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View of “Ist es unmöglich, ihn loszuwerden ?” Otto Franz Gensichens Darstellung von Robespierre als einem falschen Messias, der verschwinden muss

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Academic year: 2022

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Zusammenfassung

In diesem Aufsatz wird gezeigt, wie der preußische, nationalliberale, Bismarckge- sinnter Schriftsteller Otto-Franz Gensichen in seinen Revolutionstragödien ein eigen- sinniges historisches Bild des Terrorregimes entwirft. Der Fokus liegt auf der Cha- rakterisierung von Georges Danton und Maximilien Robespierre und auf der Frage, wie politisch-theologische Denkbilder mit den zwei Protagonisten der Französischen Revolution verknüpft werden. In Gensichens Tragödien versuchen beide Figuren sich als Märtyrer zu inszenieren um so das von ihnen vertretene politische Modell zu legi- timieren. Gensichen setzt sich kritisch mit zeitgenössischen historiographischen und politischen Diskursen auseinander, vor allem mit einem bestimmten Zweig in der sozialistischen Geschichtsschreibung, der durch die Darstellung von Robespierre als einem unzeitgemäßen Vorläufer des kommunistischen Gemeinschaftsideals die eige- nen revolutionären Anschauungen zu unterstützten versuchte. Während Gensichen Robespierre als einen unbestechlichen Idealisten und Terroristen desavouiert, avanciert er Danton als den echten Märtyrer, der sich für Freiheit und Realpolitik geopfert hat.

Es wird dargelegt, wie Robespierres unheroischer Sturz und Dantons heroisches Ver- schwinden auf transtextueller Ebene Bismarcks Politikverständnis ‚heiligen‘ sollten.

Abstract

This contribution shows how the Prussian, nationalliberal Bismarck-adept Otto- Franz Gensichen construes a peculiar historical image of the Terror Regime in his revolution plays. The main focus of this article is on the characterisation of Georges Danton and Maximilien Robespierre, as well as on the question how political-theologi- cal discourses are connected with these two protagonists of French revolutionary his- tory. In Gensichen’s plays, both dramatis personae try to stage themselves as martyrs in order to secure and legitimize their political beliefs for generations to come. Gensichen takes a critical stance toward contemporary historiographical and political thought, especially what concerns a specific strand of socialist historiography that tried to sup- port social revolutionary beliefs with an image of Robespierre as an untimely precur- sor of communism. Whereas Gensichen denounces Robespierre as an incorruptible idealist and terrorist, he presents Dantons as the true martyr who died for the cause of freedom and political pragmatism. This contribution illuminates how Robespierre’s unheroic fall and Danton’s heroic disappearance are, on a transtextual level, designed to ‚consecrate‘ Bismarck’s concept of politics

Michiel R

ys

“Ist es unmöglich, ihn loszuwerden ?”

Otto Franz Gensichens Darstellung von Robespierre als einem falschen Messias, der verschwinden muss

To quote this article:

Michiel Rys «Otto Franz Gensichens Darstellung von Robespierre als einem falschen Messia, der verschwinden muss», in: Interférences littéraires/Literaire interferenties, 22, « Un-

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Sascha bRu (Ku leuven) Geneviève FabRy (UCL)

Agnès GuideRdoni (FNRS – UCL) Ortwin de GRaeF (Ku leuven) Jan heRman (KU Leuven) Guido latRé (UCL) Nadia lie (KU Leuven)

Michel lisse (FNRS – UCL) Anneleen masschelein (KU Leuven) Christophe meuRée (FNRS – UCL) Reine meylaeRts (KU Leuven) Stéphanie Vanasten (FNRS – UCL) Bart Vanden bosche (KU Leuven) Marc Van VaecK (KU Leuven)

Olivier ammouR-mayeuR (Université Sorbonne Nouvelle -–

Paris III & Université Toulouse II – Le Mirail) Ingo beRensmeyeR (Universität Giessen)

Lars beRnaeRts (Universiteit Gent & Vrije Universiteit Brussel) Faith bincKes (Worcester College – Oxford)

Philiep bossieR (Rijksuniversiteit Groningen) Franca bRueRa (Università di Torino)

Àlvaro ceballos ViRo (Université de Liège) Christian chelebouRG (Université de Lorraine) Edoardo costaduRa (Friedrich Schiller Universität Jena) Nicola cReiGhton (Queen’s University Belfast) William M. decKeR (Oklahoma State University) Ben de bRuyn (Maastricht University) Dirk delabastita (Université de Namur) Michel delVille (Université de Liège)

César dominGuez (Universidad de Santiago de Compostella

& King’s College)

Gillis doRleijn (Rijksuniversiteit Groningen) Ute heidmann (Université de Lausanne)

Klaus H. KieFeR (Ludwig Maxilimians Universität München) Michael KolhaueR (Université de Savoie)

Isabelle KRzywKowsKi (Université Stendhal-Grenoble III) Mathilde labbé (Université Paris Sorbonne)

Sofiane laGhouati (Musée Royal de Mariemont) François leceRcle (Université Paris Sorbonne) Ilse loGie (Universiteit Gent)

Marc mauFoRt (Université Libre de Bruxelles) Isabelle meuRet (Université Libre de Bruxelles) Christina moRin (University of Limerick) Miguel noRbaRtubaRRi (Universiteit Antwerpen) Andréa obeRhubeR (Université de Montréal)

Jan oosteRholt (Carl von Ossietzky Universität Oldenburg) Maïté snauwaeRt (University of Alberta – Edmonton) Pieter VeRstRaeten ((Rijksuniversiteit Groningen)

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Beatrijs Vanacker (KU Leuven) – Secrétaire de rédaction - Redactiesecretaris Elke d’hoKeR (KU Leuven)

Lieven d’hulst (KU Leuven – Kortrijk) david maRtens (Ku leuven)

Hubert Roland (FNRS – UCL)

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B 3000 Leuven (Belgium)

ComitésCientifique – WetensChappelijkComité

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„Ist es unmöglich, ihn loszuwerden?“

Otto Franz Gensichens Darstellung von Robespierre als einem falschen Messias, der verschwinden muss.

Einführung

Wie aus dem kulturellen Gedächtnis verschwunden: so muss einem gegenwärtigen Leser der Name, Otto Franz Gensichen (1847-1933), erscheinen.

In der Tat ist Gensichen einer der vielen Journalisten und Schriftsteller, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts höchst produktiv und erfolgreich waren, jetzt hingegen der Vergessenheit anheimgefallen sind. Während und nach seiner Tätigkeit als Direktor des Berliner Wallner-Theaters (1874-1878) hat Gensichen allerdings die zeitgenössische populäre Kultur und Literatur mitbestimmt.

Gensichen stand in der Mitte des Berliner Kulturlebens und unterhielt Kontakte zu anderen, renommierten Schriftstellern. So dürfte der Name Gensichen einem Fontane-Spezialisten schon bekannter vorkommen. Gensichen taucht ab und zu als Adressat in Theodor Fontanes Korrespondenz auf. So bittet Fontane Gensichen am 30.01.1890 um seine philologischen Kommentare, die bei einer geplanten Herausgabe seiner gesammelten Werke hilfreich sein könnten.1 Daneben hat Fontane auch einige Aufführungen von Gensichens Konversationsstücken (sog.

„Plaudereien“) abwechselnd mit Hochschätzung und Tadel rezensiert.2 Die wenigen Briefe lehren uns, dass Gensichen beim zeitgenössischen Publikum beliebt war.

In Effi Briest verweist Fontane nicht zufällig nach Gensichens Euphrosyne (1878), die mit ihrer Goethe-Verherrlichung dem Publikumsgeschmack der 1870er Jahre entsprach.

Nicht nur weil seine Stücke den Publikumserwartungen entgegenkamen, stellt sich Gensichens Oeuvre als ein Spiegel für den wilhelminischen Zeitgeist heraus. In diesem Aufsatz interessiert er uns als Dichter, der die Neigungen und Widersprüche seiner Zeit bewusst oder unbewusst, aber jedenfalls exemplarisch in seinem Oeuvre abspiegelt hat. Bestimmte seiner Werke verraten eine ideologische Tendenz, die den Vorzügen des preußischen Establishments entspricht. So feiert sein Trauerspiel York (1871) den deutschen Feldmarschall Ludwig York von Wartenburg, dessen patriotische Leistungen in den napoleonischen Kriegen 1871 wieder als Heldenakte betrachtet wurden. Für ein zeitgenössisches Publikum lag die Parallele zum deutsch-französischen Krieg wohl auf der Hand. Gensichen wurde für seine nationalistische Lyrik in den Sammlungen Kriegslieder (1870) und

1. Theodor Fontane: Briefe. 4 Bände, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1962- 1997, 4. Bd., 22-23.

2. Theodor Fontane: Aufsätze, Kritiken, Erinnerungen, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1969, 212-218, 355-357, 488-493, 581-586, 652-656, 715-717.

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Lieder vom deutschen Kaiser (1871)3 von Wilhelm I. mit dem Roten Adlerorden – dem zweithöchsten preußischen Ehrenzeichen – ausgezeichnet. Das erstaunt keineswegs, denn in diesen „Zeitgedichten“ hetzt Gensichen seine Leser gegen „den welschen Feind“ auf. Er gibt den damaligen deutschen Interessen, wie die Annexion Elsass- Lothringen, einen poetischen Ausdruck. Er verherrlicht Bismarcks Leistungen und artikuliert das dominante nationalistische und liberale Denken:

Nicht das Todte neu beleben Sei für jetzt das Losungswort, Nein, sich völlig dem entheben, Was zerstückelt und verdorrt.

Ritterthum und Pfaffenwesen Sei für immer abgethan,

Denn es fegt mit ehr’nem Besen Jetzt der Krieg uns reine Bahn.

„Durch und für das Volk“ erschalle Uns’re Zukunftslosung laut, Denn wir haben muthig Alle An dem Neustaat mitgebaut.

Gilt allein dem welschen Bürger Dieses blut’ge Ringen? Nein!

Uns’res Staates erster Bürger Soll hinfort der Herrscher sein!

Diese Gedichtsammlung ist kurzum als Intervention im Zeitgeschehen gemeint: der Gebrauch des inklusiven Wir und die anregenden Konjunktive verraten den Appell-Charakter der Texte, deren Absicht zweierlei ist. Auf der einen Hand liegt die Wirkung der Gedichte immer wieder darin, dass sie das deutsche Zusammenhörigkeitsgefühl im Krieg gegen den französischen Feind zu verstärken versuchen. Auf der anderen Hand befürworten sie die moderne deutsche Staatsstruktur als Bruch mit dem feudalen Regime. Die eigentümliche Form, die die Mischung von Nationalismus und Republikanismus in Deutschland angenommen hatte, bleibt aber ihrem Wesen nach reaktionär. Der 1871 gegründete Bundesrat hatte Deutschland zwar ein republikanisches Aussehen gegeben, aber die tatsächliche Macht lag noch immer bei dem Reichskanzler, der vom Kaiser berufen wurde. Das Parlament hatte wie zuvor nur einen beschränkten Einfluss auf die Politik, die noch immer von Bismarck geprägt wurde. Das Bürgertum unterstützte diese Machtkonzentration, weil seine ökonomischen Interessen durch Bismarcks Maßnahmen (z.B. die Etablierung des freien deutschen Innenmarktes) gesichert wurden. Was moderne liberale Politik, Republikanismus und Führung vom „ersten Bürger“ für Gensichen bedeuteten, war in dem deutschen Kontext ambivalent.

Auch in Gensichens Interesse für die Geschichte der Französischen Revolution haben sich Spuren eines kontextgebundenen Liberalismus- und Republikbegriffs niedergefunden. Es ist auf den ersten Blick erstaunlich, dass Gensichen sich im

3. Otto Franz Gensichen: Vom deutschen Kaiser. Zeitgedichte, Berlin, Eugen Grosser, 1871, 6-8.

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frankreichfeindlichen Preußen in zwei Trauerspielen Danton (1870)4 und Robespierre (1874)5 mit dem Stoff der Französischen Revolution auseinandersetzt. Trotzdem passte dieses Thema zu der weit verbreiteten Meinung, dass Bismarcks Reformpolitik von oben eine produktive (bzw. bessere) Alternative für den gescheiterten Umsturz von unten wäre. Die Kritik an proletarischen Revolutionen und das Plädoyer für allmähliche und realistische Lösungen passt zur Ideologie der herrschenden Klasse. Eine Auseinandersetzung mit dem Revolutionsstoff bot Gensichen die Möglichkeit, sein deutschnationales und liberal-bürgerliches Selbstverständnis zu vermitteln. Wie sein oben zitiertes Gedicht illustriert, heißt das keine Totalannahme oder -Ablehnung der Revolutionsideale. Die Französische Revolution und die Trias der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit versinnbildlichen den als legitim verstandenen Bruch zwischen dem gottgegebenen Feudalregime und modernen Definitionen von Staat und Politik. In den Spuren der Aufklärung war vor allem die mittelalterliche politisch-theologische Staatsstruktur für die Reichsgründer und die Revolutionäre ein Stein des Anstoßes: nicht der Wille des Königs als Stellvertreters von Gott auf Erden, sondern der Wille des Volkes sollte die Basis des Gesetzes bilden. Gensichens Ablehnung von „Ritterthum und Pfaffenwesen“ lässt sich auf derselben Folie lesen.

Die Ablehnung der feudalen Machtstruktur bedeutete weder in Deutschland noch in anderen modernen Staaten, dass die Verbindung von Politik und Theologie nicht in einer anderen Gestalt fortexistierte. Für den Anarchisten Mikhail Bakunin bedeutet Theologie so viel wie eine Ideologie, die die Herrschaft eines Individuums, einer Elite oder einer Klasse über eine Mehrheit unterstützt. In einem anderen Sinne weist Carl Schmitts Diktum, dass alle prägnanten modernen politischen Begriffe säkularisierte theologische Begriffe sind, auf das latente Verhältnis zwischen Theologie und Staatsrecht hin. Rousseaus Denkbild der volonté générale sei, so Schmitt oder später Albert Camus6 und Giorgio Agamben7, dem bindenden Willen des Königs bzw. Gottes ähnlich. Die Anschauung, dass eine Gemeinschaft ihren Willen wie eine homogene Einheit mit einer einzigen Stimme und Identität zum Ausdruck bringt, bezeichnet auch Claude Lefort als Merkmal politisch- theologischen Denkens. Moderne Politik kann die theologische Dimension wohl leugnen, letztere bildet implizit und/oder in einer anderen Form immer noch ihr Fundament.

Dieser Aufsatz stützt sich bei der Lektüre von Gensichens Trauerspielen Danton (1870) und Robespierre (1874) auf Leforts Idee der „Fortdauer des Theologisch-Politischen“. Beide historischen Dramen unterstützen die These, dass

„the religious survives in the guise of new beliefs and new representations, and that it can therefore return to the surface, in either traditional or novel forms“.8 Lefort legt dar, wie symbolische und rhetorische Repräsentationen die bestehenden staatlichen Beziehungen legitimieren können. Das Theologische hat also nicht nur mit dem Funktionieren der Macht, sondern auch mit der Autorität von politischen

4. Otto Franz Gensichen: Danton. Trauerspiel, Berlin, Heimann, 1870.

5. Otto Franz Gensichen: Robespierre. Trauerspiel, Berlin, Eugen Grosser, 1874.

6. Albert camus: Der Mensch in der Revolte, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt, 2013, 152-179.

7. Giorgio aGamben: Herrschaft und Herrlichkeit. Zur theologischen Genealogie von Ökonomie und Regierung, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 313-331.

8. Claude leFoRt: „The Permanence of the Theologico-Political?“, in: Hent de VRies

Lawrence und E. sulliVan (Hrsg.), Political Theologies. Public Religions in a Post-Secular World, New York, Fordham University Press, 2006, 148-187.

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Strukturen zu tun, die der Anerkennung der Mehrheit bedürfen. Auf dieser Folie ist ein Aspekt von politischer Theologie auch, wie eine Gesellschaft oder ein Machtverhältnis sich als legitim oder naturgegeben präsentiert. In diesem Kontext erscheinen Gensichens Revolutionstrauerspiele, die durch ihre rhetorische Struktur die deutsche modern-liberale Politik indirekt unterstützen und ihre Ambivalenzen zeigen. Wie die Lektüre im zweiten Teil dieses Beitrags darlegen wird, expliziert Gensichen den theologischen Subtext, der in postfeudalen Gesellschaften meistens nur unterschwellig fortwirkt. Die These hier ist, um es mit Lefort zu sagen, dass Gensichen „re-exploits seemingly discredited theologico-political categories to make an apologia for modernity.“9 Seine zwei Stücke präsentieren sich darüber hinaus als Palimpseste, die sich mit politisch-theologischen Anzeichen früherer Aneignungen des Revolutionsstoffes auseinandersetzen. Deshalb beleuchten die folgenden Abschnitte den Entstehungskontext und die Intertexte der zwei Trauerspiele aus politisch-theologischer Perspektive.

Politische Theologie als Gegenwartsthema zur Zeit der Reichsgründung

Politische Theologie wurde zur Zeit der deutschen Reichsgründung (1871) in zwei Bereichen zu einem wichtigen politischen Diskussionsthema. (i) Die ersten Jahre des deutschen Kaiserreichs wurden durch Bismarcks Kulturkampf gegen die katholische Minderheit geprägt. Damit versuchte er nicht nur die angebliche ultramontanistische Einflussnahme des Papstes zu verringern, sondern vor allem die sog. „innere Reichsgründung“ durchzusetzen. Bismarck verwirklicht damit (teilweise) die Trennung von Staat und Kirche, die schon die erste Französische Revolution forderte. (ii) Genauso wichtig ist das Dispositiv der Realpolitik, das das politische Bewusstsein in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eingehend und dauerhaft geprägt hat. Die 1848-Erfahrung stellte für viele den endgültigen Beweis dar, dass politisches Handeln aufgrund von universellen Gesetzen und Idealen zum Scheitern verurteilt ist. Prinzipien werden als quasi-theologische Dogmen, idealistische Prinzipientreue wird als abstrakte und weltfremde Schwärmerei desavouiert. Das behauptet etwa Ludwig von Rochau, der sich nach der Desillusion 1848 von einem Idealisten in einen politischen Pragmatisten verwandelte. In Grundsätze der Realpolitik (1853) introduziert Rochau den Begriff „Realpolitik“, der die Bedeutungsverschiebung des Liberalismus zeigt. Rochau versteht Politik als eine materialistische, praktische Wissenschaft, die die öffentliche Meinung und Machtverhältnisse im Staat erforscht, verstärkt und zum begünstigten Objekt von Maßnahmen macht.10 Der Staat ist eine Art lebendiger, sich entwickelnder Organismus mit einem Volksgeist. Der politische Führer ist von dem Willen und den inneren Gesetzen dieses Organismus abhängig.11 Der Geltungsbereich der Politik soll jedenfalls zeitgemäß sein, ist aber auch scheinbar „immanent“:

9. Claude leFoRt: „The Theologico-Political?“: 170.

10. Ludwig von Rochau, Grundsätze der Realpolitik, angewendet auf die staatlichen Zustände Deutschlands, Stuttgart, Karl Göpel, 1853. Siehe auch John bew, Realpolitik. A History, Oxford, Oxford University Press, 2016, 21-30 und 47-64. Bew beschreibt Rochaus Werdegang als prototypisches Beispiel für die Meinungsänderung von vielen Zeitgenossen.

11. So konzipierten nicht nur Rochau und etwa Wilhelm Heinrich Riehl, sondern auch Thomas Carlyle und Heinrich von Treitschke ihren Helden. Siehe neben dem Aufsatz von Oliver Kohns in diesem Band auch Jens noRdalm, „Der gegängelte Held. ‚Heroenkult’ im 19. Jahrhundert am Beispiel Thomas Carlyles und Heinrich von Treitschkes“, in: Historische Zeitschrift 2003, 3, 276, 647-675.

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Rochau stellte seine realpolitischen Grundsätze als „Erfahrungswissenschaft wie die Naturkunde“ vor und postulierte eine Analogie zwischen Politiklehre und Naturwissenschaft, die beide die „Wirklichkeit“, die „sinnliche Erscheinung“ bzw. den „sachlichen Stoff“ analysierten und sich damit fundamental vom irrealen „politischen Idealismus“ unterschieden.12

Politik und das Gesetz sollten sich m.a.W. nicht auf dem Prinzip der Deduktion, sondern auf einer induktiven Methode stützen: darin liegt der Unterschied zwischen Idealismus und Realpolitik. Rochaus Denken war als ideologische Unterstützung des ambivalenten deutschen Republikbegriffs geeignet. Dass er in einem zweiten, 1869 veröffentlichten Band Grundsätze der Realpolitik Bismarck als den Realpolitiker schlechthin hochstilisierte, untermauerte die ambivalente Definition des deutschen Republikanismus.

Damit die als objektiv verstandene Realpolitik erfolgreich sei, brauche man einen sachkundigen Führer, der die Nöte des Volkes versteht und die Gesamtkraft des Staats mit tüchtigen Maßnahmen zu befördern versucht. Diese Sehnsucht nach großen Männern und geschichtslenkenden Helden13 lässt sich mit der Faszination für die Protagonisten politischer Wendepunkte verknüpfen. Während Bismarck 1871 die pragmatische und moderne Politik verkörperte, wurden einige französische Revolutionäre vom Jahre 1789 als Wegbereiter des realpolitischen Modells gefeiert. Insbesondere Mirabeau, Georges Danton („le Mireabeau du populace“)14 und Napoleon wurden in populären Wissenslexika15 und in den maßgebenden historischen Übersichtswerken16 als heroische Vorbilder hochstilisiert.

12. Peter stemmleR, „‚Realismus’ im politischen Diskurs nach 1848. Zur politischen Semantik des nachrevolutionären Liberalismus“, in: Edward mcinnes und Gerhard PlumPe (Hrsg.), Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit 1848-1890, München, dtv, 84-107, hier 92. Vgl. Sabine becKeR: Bürgerlicher Realismus, Tübingen, Francke, 2003.

13. Heinrich von Treitschke hat nie verheimlicht, dass Rochaus Konzeption von Realpolitik sein Denken beeinflusst hat. Wie Rochau desavouiert Treitschke politische Idealisten mit ihren

„Luftschlössern“. Treitschkes Heldenbegriff basiert auf eine realistische Haltung, die mit dem aktuellen Leben im Staat rechnet. Darin stimmten ihm viele andere Zeitgenossen zu – denke etwa an Ludwig Feuerbach, August Comte, Karl Twesten, Carl Lemcke, Constantin Frantz, Wilhelm Heinrich Riehl, Julius Fröbel, Anton Springer und Hans Rosenberg. Siehe Peter stemmleR: „Realismus“, 85- 86. Vgl. Jens noRdalm: „Der gegängelte Held“, 647-675.

14. Allerdings darf nicht vergessen werden, dass Historiographen wie Jules Michelet (Histoire de la Révolution Française, 1847) und Wilhelm Blos (Die Französische Revolution. Volksthümliche Darstellung, 1888) Danton als Verteidiger der Armen bzw. des Proletariats verstanden.

15. Das Meyers-Konversationslexikon (die zweite Auflage 1871-1873 und fünfte Auflage 1896- 1901) minimiert Mirabeaus notorisch unsittlichen Lebenswandel, wodurch seinen politischen Pragmatismus stärker nach vorne kommt. Während Dantons äußerliche und rhetorische Qualitäten mit einer unverkennbaren Bewunderung hervorgehoben werden, erscheinen sein politischer Fanatismus – unter seiner Führung seien die Cordeliers radikaler als die Jakobiner gewesen – und seine Beziehungen zum Volk, das von ihm immer wieder zur Gewalt angestachelt wird, in einem negativeren Tenor. Als nicht korrumpierter, integrer Justizminister bzw. Organisator des Schreckenssystems „ließ [Danton] sich hierbei nicht von persönlicher Feindschaft, sondern lediglich von dem Zwecke des Fortgangs der Revolution leiten“. (1871, 5. Band, 264) Er war zudem ein protoliberaler Herold von Vernunft und Humanität. Das Herder-Konversationslexikon (1854), das die gleiche Mirabeau- und Danton-Figuration vermittelt, nennt Danton Mirabeaus „plebejisches Abbild“. (1854, 4. Band, 737-738) Lexika wie das Brockhaus Conversationslexikon (12. Auflage 1878 und 14. Auflage 1898), das Staatslexikon, die beide Mirabeaus Realpolitik loben, betonen neben Dantons Untugenden auch seine rhetorischen und geistigen Gaben als demagogischer Politiker.

Das Pierer-Lexikon (4. Auflage 1857-1865, 5. Auflage 1867-1872, 6. Auflage 1875-1879) stellt Danton hingegen einseitig negativ als ehrgeiziger, genusssüchtiger, korrupter Revolutionär dar. Robespierre erscheint in allen Lexika einstimmig als feiger, argwöhnischer, demagogischer, blutrünstiger Radikalrevolutionär und Tyrann.

16. Adolphe thieRs: Histoire de la Révolution française. 10 Bände, Paris, Lecointre et Durey, 1823- 27. Siehe etwa S.130ff. im ersten Band. François miGnet: Histoire de la révolution française, Paris, Firmin Didot père et fils, 1824.

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Ihre gemäßigte, aber tatkräftige Politik moderner Prägung wird als Modell und Realpolitik avant-la-lettre präsentiert. Mirabeau war eine Identifikationsfigur, weil er in De la monarchie prussienne sous Frédéric le Grand (1788) die „zeitgemäßen“ preußischen Reformen nach 1807 antizipierte. Robespierre und Saint-Just haben hingegen einen politischen Idealismus vertreten, der als eine theologische Politik zurückgewiesen wird. Noch 1935 behauptet der Biograph Friedrich Sieburg, dass Robespierre keine Politik, sondern Religion betrieben hat.17 Die Charakterisierung von Robespierre als einem unbestechlichen, streng stoischen Idealisten, der sein sozialpolitisches Programm wie ein Inquisitor ohne Rücksicht auf andere Meinungen und mit Terror durchsetzen wollte, ist bis heute ein klischeeartiges und revisionsbedürftiges Porträt geblieben.18 In den Revolutionsgeschichten des 19. Jahrhunderts ist Robespierre zusätzlich zum Symbol für die blutrünstige Gewalt der Guillotine im Namen dieses politischen Idealismus geworden. Sein rousseauistischer Utopismus hat in seinem tyrannischen Auftreten resultiert. Die Vokabeln, die mit Robespierre verknüpft werden, überlappen mit jenen, die in der politischen Idealismus-Debatte verwendet werden. Zudem hat Robespierre – so die communis opinio – eine Vorstufe des Kommunismus vertreten. Für viele liberale Historiographen wie Heinrich von Sybel lieferte der Terror deshalb ein mahnendes Beispiel davon, wie das Endergebnis einer (blutigen) Revolution im Namen der sozialistischen Utopie möglicherweise aussehen würde: ein „System des populären Despotismus“, der „despotische Kommunismus“.19 Stattdessen versinnbildlicht Danton als revolutionsgesättigter Hedonist im kollektiven Gedächtnis einen bürgerlich-liberalen Freiheits- und Führungsbegriff. Immer wieder rekurrieren die Beschreibungen seiner Politik auf ein Vokabular, das sich dem semantischen Feld der „modernen“ Realpolitik verpflichtet.

Robespierre als Märtyrer im sozialistischen Geschichtsbewusstsein

Welche Revolutionäre als Helden rezipiert werden, hängt von der politischen Vision des Autors ab. Obwohl die Zuschreibungen variieren, lässt sich in sowohl in Historiographie wie auch in Literatur feststellen, dass Mirabeau und Danton zu bürgerlichen Identifikationsfiguren geworden sind. Obwohl sowohl die hegemoniale wie auch die sozialistisch geprägte Historiographie von einer Eins-zu-eins- Beziehung von Jakobinertum und Kommunismus ausgehen, war die Aneignung von Robespierre als Leitfigur der Arbeiterbewegung problematischer. Das zeigen die Darlegungen in sozialistischen Kreisen. Wilhelm Liebknecht und August Bebel, die 1869 auf dem Eisenacher Kongress die sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) gründeten, betrachten Robespierre als Revolutionär, der mit seiner Tugendidee und Eigentumsvorstellung die kleinbürgerlichen Interessen vertreten hat. Auch kritisiert Liebknecht in seiner Geschichte der Französischen Revolution in Abrissen seine blinde Nachfolge von Rousseau, der für eine Rückkehr zu einem verlorenen paradiesischen

17. Friedrich siebuRG: Robespierre, Berlin, Societäts-Verlag, 1935.

18. Dieses Bild findet den Ursprung in der antirobespierristische Propaganda seinem Tod im Thermidor 1794. Siehe Jean-Clément maRtin: Robespierre. La fabrication d’un monstre, Paris, Perrin, 2016.

19. Heinrich von sybel: Geschichte der Revolutionszeit. 5 Bände, Düsseldorf, Buddäus, 1853-1879, 2. Bd., 455.

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Zustand plädiert hat.20 Liebknecht beharrt demgegenüber auf Marx’ Diktum, dass

„die soziale Revolution des 19. Jahrhunderts [...] ihre Poesie [...] nur aus der Zukunft schöpfen“ kann. (MEW VIII, 117)

Im Gegensatz zu den ablehnenden Stimmen bei einigen Linken gab es in sozialistischen Kreisen auch eine positive Einschätzung von Robespierres Ideologie.

Lobpreisungen für Robespierre münden oft in Idolatrie, die Liebknecht als irrational und religiös ablehnt. Liebknecht sieht die Revolution aus marxistischer Perspektive als „Kollektivarbeit“ des Volkes. Für ihn konnte die Revolution nie die Leistung von einzelnen Figuren oder „großen Männern“ sein, ebenso wenig wie Ludwig XIV. trotz seiner Ansprüche den Staat verkörperte.21 Er betrachtet die Deutung der Revolutionsgeschichte als Projekt von „Heroen“ durch die Parallele zu feudalen Heroisierungen m.a.W. als einen Rückfall in ein System von Aberglauben bzw. eine politische Theologie. Nicht nur die Geschichtsauffassung der nationalliberalen Historiographen (Treitschke, Niebuhr, Häusser, Sybel) wird anvisiert. Liebknecht verschont auch die Befürworter einer radikalen Revolution nicht, die den sozialen Fortschritt als Leistung von einzelnen Fürsprechern verstehen. So sieht Louis Blanc Robespierre in seiner Revolutionsgeschichte stets als Repräsentant von „la cause du peuple“, „justice pour tous“, „le droit“, „respect pour la représentation nationale“,

„le culte de la règle“.22 Als Verfechter der solidarischen Brüderlichkeit wollte er – so Blanc – wie moderne Sozialisten den Klassenkonflikt innerhalb des Staates lösen, ohne sich an Volksschmeichelei oder Demagogie schuldig zu machen.23 Dass ein Revolutionär wie Blanc Robespierre als einen außergewöhnlichen Träger der ganzen Revolution betrachtet hat, desavouiert Liebknecht scharf als „theologische[n] Wunderglauben“.24

Der theologische Subtext in den linken Robespierre-Bildern lässt sich auch in der messianischen Bildlichkeit spuren. Eine Tradition von Robespierre-Apologien wirkt bis heute fort. Robespierre wird hier als „l’utopie de la Révolution“25 und

„l’incarnation vivante de la Révolution“26 betrachtet: Er wird als uneigennütziger Vorkämpfer von Volk und Gerechtigkeit dargestellt. Sein Sturz ist von reaktionären Volksfeinden organisiert worden. In diesem Kontext war das Bild des geopferten Märtyrers vielsagend: Robespierre hat sich für das Gute hingegeben. Nicht nur bei Louis Blanc, sondern auch bei Historiographen wie Filipo Buonarroti (Histoire de la Conspiration pour l‘Égalité, 1828), Barthélemy Haureau (La Montagne, 1834), Albert Laponneraye (Oeuvres Choisis de Robespierre, 1832), Alphonse Esquiros (Histoire des Montagnards, 1847), Ernest Hamel (Histoire de Robespierre, 1865-1867) und Karl Brunnemann (Maximilian Robespierre, 1885) taucht das Bild von Robespierre als

20. Wilhelm liebKnecht: Geschichte der französischen Revolution im Abrisse und in Skizzen, Dresden, Schnabel, 1890, 84-85.

21. Wilhelm liebKnecht: Geschichte, 74-75.

22. Louis blanc: Histoire de la Révolution Française. 13 Bände, Brüssel, Meline, Cans et Compagnie, 1847-1863.

23. Ein Anarchist wie Mikhail Bakunin lehnt jede Form von staatlicher Autorität als politischer Theologie ab – auch Blancs Staatssozialismus. Bakunin nennt Blanc einen „Robespierre en miniature, cet adorateur du citoyen intelligent et vertueux, [qui] est le type du communiste d’état, du socialiste doctrinaire et autoritaire.“ Mikhail baKunin: Michel Bakounine et l’Italie 1871-1872. Première partie: la polémique avec Mazzini. Leiden, Brill, 1961, 331.

24. Wilhelm liebKnecht: Geschichte, 71.

25. So heißt es bei Alphonse de lamaRtine: Histoire des Girondins. 8 Bände, Paris, Furne, 1848, 1. Band, 40.

26. Ernest hamel: Histoire de Robespierre. Tome I: La Constituante, Paris, Lacroix, 1865, xi.

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einem unzeitgemäßen Märtyrer für die soziale Gerechtigkeit auf. Sein Kampf für die Rechte des Volkes wird so in ein dichotomisches Weltbild eingebettet. Der Streit zwischen Robespierre und seinen Feinden wird als universeller Konflikt zwischen Gut und Böse repräsentiert. Während Robespierre das Gute und Gerechte vertreten hat, beschuldigen die sozialistische Historiographen seine bürgerlichen Feinde davon, nur ihre eigenen Klasseninteressen durchgesetzt zu haben. In der Darstellung dieses Konflikts wurde der Vergleich mit dem Opfertod Jesu zu einem Topos. Wegen der (vermeintlichen) Legitimität von Robespierres Märtyrerstatus konnten Parallelen zwischen den Ereignissen 1794 und der Passion Christi hervorgehoben werden. In diesen Darstellungen bekommt Robespierre wie Christ eine Dornenkrone, er wird gefoltert und als „Majesté“ verhöhnt. Robespierre- Apologeten wie Adolphe Esquiros und insbesondere Ernest Hamel übernahmen dieses Bild und fügten biblische Details hinzu, wie z.B. den Hinweis auf die Geschehnisse im Gethsemanegarten. Die Passionsgeschichte stellt in diesen Fällen, wie Klaus Deinet darlegt, eine rhetorische Strategie bereit: wie die Christen glauben an die Ethik der Nächstenliebe, die sich im Opfertod Jesu bestätigt hat, versuchen Robespierres Apologeten seine frühsozialistische Vision als nachzufolgendes Modell vorzustellen.27 Robespierres exemplum und Utopie werden m.a.W. in der Erinnerungskultur und in dem Aktivismus der sozialen Bewegung „lebendig“

gehalten.

Das Terror-Regime als tragischer literarischer Stoff

Schriftsteller begriffen früh das dramatische Potential des Terrorstoffes. Nicht nur der Konflikt zwischen der bourgeoisen Gironde und der radikalrevolutionären Bergpartei, sondern auch der politische Kampf auf Leben und Tod zwischen dem Idealisten Robespierre und dem Gemäßigten („indulgent“) Danton wurde so zu einem nachhaltigen literarischen Stoff in ganz Europa und nicht zuletzt in Deutschland.

Dass es dabei hauptsächlich um historische Tragödien und Trauerspiele handelt, erklärt die Art des Themas. Erstens bezieht das Trauerspiel sich seit seinen Ursprüngen im 18. Jahrhundert auf Gegenstände und Figuren, die das aufkommende Bürgertum in seiner Konkurrenz mit der Aristokratie ins rechte Licht rücken.28 Hier liefert die Französische Revolution eine Menge an prototypischen Geschichten. Zweitens spielen einige gattungsspezifische Aspekte eine Rolle. Mit den Grenzen und den Gesetzmäßigkeiten des politischen Handelns und mit Fragen von Recht und Gerechtigkeit hatten Tragödie und Trauerspiel es seit jeher zu tun. Auch die Revolutionsstücke thematisieren fortwährend die Frage, welchen Gesetzen und Notwendigkeiten Souveräne Rechnung zu tragen haben. Wenn nun „das Tragische“

nach Hans-Thies Lehmann die ästhetische „Figuration einer Überschreitung“

ist und mit der „Erfahrung von Schrecken“ zusammenhängt, kann Robespierre aus bürgerlich-liberaler Perspektive als prototypische tragische Figur betrachtet werden.29 Der Schrecken hat nach den meisten bourgeoisen Kommentatoren des 19.

Jahrhunderts den Rahmen desjenigen gesprengt, was sie als legitime und vernünftige Politik verstanden. In fast allen Revolutionsstücken stellt Robespierre eine exzessive

27. Klaus deinet: Die mimetische Revolution. Die französische Linke und die Re-Inszenierung der Franzosischen Revolution im neunzehnten Jahrhundert (1830-1871), Stuttgart, Jan Thorbecke, 2001, 105ff.

28. Franziska schössleR: Einführung in das bürgerliche Trauerspiel und das soziale Drama, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2003, 26.

29. Hans-Thies lehmann: Tragödie und dramatisches Theater, Berlin, Alexander, 2015, 62, 75ff.

und 85ff.

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Schonungslosigkeit dar: sein Name erinnert direkt an die Guillotine und an den Terror. Daneben wird hervorgehoben, dass die Eskalation mit Robespierres Sehnsucht nach der absoluten Gesellschaft zusammenhängt. Das Ausbleiben des Idealergebnisses hat er mit Terror zu kompensieren versucht. Das Unvermögen, um im Umgang mit Andersgesinnten und mit dem menschlichen Leben Maß zu halten und Milde an den Tag zu legen, hat grenzenloses Leid zur Folge gehabt und im Thermidor zur tragischen Selbstvernichtung geführt.

Die tragischen Darstellungen sind normativ. Robespierre ist fast in allen Stücken ein Beispiel ex negativo: anhand seines tragischen Schicksals bewirken die meisten Autoren, „daß [ihr Publikum] über das je Gezeigte hinauszublicken meint auf etwas Allgemeineres.“30 Die Stücke inszenieren ihren Gegenstand so als eine Lehre in der postfeudalen Kunst des Regierens. Sie führen die vermeintlichen Gründe für die blutige Eskalierung der Revolution vor. Daneben zeigen die Revolutionsdichter, was ihr Publikum als legitime Alternative (Mirabeaus Konstitutionalismus oder Dantons Pragmatismus) für die illegitime Staatsgewalt (Robespierres „Pöbelherrschaft“) verstehen sollte. Gattungsmerkmale der Tragödie bzw. des Trauerspiels, wie die Peripetie oder das Moment der tragischen Einsicht des Protagonisten in die eigene Schuld, ermöglichen es, um dem Publikum eine klar umrissene Botschaft zu vermitteln: welche Art Politik und Führer sind wünschenswert und legitim? Auch Gensichen schreibt seine Revolutionstrauerspiele Danton und Robespierre in dieser nachhaltigen Tradition von revolutionären Lehrstücken ein.

Spätestens in Georg Büchners Drama Danton’s Tod (1835) wurde die Französische Revolution als literarischen Reflexionsraum verwertet, um die ethischen Fragen, Rahmenbedingungen und Grenzen politischen Handelns in postfeudalen Umständen vorzuführen.31 Bei Büchner kommt es zu einer radikalen Problematisierung aller revolutionär-politischen Erlösungsvisionen, die der Realität nicht entsprechen und gerade wegen dieser Inkompatibilität zu gewalttätigen Lösungen, Zwangsmaßnahmen und Entfremdung Anlass geben. Die Antagonisten Danton und Robespierre vertreten in der Öffentlichkeit beide die Utopie einer totalinklusiven Gemeinschaft, die sich in der Praxis nicht einfach durchsetzen lässt und sich bei näherer Hinsicht als politisches Wunschbild herausstellt. Auf rhetorischer Ebene betreibt Büchner zur Kritik des revolutionären Utopismus ein Spiel mit den messianischen Topoi, die das historische Denken über die Revolution geprägt hatten. Sein Drama stellt die Vorstellung von Robespierre als Erlöser der Massen in Frage:

30. Hans-Thies lehmann: Tragödie, 63.

31. Obwohl Büchners Danton’s Tod seit der Erstveröffentlichung 1835 erst 1879 mit Karl Emil Franzos Werkausgabe wieder in der unzensierten Fassung vorhanden war, beziehen sich viele Revolutionsstücke explizit auf das Drama. Das verraten wortwörtliche Übereinstimmungen in den Dialogen, die sich aber noch auf gemeinsame historische Quellen – Adolphe Thiers’

und François Mignets auflagenreiche Revolutionsgeschichten, woraus Büchner oft buchstäblich zitiert – zurückführen ließen. Ausschlaggebend sind hier die Zeugnisse der Schriftsteller selbst, die ihr eigenes Stück im Paratext gegenüber Büchners „moderner“ Ästhetik zu positionieren versuchen. Dass Büchners Stück in irgendeiner Form zirkulierte, zeigen auch die Rezensionen von Revolutionsstücken. Ein anonymer Rezensent kritisiert Otto Franz Gensichens Danton in der Grazer Tagespost (30.04.1870) und in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung (03.05.1870) mit einem Vergleich mit Büchners als überlegen angesehener Figurencharakterisierung. Im Gegensatz zu Büchners Dramenpersonal seien Gensichens Figuren „Zerrbilder von einer moralischen und ästhetischen Rohheit“ und sein Trauerspiel generell ein „schlimm[er] Irrweg“. anonym: „Danton. Trauerspiel von Otto Franz Gensichen. Berlin, 1870. Verlag von L. Heimann“, in: Grazer Tagespost, 15, 113, 1870.

Daneben auch anonym: „Literarisches“, in: Norddeutsche Allgemeine Zeitung, 10, 102, 1870.

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RobesPieRRe allein. Ja wohl, Blutmessias, der opfert und nicht geopfert wird. – Er hat sie mit seinem Blut erlöst und ich erlöse sie mit ihrem eignen. Er hat sie sündigen gemacht und ich nehme die Sünde auf mich. Er hatte die Wollust des Schmerzes und ich habe die Quaal des Henkers. Wer hat sich mehr verleugnet, Ich oder er? –

Und doch ist was von Narrheit in dem Gedanken. –

Was sehen wir nur immer nach dem Einen? Wahrlich des Menschensohn wird in uns Allen gekreuzigt, wir ringen Alle im Gethsemanegarten im blutigen Schweiß, aber es erlöst Keiner den Andern mit seinen Wunden.32

Die Aussichtslosigkeit steht im Widerspruch zur utopischen Hoffnung.

Robespierre erscheint als ein verkehrter Messias. Der Ausdruck „Blutmessias“ ist als Kritik an Robespierres politischer Theologie gemeint. Obwohl Büchner seinen Robespierre den Erfolg der sozialen Revolution in so Zweifel ziehen lässt, heißt es nicht, dass er Dantons liberale Utopie einfach als eine Alternative präsentiert. In Danton’s Tod zeigt Büchner, dass er sich der Exklusionsmechanismen und Gewalt bei der Implementierung der liberaldemokratischen Ideale bewusst war. Die individuelle Freiheit kann in einer Gemeinschaft nie ohne Grenzen sein und hängt von „externen“ moralischen Einschränkungen ab, die jeden Freiheitsbegriff im Rahmen einer Gemeinschaft erst ausführbar machen. Spätere Revolutionsstücke thematisieren solche Schranken der „praktischen“ Freiheit nicht mehr: entweder sie bejahen Robespierres Messianismus oder sie ersetzen seine politische Theologie mit einer angeblich realistischeren Alternative.

In der Rezeption des Revolutionsstoffes lässt sich beobachten, wie stets mehr Deutungsmuster und Intertexte verknüpft werden, um Robespierres exzessive und illegitime Politik darzustellen. Gensichens Trauerspiele bilden vor diesem Hintergrund den Höhepunkt einer Tradition, deren Zwischenstationen zumindest fünf andere exemplarische Robespierre-Stücke sind. Es handelt sich um fünf Stadien in der literarischen Robespierre-Rezeption. (i) Spätestens Robert Griepenkerls Trauerspiel Maximilian Robespierre (1851)33 stellt den Konflikt zwischen Robespierre und den Thermidorianern anhand von einem Vergleich mit der altrömischen Republik dar. Robespierre wird als Tyrann und Caesar, die Robespierre-Putschisten als Brutusse, Thermidor als Iden von März dargestellt.

Diese Parallele ist in der Robespierre-Rezeption üblich. (ii) Rudolf von Gottschall zeigt in Robespierre (1846), dass die Titelfigur nur mit den eigenen Waffen geschlagen werden kann. Indem die Thermidorianer den Schrecken übertreiben, versuchen sie die Volksgunst gegen Robespierre zu wenden. Die Beseitigung von Robespierre soll den Weg bahnen für eine mildere Regierung. (iii) Ferdinand von Heinemann stellt diese versöhnende Politik zusätzlich als eine christlich inspirierte Praxis dar.34 Gnade, Liebe und Mitleid sind die Ecksteine einer politischen Ethik, für deren Vertreter und Märtyrer er Danton hält. (iv) Wilhelm von Ising beschreibt in seinem Robespierre (1859) Dantons Ethik der Nächstenliebe als eine universelle, transzendente Wahrheit: „Die Sache, welche [Danton] verfocht, sie steht in heiligem

32. Georg büchneR: Sämtliche Werke. 1. Bd. Dichtungen und Übersetzungen, München, Hanser, 1979, 30-31.

33. Robert GRiePenKeRl: Maximilian Robespierre. Trauerspiel in fünf Aufzügen, Bremen, Schlodtmann, 1851.

34. Ferdinand von heinemann: Robespierre. Trauerspiel in fünf Aufzügen, Braunschweig, Meyer, 1850.

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Schutze, und Du [Robespierre] bist nur ein Mensch! Nachtwandler, wache auf!“35 Robespierres Vorstellungen von Gemeinschaft und Gesetz sind Hybris, weil sie mit einem unantastbaren ethischen Kode der menschlichen Rücksicht brechen. Auch Ising beschreibt Robespierre als einen falschen Messias, der sein Ideal zu Unrechte als Ausdruck des göttlichen Willens betrachtet. Es gibt hier m.a.W. zwei Gesetze: das ewige, unhinterfragbare Gesetz von Gott (Liebe, Menschenwürde und Mitleid) und das provisorische, brüchige Gesetz des Menschen (Gewalt und Terror). Robespierre bittet am Ende des Trauerspiels um Verzeihung für den Hochmut, dass er sich mit seinen gesetzlichen Vorstellungen zu Unrechte als Gottesgesandter verstanden hat. Obwohl er sich geistig mit Gott versöhnt, bringen seine Feinde, unwissend über seine Reue ihn physisch als Diktator um. (v) Der Topos, dass Robespierres Utopie erhaben, aber unverstanden geblieben ist, finden wir in Robert Hamerlings Tragödie Danton und Robespierre (1870). Hamerling vergleicht Robespierre mit der Sphinx von Theben, weil seine Absichten für die Zeitgenossen noch ein Rätsel gewesen sind.36 Im Gegensatz zu Hamerling lehnt Gensichen Robespierres Utopie ab. Dazu konfiguriert er die historiographischen und literarischen Prätexte so, dass die messianische Metaphorik prominenter im rhetorischen Gewebe der Trauerspiele eingezeichnet wird.

Gensichens Revolutionstrauerspiele

Wenn Gensichen den revolutionsgesättigten, mitleidsvollen Danton als bürgerlichen Helden und den radikalen, rücksichtslosen Robespierre als dämonische Figur des Exzesses charakterisiert, setzt er sich mit den Topoi der historiographischen und literarischen Prätexte auseinander. Was seine Werke aber unterscheidet, ist die eigentümliche Anwendung von religiösen und messianischen Metaphern. Die hier vertretene These ist, dass die theologischen Intertexte das hegemonische realpolitische Dispositiv als eine universelle, heilige Wahrheit kodieren; umgekehrt lehnt er eine Politik aufgrund von unwandelbaren Prinzipien mit religiösen Bildern ab. Auch werden die politischen Methoden auf Danton bzw. Robespierre projiziert.

Auf der eine Seite macht die theologische Diskursebene Danton zum Messias, was so eine postume imitatio Dantonis und ein Nachleben seiner politischen Vision und Praxis in Aussicht stellt. Auf der anderen Seite geschieht das Umgekehrte mit Robespierre: Letzterer soll total verschwinden, indem sein Körper beseitigt und die von ihm verkörperten Ideale als Trugbilder widerlegt werden. Der Logik der Trauerspiele zufolge darf Robespierre nicht, wie bei einigen Kommunisten, in seiner Lehre weiterleben. Gensichen lässt Robespierre m.a.W. zweifach verschwinden.

Obwohl Gensichen die feudale und robespierristische politische Theologie ablehnt, befürwortet er die Realpolitik. Letztere ihrem Selbstverständnis nach unreligiöse Politik versucht als eine sakrale, universelle Wahrheit darzustellen. Das macht er, indem er

35. Wilhelm von isinG: Robespierre. Trauerspiel in fünf Aufzügen, Cassel, Bohne, 1859, 109.

36. Robert hameRlinG: Sämtliche Werke. 16 Bände, Leipzig, Hesse und Becker, 1910, 38-39.

Hamerlings Tragödie Danton und Robespierre wurde 1870 erstveröffentlicht. Napoleon umschrieb Robespierre schon als jemand, der niemals „bien connu par l’histoire“ sein würde. Auch Barère gesteht in seinen Mémoires, dass „nous n’avons pas compris cet homme“. Lamartine macht Robespierre zum Symbol mit der Feststellung, Robespierre sei „le dernier mot de la Révolution, mais personne ne pouvait le lire.“ Gleiche Stimmen findet man etwa bei den Biographen Heinrich Elsner, Johannes Hermann und Rudolf Gottschall. Heinrich elsneR: Maximilian Robespierre. Dictator von Frankreich.

Vollständige Geschichte seines Lebens mit Sammlung seiner Reden, Stuttgart, J. Scheible’s Buchhandlung, 1838. Johannes heRmann: Robespierre’s Leben. Ein Beitrag zur Geschichte der ersten französischen Revolution, Berlin, Nauck, 1871. Rudolf Gottschall: „Maximilian Robespierre“, in: Der neue Plutarch, 1875, 2, 1-122.

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den Vertreter dieses Modells als einen Märtyrer mit Messias-Ansprüchen stilisiert.

Politik und Theologie sind trotz der Abgrenzungsversuche im ursprünglichen Realpolitik-Begriff nicht mehr „sauber“ getrennt; Politik und Theologie werden im rhetorischen Gewebe der zwei Trauerspiele vernetzt. Diese Spannung soll im Rest des Aufsatzes analysiert werden.

Danton als Märtyrer und Messias

Gensichen präsentiert Danton als rechtschaffen(d)en Politiker, der sowohl im privaten wie auch im öffentlichen Raum den anderen Figuren moralisch überlegen ist. Während die historischen Quellen Danton hauptsächlich als einen liederlichen Weibernarren darstellen, lässt Gensichen ihn aufrichtige Liebe für Ehefrau und Kind empfinden; während die Quellen Danton als Betrüger und Manipulator darstellen, ist Gensichens Danton im Gegensatz zu seinen Antagonisten aufrichtig und vernünftig. Gensichen tut alles daran, damit sein preußisches und bürgerliches Publikum mit seiner Danton-Figur sympathisiert. Gensichen stellt Danton bereits in der Öffnungsszene seines Trauerspiels als konstruktiven Realpolitiker dar. Durch Dantons Konflikt mit den anderen Fraktionen kann Gensichen auseinandergehende politische Ideologien artikulieren und miteinander konfrontieren. Die eher bürgerliche Gironde (Mr. und Mme. Roland, Vergniaud, Lanjuinais) vertritt einen politischen Idealismus, der als weltfremd abgetan wird. Die Jakobiner (Robespierre, Saint-Just, Couthon) plädieren für eine brutale Massenerhebung.

Im Dialog zwischen Danton und den Girondisten in den ersten Auftritten zeigt sich der didaktische Zug des Trauerspiels. Gegenüber Lanjuinais, der Dantons vormalige Schreckenspolitik anvisiert, verteidigt Danton sein Bündnis mit den

„Verrätern“ Mirabeau und Dumouriez. Danton sieht sich selbst als „Außerwählten“:

danton. Wenn sich im neuen Freistaat alle Kräfte Noch nicht in’s Gleichgewicht gesetzt, wer will Mich deshalb tadeln?

lanjuinais. Könntest du dich nur Befrein von dem Verdacht, mit Mirabeau Geheime Pläne einst genährt zu haben, Wie du sie jetzt mit Dumouriez noch hegst.

danton. Ich hab’ mich oft mit Mirabeau berathen Und stehe jetzt mit Dumouriez im Bund.

Vernehmt das stolze Wort: Drei Männer schuf Das neue Frankreich, deren Schädel sich Der Genius zu seinem Sitz erkor.

Und ihre Namen? Danton, Mirabeau Und Dumouriez. Von ihnen gingen aus Die großen, schaffenden Gedanken, welche Die Republik begründet und geleitet.

Manch treffliches Talent noch findet sich In eurer Mitte, Girondisten, aber An constructiven Plänen seid ihr arm.37 37. Otto Franz Gensichen: Danton, 24-25.

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Danton schreibt seinen „Gedanken“ in Kontrast zum weltfremden Idealismus der Girondisten eine realitätsbildende, schöpferische Potenz zu: große Männer machen Geschichte.38 Danton handelt im Namen des allgemeinen gesellschaftlichen Wohls, ist ein Kind des „Genius“, verkörpert „Größe“ und praktiziert eine Politik, die das vorsichtige Mittelmaß zwischen der idealistischen und brutalen Eigenart von Gironde bzw. Bergpartei anstrebt. Sogar sein Antagonist Robespierre, der Rousseaus Theorien „geometrisch“, „logisch“ und zu jedem Preis realisieren will, bewundert bzw. befürchtet Dantons Tatkraft und Erfolg.39 Trotzdem (oder deswegen) will er ihn aufgrund seiner Realpolitik des Landesverrats bezichtigen. In einem Streitgespräch mit Robespierre und St.-Just verteidigt Danton sich gegen den Verdacht der Konterrevolution selbstbewusst:

danton. Ich Royalist? Man möge meinen Namen Als ein Memento über Kinderstuben

Der jungen Fürsten setzen, am Portale

Der Schlösser mög er prangen, als ein Mahnruf, Daß jede unumschränkte Tyrannei

Durch einen Danton wird zerschmettert werden.

Ich stehe hier, als ein Symbol der Kraft, Die ungeahnt in jedem Volke schlummert.

Ich bin kein hohler Formalist und Heuchler, Ich bin ein Mann, wie die erstaunte Erde Nur selten sehen wird, entsprossen aus Dem wilden Feuerschoße der Natur, Bin eine branddurchglühte Wirklichkeit.40

Danton vertritt nach eigener Angabe eine realistische, gemäßigte Politik. Er versteht sich als Ausfluss immanenter Volkskräfte. Als Verkörperung des Volksgeists entspricht er dem Riehl’schen und Rochau’schen Definition von Freiheit als Konkordanz zwischen Führer und Volk. Gerade diese Konzeption von Politik und Freiheit vertritt Gensichens Danton als „[r]epublikanische[s] Genie“, dem „mit Keilschriftzügen / Der Freiheit Stempel aufgeprägt“ wurde. Er hat nach eigener Angabe als Verkörperung von Fortschritt und Freiheit eine historische Sendung.

Der unbestimmte Artikel in „durch einen Danton“ und die mahnenden Worte an etwaige Despoten implizieren eine künftige imitatio Dantonis: neue Dantons werden sich gegen die Tyrannen auflehnen, die mit dem Volkswillen oder dem Zeitgeist brechen. Der Name „Danton“ gewinnt in Gensichens Trauerspiel Symbolkraft für künftige Freiheitskämpfe im Namen einer legitimen, modernen Gemeinschaft.

Anders als bei Büchner relativiert Danton den Gültigkeitsanspruch seiner politischen Vision nicht. Auch umarmt er stoisch seinen Status als Messias: er ist als Märtyrer für die Freiheit, Freundschaft und Liebe sogar zu sterben bereit. Das

38. Vgl. Michael GamPeR: Der große Mann. Geschichte eines politischen Phantasmas, Göttingen, Wallstein, 2016.

39. Otto Franz Gensichen: Danton, 63.

40. Ibid., 98-99.

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Robespierre ihn hinrichten lässt, hat eine höhere Bedeutung: Danton, der wie „ein Titan im Pantheon“ 41 fortleben wird, sieht sein ideologisches Erbe gesichert. Er drückt sich mit einem theologischen imitatio-Bild aus:

Im Blute ihrer frühesten Apostel Muß jede neue Lehre Wurzel schlagen.42

Danton prophezeit Frankreichs Zukunft darauf als jene Unterwerfungsgeschichte, als welche das Terror-Regime und die konsekutiven napoleonischen Kaiserreiche in Deutschland oft perzipiert wurden:

Aus den geborstnen, mordbefleckten Trümmern Der Republik wird sich die Diktatur

Der militärischen Gewalt erheben.

Sie, welche einen Danton tödten können, Sind nicht die Männer für die wahre Freiheit, Für ihre Nacken paßt allein das Joch

Der Sclaverei.43

Der „authentische“ bürgerliche Freiheitsbegriff ist Dantons Lehre. Das Blut der Verteidiger der wahren Freiheit in der Französischen Revolution soll deshalb nicht umsonst geflossen haben. Das Beispiel von Gerechtigkeit ist gesetzt: „Ich hab’ gehandelt für die Ewigkeit, / Jetzt laß uns schlafen gehen.“44 Die realpolitische Lehre über die „Elemente der Regierung“ 45 wird durch den Tod ihrer Vertreter als noch einzulösende Aufgabe bzw. „Predigt“ der Zukunft weitergegeben:

danton. Vielleicht, daß Mancher unter euch dem Leben Erhalten bleibt, dann predigt diese Lehre

Der durch mein Blut mit Gott versöhnten Welt:

Ein Mann, den wilde Leidenschaften treiben Zu grausen Freveln, wird doch nie so tief Zum Henker sich erniedrigen wie jene, Die kalt nach schrecklichem Systeme handeln.

[...]

Verkündet auch, daß wahre Freiheit nur Bestehen kann mit Tugend und Vernunft, Daß man ein großes Ziel mit edlen Mitteln Erstreben müsse, daß sich jede Schuld Zuletzt doch immer am Verbrecher räche.

Dies zu besiegeln, gehe ich zum Tod.

41. Otto Franz Gensichen: Danton, 115.

42. Ibid., 113.

43. Ibid. 115.

44. Ibid., 119.

45. Ibid.16.

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„Freiheit“ ist sowohl das Plädoyer in Dantons Schlussworten wie auch des Gesamtstücks:46

danton. Wer glühte für die Freiheit so wie ich?

Vollendet hab’ ich nicht, was ich entwarf,

Nicht Frankreich wird den Lohn der Mühen ernten, Ich habe für Jahrhunderte gewirkt,

Die ganze Welt ist mir zu Dank verpflichtet.

Verkündet habe ich ein neu Gesetz, Auf ihren Thronen Könige erzittert:

Nur muthig, göttliche Demokratie!

Wann du die Herrscherin auf Erden bist, Dann lehre deine Kinder milder richten Die Sünden derer, welche nicht vermochten Für dich zu reifen, unbefleckt von Schuld.47

Die Schlussworte implizieren, dass Dantons „neu[es] Gesetz“ mit der deutschen Reichsgründung eingelöst worden sei: Wie wäre Gensichen ansonsten imstande gewesen, Dantons Auftritt in der Revolution wie in diesem Trauerspiel

„milder“ zu beurteilen?

Der Gegenwartsbezug von Dantons Worten kann dem Publikum 1870 nicht entgangen sein. Dantons Verlangen nach einer Versöhnung mit Preußen und einer Feindschaft mit Österreich ist neben dem ständigen Hinweis auf das realpolitische Dispositiv ein anderes Beispiel der doppelten Zeitebene in Danton. Mit diesem erfundenen Anliegen, von dem die historischen Quellen mit keinem Wort berichten, lässt Gensichen Danton bei seinen Zeitgenossen mit ihren kleindeutschen Vorzügen sympathisch vorkommen:

danton. Rüstig stand ich

Inmitten der Parteien, brauche diese, Um jene zu bezwingen, schloß ein Bündniß Mit Schwenden ab und förderte Custines Gewalt’gen Plan, gleichzeitig an der Donau, Am Rhein und an der Weichsel Krieg zu führen, Das träge Oesterreich in Staub zu werfen Und unsren Kampf mit Preußen beizulegen.48

Mit solchen zielgerichteten Eingriffen macht Gensichen49 Danton zur bürgerlichen und deutschen Identifikationsfigur.

46. Ibid., 123.

47. Ibid., 122.

48. Otto Franz Gensichen: Danton, 63-64.

49. Gensichen macht Danton zur bürgerlichen Identifikationsfigur: er handelt aus Schuldgefühl für die verbrecherischen Septembermorde, die unter seinen Auspizien als Justizminister stattfanden und vielen Aristokraten das Leben gekostet haben. Zugleich drängt Gensichen das Klischee von Danton als liederlichem Weibernarr zurück, indem er ihn nach einer (nach bürgerlichen Maßstäben) sittlichen Liebesbeziehung sehnen lässt. Danton verkörpert die bürgerliche Moral. Die moralische Integrität seiner Person ist auffallend und wird im Robespierre-Trauerspiel von Billaud-Varennes noch stärker verkörpert.

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Robespierre als falscher Messias

Anders vergeht es dem sog. „Verbrecher“, der „kalt nach schrecklichem Systeme“ gehandelt hat, in Gensichens zweitem Trauerspiel: Robespierre. Wenn Gensichen seinen Robespierre wiederholt als „Messias“ von „Rousseau’s Lehre“, Saint-Just als „Johannes“ und Couthon als „Petrus“ aufführt,50 stellt dieses Trauerspiel gleichfalls die Frage nach legitimer Nachfolge und von Meister-Jüngerschaft:

RobesPieRRe. Ja,

Messias bin ich. Jeder ist Messias, Der in die Welt tritt, überzeugungstreu, Von einer großen, göttlichen Idee Getragen, die er zu der Menschheit Wohl, Sich selbst vernichtend, ernst verkörpern will.

O daß auch ich, wie jener Nazarener,

Euch nur mit Geist und Feuer taufen könnte!

Mir ward ein härter Loos als ihm beschieden, Ich muß ein Blutmessias sein, um Frankreich Auf Rousseau’s neue Lehre umzutaufen.51

Gensichen verwertet hier Büchners Ausdruck „Blutmessias“, um Robespierres Anspruch auf Nachfolge abzulehnen. Damit rechnet er mit der politischen Theologie jener Sparte der sozialen Bewegung ab, die Robespierre als Märtyrer und sein Ideal als zu realisierende Wahrheit verstand.

Für die Kritik an Robespierres politisch-theologischem Anspruch arbeitet Gensichens Robespierre das Sphinx-Mythologem von Hamerlings Tragödie (cf. supra) aus. Die emphatische Verwertung in der Öffnungsszene akzentuiert die zentrale Bedeutung dieses Intertexts. Die Öffnungszeilen zeigen den politikverdrossenen Gautier, der zur Gelegenheit von Dantons Guillotinierung den Ödipus-Mythos als Gesellschaftskritik aufarbeitet. Es gibt (i) das „Scheusal“ bzw. die monströse Sphinx, die verschwinden muss; (ii) das zu lösende Rätsel; (iii) die Pest bzw. die Plage, die die polis bzw. die Republik quält; (iv) den „Held“, der nach der Rettung durch einen Schicksalsschlag selbst in Unheil geraten muss. Der mythologische Prätext fungiert, wie sich im Dialog herausstellt, als subversive Schlüsselgeschichte; Gauthier ruft dazu auf, um in der Revolutionsgesellschaft die entsprechenden Positionen zu suchen:

GautieR. Das trug sich zu in grauer Heidenzeit Bei täppischen Thebanern. Doch bei uns, Im achtzehnten Jahrhundert und zumal Bei witzigen Franzosen fände sich Gewiß gar bald ein Oedipus, wenn wieder Sich eine Sphinx mit Räthseln...52

50. Otto Franz Gensichen: Robespierre, 44-45, 72, 73, 80, 102, 164, 182.

51. Ibid., 43-44.

52. Otto Franz Gensichen: Robespierre, 7.

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Die anti-robespierristische Prophetie Gautiers, der wegen seines

„Lästermaul[s]“ fast gehenkt wird, zeigt die Bereiche, in denen die

„männermörderische[] Sphinx“ geschlagen werden muss, denn „mit Kraft und Heldenmuth“ allein werde das Unternehmen nicht gelingen.53 Komplementär zu Robespierres physischer Beseitigung muss das inhaltliche Rätsel logisch gelöst werden.

Gautier deutet mit dem antik-tragischen Intertext auf jene Diskrepanz zwischen physischer Realität und systematischer Vernunft hin, die die zweigliedrige Struktur der dramatischen Handlung bestimmt.

Dem Dualismus im Plot entspricht eine doppelte Kategorisierung von Robespierres Antagonisten. Es ist sowohl von Heroisierung wie von Entheroisierung die Rede. Talliens Anhänger nehmen den irrationalen, physischen Streit auf, während Billaud mit seinem Freund Carnot die inhaltliche, rationalistische Ödipus- Rolle darstellt. Während der vernünftige Billaud als rätsellösender Heros erscheint, handelt die Thermidorianer-Faktion um Tallien als impulsive, unvermögende Bande. Demgegenüber artikulieren Billaud und Carnot konsequent das Bedürfnis, Robespierre „ohne Eigensucht“, „reinen Herzens“ und im Namen der Freiheit und des Vaterlands zu stürzen, womit sie – wie die Titelfigur von Danton – als selbstbeherrschte, rationale, opferbereite Helden einen bürgerlichen, männlichen Tugendkatalog verkörpern.54 Der Sturz von Robespierre, dem „Verräther an der Freiheit “,55 muss nicht nur an einem guten Augenblick geschehen. Auch müssen ihn aufrichtige, erhabene Figuren vollbringen, die nicht von niedrigen Privatleidenschaften gelenkt werden. Triebfeder wie Neid, Furcht, Prahlsucht oder Ehrgeiz könnten die Subversion im Namen der authentischen Freiheit besudeln und entkräften. Gensichen vermittelt die doppelte Aufgabe der Thermidorianer mit zwei Intertexten, die ihm in der früheren Robespierre-Rezeption vorlagen. (i) Hinweise auf die Iden des März deuten bei Gensichen immer auf den gewalttätigen Teil der Lösung. Deshalb vergleicht Gensichen Tallien und seine Freunde nur mit Caesar-Mördern. Robespierre hat aber keine Angst vor Talliens Brutus-Pose mit Dolch, denn er weiß, dass sein Prinzip weiterleben wird.56 (ii) Verweisungen auf die Ödipus-Geschichte haben konsequent mit der inhaltlichen Lösung von Robespierres Idee bzw. Rätsel zu tun. Robespierre muss als Haupt des Triumvirats und als Sphinx verschwinden; Billaud spielt neben dem Brutus auch den Ödipus

In der Personencharakterisierung betont Gensichen Billauds und Carnots moralische Integrität. Insbesondere Billauds Selbstlosigkeit, Tugend, „[S]trenge“57, Rechtschaffenheit, Prinzipientreue und Genie werden – im schroffen Gegensatz zu den maßgebenden historiographischen Quellen (etwa Thiers und Mignet) und in Kontrast zu Figuren wie dem „wankelmüthigen“ Barrère, der sich selber über dem Gesetz stellt – explizit hervorgehoben:

baRèRe. Gesetz und Recht! Nun ja, man braucht die Worte, Um vor dem Pöbel Manches zu bemänteln,

Jedoch wer selber die Gesetze macht, 53. Ibid., 8-9.

54. Ibid., 90-91.

55. Ibid., 29.

56. Ibid., 113.

57. Ibid., 32.

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