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Ausbruch aus der Sonderschule

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Academic year: 2021

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MITTWOCH, 19. NOVEMBER 2014  TAZ.DIE TAGESZEITUNG

Inklusion gelingt, wenn auch Sonderpädagogen lernen, ihre Schützlinge loszulassen. An einer Kölner Schule gelingt dasFoto: Theodor Barth/laif

mit sonderpädagogischem För-derbedarf, die an Regelschulen integrativ unterrichtet werden, ist laut Schulstatistik seit 2008 im Bundesdurchschnitt von 18 auf 25 Prozent gestiegen.

Aber der Anstieg kommt vor allem dadurch zustande, dass mehr Regelschüler als förderbe-dürftig eingestuft werden, und nicht durch einen Rückgang der Sonderbeschulung, wie ihn die UN-BRK fordert. Der Anteil der Schülerschaft mit sonderpäda-gogischem Förderbedarf ist seit 2008 im Bundesdurchschnitt um 10 Prozent gestiegen; die Sonderschulquote liegt fast un-verändert bei 4,8 Prozent.

Diese Entwicklung verdeut-licht, mit welchen Schwierigkei-ten die Umsetzung der Inklusion in Deutschland verbunden ist: Das Sonderschulwesen ist gesell-schaftlich tief verwurzelt und hat institutionelle Beharrungs-kräfte entwickelt, die sich nicht einfach verflüchtigen, weil sich die Rechtslage verändert hat. Wo-rin genau diese Beharrungskräf-te besBeharrungskräf-tehen, haben wir erforscht. Es geht im Wesentlichen um vier Punkte.

Erstens sind Vorstellungen über den „richtigen“ Umgang mit förderbedürftigen Schülern kulturell tief verankert. In weiten Teilen der Gesellschaft und den pädagogischen Professionen hat sich die Überzeugung etabliert, dass Schüler mit sonderpädago-gischem Förderbedarf nur im „Schonraum“ der Sonderschule angemessen gefördert werden können. Die Trennung der Schü-ler entspricht auch der Grund-idee des gegliederten Schulsys-tems, in homogenen Gruppen werde besser gelernt als in hete-rogenen Gruppen. Beide Annah-men sind empirisch keineswegs belegt.

Im Gegenteil, fast alle wissen-schaftlichen Befunde zeigen: Schüler mit sonderpädagogi-schem Förderbedarf profitieren

vom gemeinsamen Lernen, der Lernerfolg der anderen Schüler leidet darunter nicht.

Zweitens funktioniert das ge-gliederte Schulsystem nach dem Prinzip der Leistungsauslese. Während die Regelschulen in diesem System Schüler, die die von ihnen geforderten Leistun-gen nicht erbrinLeistun-gen können, auf niedrigere Schulformen „ab-schulen“, gibt es diese Möglich-keit an der Sonderschule nicht. Sie ist de facto das unterste Glied des Schulsystems und über-nimmt die Aufgabe, Schüler zu fördern, die nicht den gesell-schaftlichen Vorstellungen von Normalität und Bildungsfähig-keit entsprechen, an denen die Regelschulen ausgerichtet sind.

Ein Kernkonflikt deutscher Schulpolitik

Im Rahmen inklusiver Bildung ist nun gefordert, dass auch diese Schüler an Regelschulen zu un-terrichten sind. Da Regelschulen aber nicht darauf eingestellt sind, Schüler kompensatorisch zu fördern, stellt die vollständige Abschaffung von Sonderschulen die Funktionsweise des geglie-derten Schulsystems insgesamt infrage. Inklusion berührt also unweigerlich die Schulstruktur-debatte und damit einen Kern-konflikt deutscher Schulpolitik.

Drittens führen die Verände-rungen, die eine konsequente In-klusion mit sich bringen wür-den, bei vielen Vertretern der sonderpädagogischen Professi-on zu Unsicherheiten und Ängs-ten, was Arbeitsbedingungen und Besoldung angeht: Sonder-pädagogen haben im bestehen-den System hohes berufliches Prestige. Ihre Besoldung ent-spricht der von Gymnasialleh-rern. Sie arbeiten an Schulen mit vergleichsweise kleinen Klassen. Folglich hat die Profession ein In-teresse daran, Sonderschulen aufrechtzuerhalten. Da sie die Verantwortung dafür trägt,

Be-Ausbruch aus der Sonderschule

SERIE INKLUSION (5)

Kinder sollen gemeinsam lernen, doch die Sonderschulquote bleibt konstant. Warum schulische Inklusion

in Deutschland so schwerfällt und wie sie dennoch gelingen kann, haben Forscher des Wissenschaftszentrums Berlin untersucht

VON BENJAMIN EDELSTEIN, JONNA BLANCK UND JUSTIN POWELL

Im Jahr 2008 hat Deutschland die UN-Behindertenrechtskon-vention (UN-BRK) ratifiziert und sich verpflichtet, ein inklusives Bildungssystem zu schaffen. Die Konvention verbietet Sonder-schulen nicht explizit. Aber das systematische Aussondern von Schülern mit Behinderungen aus dem Regelschulsystem, wie es in Deutschland praktiziert wird, verstößt gegen die Konven-tion.

Die vermeintlichen Vorteile der Sonderbeschulung werden zudem durch Akteure aus Wis-senschaft, Politik und Praxis so-wie internationalen Organisatio-nen seit Jahrzehnten in Frage ge-stellt. Denn vor allem Schüler aus bildungsbenachteiligten Grup-pen werden an Sonderschulen überwiesen: Kinder und Jugend-liche aus Familien mit niedrigem sozio-ökonomischen Status und insbesondere jene mit Migrati-onshintergrund sind dort deut-lich überrepräsentiert.

Die Sonderschule hebt ihre Bildungsbenachteiligung nicht auf, sondern kann sie sogar noch verstärken: Etwa drei Viertel der Sonderschüler verlassen die Schule ohne qualifizierenden Abschluss. Absolventen haben kaum Chancen auf einen erfolg-reichen Übergang in Berufsaus-bildung und Arbeitsmarkt; viele kämpfen jahrelang mit dem Stigma der „Anormalität“. Die Sonderschulüberweisung hat damit oft negative Folgen für den weiteren Lebensverlauf.

Der Auslesegedanke ist gesellschaftlich verwurzelt

War Inklusion lange Zeit ein bil-dungspolitisches Nischenthe-ma, ist sie heute in allen Bundes-ländern auf der schulpolitischen Agenda. Auf den ersten Blick mit Erfolg: Der Anteil von Schülern

hinderungen zu diagnostizieren und Schüler auf Sonderschulen zu überweisen, kann sie schon immer ihre eigene Schülerschaft rekrutieren. Ihre Vorstellungen vom richtigen Umgang mit för-derbedürftigen Schülern wur-den von der Politik lange weitge-hend unhinterfragt übernom-men, da der Profession quasi na-tur gemäß die größte Expertise für förderbedürftige Schüler zu-gesprochen wird.

Viertens sind Veränderungen etablierter Bildungssysteme auf-wendig. Im Zuge der Sonder-schulexpansion ist eine Infra-struktur von weit mehr als 3.000 Sonderschulen entstanden, die für inklusive Bildung nur be-dingt nutzbar ist. Sonderpädago-gische Förderung stützt sich auf Gesetze und unzählige Verord-nungen, langfristig eingeübte Verwaltungsroutinen und päda-gogische Praktiken. Diese wie-derum sind mit einer hoch spezi-alisierten Lehrerausbildung ver-knüpft, die kaum Kompetenzen für Unterricht in inklusiven Set-tings vermittelt. All das muss für die Inklusion an neue Gegeben-heiten angepasst werden – und das erfordert Ressourcen.

Diese kurzfristig anfallenden Transformationskosten nimmt die Politik deutlich wahr. Die langfristigen gesamtgesell-schaftlichen Kosten eines defizi-tären Sonderschulwesens, etwa für die sozialen Sicherungssyste-me, geraten dagegen aus dem Blick.

Was Schleswig-Holstein richtig macht

Aus diesen Gründen kommt die inklusive Schulentwicklung vie-lerorts nur schleppend voran. Doch die Beharrungskräfte der Sonderschule können durch langfristig angelegte schulpoliti-sche Strategien erheblich gemin-dert werden. Das beweist Schles-wig-Holstein, eines der wenigen Länder, in denen die

Sonderbe-schulungsquote deutlich gesun-ken ist. Was lässt sich von Schles-wig-Holstein lernen?

Das Land hat bei den pädago-gischen Professionen und in der Öffentlichkeit Akzeptanz für die Idee der Inklusion geschaffen. Frühzeitig wurden in die sonder-pädagogische ebenso wie die all-gemeine Lehrerausbildung In-halte aufgenommen, die für den inklusiven Unterricht qualifizie-ren. Zudem wurde mit der „Bera-tungsstelle Inklusive Schule“ ei-ne Organisation geschaffen, die Schulen, aber auch Eltern berät und Lehrkräfte weiterbildet.

Die neue Gemeinschaftsschu-le hat die Umsetzung der Inklusi-on in Schleswig-Holstein wesent-lich erleichtert. Da sie auf Leis-tungsauslese zugunsten von Bin-nendifferenzierung verzichtet und damit die Heterogenität von Lerngruppen explizit anerkennt, wird inklusiver Unterricht in dieser Schulform strukturell er-leichtert.

Professionspolitische Wider-stände gegen Inklusion konnten minimiert werden, weil ihre Rahmenbedingungen von Be-ginn an so gestaltet wurden, dass Sonderpädagogen durch die Ar-beit an Regelschulen keine Nach-teile befürchten müssen, etwa durch Erlasse zu Fragen der Be-soldung oder zur Anrechnung von Fahrzeiten zwischen Schu-len.

Die Kosten der Inklusion blie-ben begrenzt, weil von Anfang an das Ziel verfolgt wurde, die son-derpädagogische Förderung nach und nach vollständig in Re-gelschulen zu überführen an-statt dauerhaft zwei parallele Systeme zu finanzieren. Zu-nächst wurden alle Schüler mit Sehbehinderung an Regelschu-len unterrichtet und dort von Sonderpädagogen des „Landes-förderzentrums Sehen“ unter-stützt. Aufgrund positiver Erfah-rungen wurde dieses Modell auf andere Förderschwerpunkte ausgeweitet.

Dabei war die Ausgangslage für Schleswig-Holstein relativ günstig, weil in den 1970er und 1980er Jahren durch demogra-fisch rückläufige Schülerzahlen Mittel freigesetzt wurden, die als Anschubfinanzierung für erste integrative Schulversuche ge-nutzt wurden. In vielen Bundes-ländern sinken derzeit ebenfalls die Schülerzahlen; diese „demo-grafische Rendite“ könnte für den Ausbau inklusiver Struktu-ren genutzt werden.

In Deutschland gibt es längst erfolgreiche Modelle für inklusi-ven Unterricht, die in den letzten 30 Jahren entwickelt, erprobt und wissenschaftlich evaluiert worden sind. Die flächendecken-de Umsetzung flächendecken-der Behinflächendecken-derten- Behinderten-rechtskonvention darf indes nicht Jahrzehnte in Anspruch nehmen. Auch der Bund ist ge-fragt: Da Inklusion vorüberge-hend Mehrkosten verursacht und diese für die Länder gerade in Zeiten der Schuldenbremse ein massives Reformhindernis sind, dürfte ein finanzielles En-gagement des Bundes – ähnlich dem Ganztagsschulprogramm – die inklusive Schulentwicklung beflügeln. Das aber setzt voraus, dass auch im Schulbereich wie-der Kooperationsmöglichkeiten zwischen Bund und Ländern ge-funden werden.

■Benjamin Edelstein und Joanna Blanck sind Mitarbeiter des Wissenschaftszentrums für Sozial-forschung Berlin (WZB), Justin Powell lehrt in Luxemburg

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