalistischen Tempos konkurrieren, sondern zielt auf „langfristige Aktualität“ in einem aufklärerischen Sinn ab. Nach der Kursbuch-Rezeption in den 60er und 70er Jahren, galt Kursbuch als der bürgerlichen Literatur Schrecken und Tod, als Requiem für die Belletristik und Verfechter eines neuen literarischen Kanons, der aus Günter Wallraffs Reportagen und Ulrike Meinhofs Kolumnen bestehen sollte. Trotzdem ist aus den damaligen Schriften Enzensbergers kaum zu folgern, ob die Literatur eine überlegene oder untergeordnete Rolle im Vergleich zu journalistischen oder dokumentarischen Textformen haben sollte. Sie wird als Mittel zur Erforschung der geschichtlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit neben gleichwertigen, aber komplementären publizistischen Mitteln wie Dossier, Interview und Dokument verstanden:

Die Zeitschrift steht neuer Poesie und Prosa offen [...]. Insofern ist das Kurs- buch eine literarische Zeitschrift. Sie ist es nicht, sofern sie sich auch dem öf- fnet, wodurch die Literatur sich herausgefordert sieht, wessen sie aber nicht Herr wird. Unser literarisches Bewusstsein ist begrenzt; es ignoriert weite Zo- nen der zivilisatorischen Realität. Wo die literarische Vermittlung versagt, wird das Kursbuch den unvermittelten Niederschlag der Realien zu fassen suchen: in Protokollen, Gutachten, Reportagen, Aktenstücken, polemischen und unpo- lemischen Gesprächen.34

Schon seit der Kursbuch-Ankündigung sind also Enzensbergers Absichten offen- sichtlich: Einerseits will er die traditionelle Rolle der Literatur, und somit die des Schriftstellers, in der gesamten deutschen Öffentlichkeit in Frage stellen; anderer- seits zielt er auf eine Erweiterung und Verstärkung des Literaturbegriffs ab, indem er die Vermischung von literarischen und journalistischen Formen vorantreiben will. In einer solchen Vermischung sieht er in den 60er wie auch später in den 80er Jahren ein fruchtbares Bündnis für beide Seiten. Diesbezüglich ist seine Haltung als Intellektueller in den 60er und 70er Jahren von der „dokumentarischen Mode“

stark, wenn auch kritisch, beeinflusst, und sie wird 1968 in den Äußerungen des berühmten und missverstandenen Kursbuch 15 gipfeln, wo Enzensberger einen sei- ner bekanntesten Essays veröffentlichte, Gemeinplätze, die Neueste Literatur betreffend.

Inzwischen hat sich die Forschung darauf verständigt, dass Enzensberger keineswegs einen „Tod“ der Literatur, an den er übrigens selbst nicht glaubte, an- kündigen wollte – im Gegensatz zu den Beiträgen, die von Walter Boehlich, Yaak Karsunke oder Karl Markus Michel in derselben Kursbuch-Nummer erschienen. Er mokierte sich eher über die unter den linksorientierten Intellektuellen herrschende Rhetorik eines angeblichen „Tod[es] der Literatur“, formulierte dies aber in der ihm eigenen Weise so provokant, dass diese Gemeinplätze dauerhafte Missverständnisse nach sich zogen.35 Die meisten Kommentare zitierten die direkte Aufforderung, sich doch an Reportagen oder Dokumentartexten von Publizisten wie dem muckra- ker Günter Wallraff, dem iranischen Publizisten Bahman Nirumand oder Ulrike

34. enzensberger: Kursbuch (Anm. 32), S. 2.

35. Zur Rezeption von Zur Rezeption von Kursbuch 15 vgl. Peter scHneider: „Bildnis eines melancholischen Entdeckers“. In: Rainer wieland (Hrsg.), „Der Zorn altert, die Ironie ist unsterblich. Über Hans Magnus Enzensberger“, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1999, S. 139; Gaston salvatore: „Vom Luxus der Freundschaft“. In: Ebd., S. 130–136; Martin FritscHe: „Hans Magnus Enzensbergers produk- tionsorientierte Moral. Konstanten in der Ästhetik eines Widersachers der Gleichheit“, Bern: Peter Lang, 1997, S. 66; lau (Anm. 3), S. 272 ff.

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Meinhof zu orientieren. Der Kontext, in dem Enzensberger diese Namen konkret nannte, wurde hingegen damals kaum berücksichtigt. Denn andernfalls wäre aufge- fallen, dass er 1968 Schriftstellern und Publizisten des Vormärz und der Weima- rer Republik näherstand als den linksextremen Publizisten der 60er Jahre. Bezogen auf die berühmte Stelle über die „politische Alphabetisierung Deutschlands“ als Aufgabe des Intellektuellen, kommentiert Enzensberger:

Das [die politische Alphabetisierung Deutschlands] ist schließlich keine neue Aufgabe; Börne hat sie vor hundertfünfzig Jahren in Deutschland in Angriff genommen, und Rosa Luxemburg ist schon fünfzig Jahre tot. Was uns heute zur Hand liegt, wirkt, an solchen Vorbildern gemessen, allerdings bescheiden:

beispielsweise Günter Wallraffs Reportagen aus deutschen Fabriken, Bahman Nirumands Buch über Persien, Ulrike Meinhofs Kolumnen.36

In diesem Licht scheint Enzensberger Wallraffs Reportagen oder Meinhofs Kolum- nen nicht als eine erneuernde Avantgarde der Literatur aufzufassen, sondern als einen „bescheidenen“ und „gemessenen“ Rest einer literarischen Tradition, in der er seine intellektuellen Wurzeln erkennt.

Diesbezüglich ist es fruchtbarer, nicht so sehr danach zu fragen, welchen Einfluss zeitgenössische Publizisten in den 60er Jahren auf Enzensberger ausübten, sondern vielmehr danach, wie sich sein Verhältnis zur Tradition des deutschen lite- rarischen Journalismus entwickelt. Die hier erwähnten Autoren Ludwig Börne und Rosa Luxemburg sind, wie auch Sartre, noch Beispiele von engagierten Intellek- tuellen, die eindeutige Stellungnahmen bezogen haben. Zur Zeit seines lyrischen Debüts, als 1957 die Gedichtsammlung verteidigung der wölfe erschien, wurde Enzens- berger aber aufgrund seiner polemischen, ironischen und provokatorischen Hal- tung eher mit Heine verglichen,37 ein in der Kritik oft wiederkehrender Vergleich.

Obgleich der in die politischen Debatten seiner Zeit involvierte Enzensberger 1968 sein literarisches Vorbild im unbeugsamen Ludwig Börne sieht, findet er sich 1980 eher in dessen intellektuellem Rivalen wieder, dem geistesbeweglichen und ideolo- gisch unverbindlichen Heine, dem „idealen“ Autor für die neu gegründete Zeits- chrift TransAtlantik. In verschiedenen Phasen seiner Karriere identifiziert sich En- zensberger mit ihm, denn beide haben ihr intellektuelles Prestige hauptsächlich auf dem literarischen Feld als selbstbewusste Dichter erhalten; beide haben sich auch der Publizistik auf eine provokatorische und polemische Weise bedient, um sich in der gesamten Öffentlichkeit als ideologisch unvorhersehbare und aufklärerisch auftretende Intellektuelle zu profilieren; und daher wurden beide von der damaligen linken Öffentlichkeit stark kritisiert. Obwohl aber in den 60er Jahren Enzensber- ger oft Börne erwähnt, kennzeichnet sich seine Haltung schon damals mehr durch den Anspruch auf intellektuelle Beweglichkeit als durch Standhaftigkeit. Ein Beleg hierfür ist die bekannte Kursbuch-Polemik von 1966 gegen Peter Weiss, der Enzens- bergers 1965 erschienenen Essay Europäische Peripherie so kommentiert: “Ich nehme an, Hans Magnus Enzensberger hält sein Schlusswort im Kursbuch 2 absichtlich so vieldeutig, weil er zur Diskussion anregen will”38. Weiss bezeichnet Enzensbergers damalige Haltung als “Ausweichen vor einer persönlichen Stellungnahme” und wirft

36. enzensberger: Palaver (Anm. 8), S. 53.

37. Vgl. Lothar Vgl. Lothar jordan: „Heinrich Heine und Hans Magnus Enzensberger“. In: Heine-Jahr- buch, 32/1993, S. 127-143.

38. Peter Peter weiss: „Enzensbergers Illusionen“. In: Kursbuch 6/1966, S. 165.

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ihm daher eine “Doppelmoral” vor. Gleichzeitig übernimmt er aber auch einige ausgeprägte Merkmale seiner Essayistik: den Willen, die aktuellsten Themen zu problematisieren, die darauffolgende Suche nach der Zweideutigkeit der politischen Parolen und des ideologischen Jargons und als deren Folge die Vermeidung von manichäischen Stellungnahmen. Schon in den 60er Jahren zielt Enzensberger durch seine Essayistik darauf ab, öffentliche Diskussion durch ungewöhnliche Argumente und Gesichtspunkte zu erregen, die sich den „Schemen A gegen B“ und der Furcht vor dem „Beifall von der falschen Seite“ 39 entzieht – Mechanismen, die Enzensber- ger selbst in dem Nachwort von Einzelheiten I bloßstellte. Er widerlegt Weiss’ Kritik in demselben Kursbuch-Heft, indem er ihn beschuldigt, die Welt nur durch eine dog- matische Ideologie betrachten zu können und vernünftige Zweifel zugunsten einer im Voraus gebildeten Weltanschauung zu schnell beseitigen zu wollen. Daraus ents- teht eine Gegendarstellung zu Peter Weiss, die gleichzeitig auch zum berühmtesten und dauerhaftesten unter den wenigen intellektuellen Selbstporträts Enzensbergers geworden ist: „Die Moralische Aufrüstung von links kann mir gestohlen bleiben. Ich bin kein Idealist. Bekenntnissen ziehe ich Argumente vor. Zweifel sind mir lieber als Sentiments”.40 In der Vorliebe für Zweifel und Argumente und in der Ablehnung, private Gefühle und ideologische Sentimentalität zur Schau zu stellen, findet man den Kern von Enzensbergers Selbstdarstellung als Intellektueller. Eine solche Entpersön- lichung des argumentierenden Ichs hat aber mit dem Habitus des Journalisten wenig zu tun: Es geht dem Autor gar nicht um eine Literatur, die objektiv über Tatsachen berichten kann. Seine Haltung entspricht vielmehr einer Art intellektuellem Schamge- fühl oder einer Nüchternheit, die es ihm verbietet, das Wort „Ich“ zu schreiben, wenn es nur mit dem Ausdruck von Privatgefühlen zusammenfällt. Das „Ich“ ist ihm aber erlaubt, wenn es eine öffentliche Rolle bekleidet, die der Autor rhetorisch aufbaut und vorzugsweise durch die Massenpresse aufführt.

Es ist kein Zufall, dass seine 1999 erschienene autorisierte Biographie den Ti- tel Hans Magnus Enzensberger. Ein öffentliches Leben trägt. Es ist auch kein Zufall, dass Peter Weiss selbst mehrere Jahre nach der erwähnten Polemik in Notizbücher 1971- 80 über Enzensbergers polemische Strategien nachdenkt und dank der durch die zeitliche Distanz gewonnene Gelassenheit die Vermutung aufstellt, Enzensbergers vis polemica sei nur ein image, eine posture also, eine Selbstinszenierung zum Zweck der öffentlichen Diskussion:

Vielleicht sah er [Enzensberger] seine Angriffe nie als perfide an, sondern eher als «zum Gewerbe gehörend». [25.5.1978]

Hat er nicht nur ein «Image», das ihm vielleicht gar nicht entspricht? Jeden- falls hat er sich dieses «Image» erworben – doch durch literarische Leistungen, nicht durch Spiegelfechterei: also doch irgendwo eine stabile Größe – warum nur weiß man nie, wo man ihn hat? [18.9.1978]41

Norbert Bolz beschreibt Enzensberger als den „Manager seiner eigener Unerträglichkeit“,42 womit er seine Fähigkeit meint, die oft verblüffende Wirkung

39. enzensberger: (Anm. 5), S. 103 ff.

40. enzensberger: „Peter Weiss und andere“. In: Kursbuch 6/1966, S. 176.

41. weiss: Notizbücher 1971-80. 2. Bd., Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1981, S. 709 und 741-742.

42. Norbert Ch. Norbert Ch. bolz: „Nur keine Langeweile!“ In: Literaturen. Das Journal für Bücher und The- men 11/2004, S. 4-15.

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seiner öffentlichen Auftritte genau zu berechnen. Bolz definiert ihn aber auch als einen „Helden der Abklärung” aufgrund einer in seinen Essays wiederkehrenden rhetorischen Strategie, die darin besteht, weit verbreitete, gefestigte Begriffe umzukehren und deren Bedeutung durch neue Gesichtspunkte in Frage zu stellen.

Vermarktungsstrategien spielen tatsächlich eine wesentliche Rolle in Enzensber- gers literarischer Karriere. Auffällig ist aber, dass er solche kalkulierte Selbstdarstel- lungsstrategien meist nur auf dem intellektuellen Niveau der Argumentation und der Polemik anwendet. Die Mediatisierung persönlicher Gefühle, die auch im Lite- raturbetrieb modisch geworden ist, liegt nicht in seinem Interesse.

Auch in Enzensbergers Gedichten sind Ausdrücke von privaten Gefühlen kaum zu finden, es sei denn, sie werden zu bestimmten rhetorischen Zwecken vor- geführt. Umgekehrt werden Verallgemeinerungsstrategien oft in seinen Essays ve- rwendet, wenn der Autor persönlichen Erfahrungen oder Meinungen eine größere Reichweite verleihen will, ohne der Eigenmächtigkeit verdächtigt zu werden. En- zensberger entzieht sich also der Zurschaustellung der eigenen Sensibilität, und wenn er scheinbar persönliche Gefühle der Öffentlichkeit preisgibt, dann hat diese momentane Haltung eine bestimmte rhetorische Funktion.43 Diese posture im Zei- chen von intellektueller Zurückhaltung mündet in eine Auffassung des Schriftstel- lers als öffentliche Figur, die nicht nur die Publizistik, sondern auch die Lyrik mi- teinbezieht. Lyrik soll nämlich nicht als das exklusive Genre für das Ausdrücken von Gefühlen verstanden werden und auch nicht als ungeeignet für andere Themen als Gefühle angesehen werden:

Lyriker zum Beispiel gelten nach wie vor als Gefühls-Spezialisten; sobald sie anfangen zu denken, was selten genug vorkommt, sagt man ihnen nach, sie seien «zerebral», ganz so, als wäre das Gehirn nicht unser wichtigstes Sinnes- und Erregungsorgan.44

Das erklärt, wieso Enzensbergers Gedichte meistens politische, gesellschaftliche oder epistemologische Themen in einem essayistischen Ton behandeln und ni- cht viel übrig haben für die subjektive Innerlichkeit des Schriftstellers. Wie tief verwurzelt diese posture ist, kann anhand einiger Quellen aus den Anfängen von Enzensbergers Karriere belegt werden: 1964 hält er auf Einladung von Adorno die Poetik-Vorlesungen an der Universität Frankfurt, die er mit der Behauptung eröffnet, dass der Schriftsteller sich eine „Rolle“ wählen müsse – sich diese aber nie aufzwingen lassen dürfe. Da der Schriftsteller nämlich eine öffentliche Figur sei, könne er sich ihr nicht entziehen, müsse aber die ihm von Kritikern und Lesern angehängten Etiketten dulden.45 Seine Gewandtheit solle darin bestehen, ihre Erwartungen zu enttäuschen und ihnen zu widersprechen, indem er immer neue Rollen annimmt und immerfort von alten zu neuen Stellungnahmen wan- dert.

43. Ein Beispiel dafür sind die wenigen Schriften, in denen Enzensberger sich an seine Kind- Ein Beispiel dafür sind die wenigen Schriften, in denen Enzensberger sich an seine Kind- heit erinnert, aber nur weil ihm dies ermöglicht, mit größerer Glaubwürdigkeit vom Nationalsozia- lismus zu sprechen, oder die widerspruchsvollen Gefühle der Deutschen den Alliierten gegenüber zu beschreiben. Vgl. z. B. enzensberger: „Nürnberg 1938. Ein Klassenbild“. In: Der fliegende Robert.

Gedichte, Szenen, Essays, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1989, S. 13-28.

44. enzensberger: Nomaden im Regal. Essays, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2003, S. 13.

45. Vgl. H. Vgl. H. scHön: „Spielen Schriftsteller eine Rolle? Enzensbergers erste Vorlesung an der Frankfurter Universität“. In: Der Tagesspiegel, 04.12.1964.

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1979 behauptet Enzensberger in einem Interview, was ihm „an der heute üblichen Meinungsproduktion am meisten“ störe, sei „ihre Besserwisserei“.46 Das kann auch als offene Selbstkritik gedeutet werden, da der Autor weiter erklärt:

Manchmal gefallen mir meine Essays nicht mehr, weil sie in dieser Tradition der Rechthaberei stehen. In Zukunft werde ich eine andere Form, einen ande- ren Ton des Essays finden müssen. Dafür sehe ich auch objektive Gründe. Die Lage, in der wir uns befinden, scheint mir Besserwisserei einfach nicht mehr zuzulassen.47

Dieses Zitat bildet den Auftakt zur TransAtlantik-Gründung und erklärt, warum Enzensberger vier Jahre davor Kursbuch trotz seines riesigen Publikumserfolgs ver- lassen hatte: Aufgrund des politisch und gesellschaftlich veränderten Kontexts hielt Enzensberger seine eigene Zeitschrift für überholt. Als er 1969 aus Kuba nach Deutschland zurückkam, löste sich die Studentenbewegung schon allmählich auf, und die bedrückende Stimmung der 70er Jahre war bereits zu spüren. Infolge sei- ner Annäherung an Niklas Luhmanns Systemtheorie48 fing Enzensberger an, tradi- tionelle politische Kategorien als untauglich zum Verständnis der Gesellschaft zu betrachten: Von nun an konnte sie nur als komplexes und unkalkulierbares System aufgefasst werden. Die Besserwisserei und die Parolen mancher linker Presseor- gane fand damals Enzensberger umso unerträglicher, als das Kursbuch mittlerweile von ihnen kaum zu unterscheiden war, denn trotz ihrer a-programmatischen An- kündigung war die Zeitschrift bald zur Stimme der deutschen Studentenbewegung geworden. Mit dem Abschied von Kursbuch fängt also eine Zeit der Revision und des Umdenkens im Zeichen von politischem Desengagement49 in Enzensbergers intellek- tueller Tätigkeit an. Diese neue Phase bringt ein besonderes Interesse an erkennt- nistheoretischen Fragen und eine neue Haltung der westdeutschen Gesellschaft ge- genüber mit sich. Enzensberger lobt jetzt nämlich die „Normalität“ und das common sense des Kleinbürgertums,50 und durch seine neue Zeitschrift, TransAtlantik, will er Anfang der 80er Jahre neue Leserkreise ansprechen, d. h. nicht nur Intellektuelle bzw. Fachleute aus dem Kulturbetrieb, sondern auch die Gesamtheit der wohl- habender gewordenen westdeutschen Leser mit verfeinertem Leseanspruch. Für dieses neue, vermeintlich anspruchsvollere Lesepublikum sei der traditionelle, bes- serwisserische und zur „Erziehungsdiktatur“ neigende westdeutsche Journalismus fehl am Platz. Daher sei eine neue Zeitschrift wie TransAtlantik nötig, die den Leser als ihresgleichen statt als zu erziehenden Schüler behandelt; die ihn informieren und zugleich unterhalten will, statt ihn zu bevormunden; die einen eleganten, aber keinen rechthaberischen Ton anschlägt. Aus der Mitarbeit mit Gaston Salvatore und dem berüchtigten Verleger Heinz van Nouhuys entsteht 1979 das Konzept von

46. „Der Kurze Sommer der Anarchie. Gespräch mit Hanjo Kesting“. In: „Der Kurze Sommer der Anarchie. Gespräch mit Hanjo Kesting“. In: griMM (Anm. 4.), S. 133.

47. Ebd. Ebd.

48. Vgl Lau (Anm. 3), S. 326. Vgl Lau (Anm. 3), S. 326.

49. Vgl. Vgl. peitscH (Anm. 25), S. 256.

50. enzensberger: „Zur Verteidigung der Normalität“ (1982); „Von der Unaufhaltsamkeit des Kleinbürgertums. Eine soziologische Grille“ (1976). In: Politische Brosamen, Frankfurt a. M.: Suhr- kamp, 1982.

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TransAtlantik, das manche westdeutsche linke Intellektuelle empört.51 Den Vorwurf, auf die Seite des Kapitals übergetreten zu sein, erwidert Enzensberger abermals – wie zur Zeit der Enzensberger-Weiss-Polemik – mit der posture des nichtorthodoxen Intellektuellen, der sich eine Prise von Pragmatismus und Skrupellosigkeit auf dem Kulturmarkt gönnt:

Ich habe eine produktionsorientierte Moral, also für mich entscheidet, was bei einem solchen Vorgang herauskommt, was man damit machen kann. Dass es so etwas wie einen unschuldigen Kapitalismus geben kann, glaube ich nicht.52

TransAtlantik entsteht, genau wie Kursbuch, aus dem Willen, die vermutlichen Lücken der westdeutschen Öffentlichkeit auszufüllen. Anfang der 80er Jahre bestehen solche Lücken nicht nur in der Besserwisserei des traditionellen Journalismus, sondern auch in seiner Unfähigkeit, sich mit den Erneuerungen in der Informationsgesellschaft, etwa mit neuen Presseformaten (Fanzines, Lifestyle magazines) oder mit dem Fernsehen, auseinanderzusetzen. Egal ob Stern, Spiegel, FAZ oder Die Zeit: Alle beschränkten sich darauf, der Kultursparte mehr Seiten zu widmen, ohne jedoch wirklich innovative Lösungen gegen die Konkurrenz der neuen bunten magazines vorzuschlagen, weil sie fürchteten, durch allzu gewagte Experimente ihr traditionelles Lesepublikum abzus- toßen. Dagegen stellt sich Enzensberger mit TransAtlantik erneut als der furchtlose Intellektuelle dar, der sich vor dem Experimentieren nicht scheut:

Eine großstädtische intelligente Publikumszeitschrift für die historisch neuen Ansprüche der Bundesrepublik hingegen müsste ihr eigenes Publikum erst erzeugen oder wenigstens herauszukristallisieren. Hierzu ist aber ein neues und eigenständiges Konzept nötig. Das ist vor allem eine Frage der Haltung, des Tons und der Schreibweisen.53

Die Begriffe “Ton”, “Haltung” und “Schreibweisen” werden im TransAtlantik- Konzept ziemlich genau erläutert: Die journalistische Ermittlung aktueller Themen wird nicht mehr für unvereinbar mit literarischer Qualität und mit der Unterhaltung des Lesers gehalten. Enzensberger setzt sich dem grassierenden infotainment nicht mehr entgegen. Stattdessen versucht er einen leichteren und unterhaltsameren Be- griff von literarischem Journalismus zu entwerfen. Der vom idealen TransAtlantik- Autor anzuschlagende Ton sei:

Überlegen (aber nicht arrogant).

Intelligent (aber nicht akademisch).

Böse (aber nicht hämisch).

Elegant (aber nicht selbstgefällig).

Sophisticated (aber nicht esoterisch).

Kritisch (aber ohne Besserwisserei).

Ironisch (aber nicht patzig). 54

51. Vgl. Vgl. lau (Anm. 3), S. 318.

52. enzensberger: „Die Wahrheit ist immer riskant. Zeit-Gespräch mit Fritz J. Raddatz“. In:

Die Zeit, Nr. 39, 19.09.1980.

53. enzensberger/salvatore: Konzept (Anm. 18).

54. Ebd. Ebd.

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Beschreiben die Wörter in Klammern die Laster des westdeutschen Journalismus, von dem sich Enzensberger durch TransAtlantik distanzieren will, so haben die positiven Eigenschaften, wodurch sich die neue Zeitschrift profilieren sollte, als gemeinsamen Nenner eine allumfassende „Souveränität“: sowohl intellektuelle Souveränität (überlegen, intelligent, kritisch, ironisch), die dem Autor Distanz zu jedem Gegenstand gewährt, als auch stilistische Souveränität (elegant, sophistica- ted), die literarische Überlegenheit im Vergleich zu den meisten deutschen Zeits- chriften voraussetzt. Schließlich weist das Wort „böse“ auf eine besondere Art moralischer und politischer Überlegenheit hin, nämlich auf ideologische Skru- pellosigkeit im Sinne von Verzicht auf ideologische Bezugspunkte. In den fol- genden Jahren wird Enzensberger tatsächlich solche Töne nicht nur in TransAt- lantik, sondern auch in seine gesamte Essayistik einführen. Im Unterschied zur Kursbuch-Ankündigung, die sich mit der Forderung nach ideologischer Unabhän- gigkeit begnügte, beharrt das TransAtlantik-Programm ausdrücklich auf ihrem ästhetischen, d.h. literarischem, Freiheitsanspruch. War Kursbuch auch eine lite- rarische Zeitschrift, so stehen im Mittelpunkt von TransAtlantik Enzensbergers Überlegungen über die rhetorischen und stilistischen Merkmale, durch die sich TransAtlantik-Texte auszeichnen sollten. Es ist kein Zufall, dass Enzensberger Anfang der 80er Jahre mehr Wert auf den literarischen Aspekt seiner journalis- tischen Praxis legt. Somit treten in dem neuen literarisch-journalistischen Pro- jekt Enzensbergers andere Muster als die der 50er und 60er Jahre (Sartre, Börne, Rosa Luxemburg etc.) auf. Er ist nun darauf angewiesen, den ästhetischen und literarischen Aspekt der neuen Zeitschrift hervorzuheben, denn 1980 würde der Mangel an ideologischen Überzeugungen nicht mehr genügen, um TransAtlantik in der Szene der westdeutschen illustrierten Zeitschriften zu profilieren. Durch literarische Qualität soll sich TransAtlantik dem flachen Standardjournalismus entgegenstellen. Das Hauptmuster dafür ist The New Yorker aufgrund seiner über- legenen Haltung, seines Spürsinns für literarische Qualität und seines typischen Großstadthumors. Dank The New Yorker hatten sich die stilistischen Erneuerun- gen des New Journalism seit Ende der 60er Jahre in der amerikanischen Publizistik verbreitet: Die Subjektivität des Journalisten und die Annahme ungewöhnlicher Gesichtspunkte rückten in den Mittelpunkt des journalistischen Berichts, ins- besondere in die Reportage, und wurden zu dessen wesentlichem Bestandteil.

Enzensberger will 1980 den Stil von New Journalism nach Deutschland importie- ren, um die deutsche Literatur und zugleich den deutschen Journalismus neu zu beleben. Er meint nämlich, dass die deutsche Tradition der literarischen Repor- tage nach der dokumentarischen Mode der 60er und 70er Jahre in Vergessen- heit geraten sei, oder im besten Fall, dass sie noch in altmodischen, aus den 20er Jahren stammenden Diskussionen über die Objektivität und „Operativität“

des Genres verfangen sei.55 Enzensberger will also eine „Importquote“ auslän- discher Schriftsteller und möchte für sie eine große Anzahl von TransAtlantik- Seiten reservieren. Neben amerikanischen Autoren wie z. B. Tom Wolfe oder Truman Capote denkt er dabei auch an italienische Intellektuellen wie Claudio Magris, Alberto Arbasino oder Camilla Cederna. Es ist aber nicht zu übersehen,

55. Vgl. Erhard H. Vgl. Erhard H. scHütz: „„Fliegen des Geistes“. Vom Journalismus her: Reporter, Ko- lumnisten u. a.“ In: Walter delabar, Erhard scHütz (Hrsg.): Deutschsprachige Literatur der 70er und 80er Jahre. Autoren. Tendenzen. Gattungen, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1997, S.

61.

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