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„Mundus vult decipi“. Warum man sich den Hochstapler als einen glücklichen Menschen vorstellen muss

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Academic year: 2022

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67 | 2014

Quelques vérités à propos du mensonge ? (Volume 1)

„Mundus vult decipi“. Warum man sich den Hochstapler als einen glücklichen Menschen vorstellen muss

« Mundus vult decipi ». Pourquoi il faut imaginer l´imposteur heureux

„Mundus vult decipi“. Why we have to imagine the impostor as achieving happiness

Dorothee Kimmich

Édition électronique

URL : http://journals.openedition.org/ceg/1839 DOI : 10.4000/ceg.1839

ISSN : 2605-8359 Éditeur

Presses Universitaires de Provence Édition imprimée

Date de publication : 1 décembre 2014 Pagination : 223-236

ISSN : 0751-4239 Référence électronique

Dorothee Kimmich, « „Mundus vult decipi“. Warum man sich den Hochstapler als einen glücklichen Menschen vorstellen muss », Cahiers d’Études Germaniques [Online], 67 | 2014, Online erschienen am:

17 Dezember 2017, abgerufen am 04 November 2020. URL : http://journals.openedition.org/ceg/1839 ; DOI : https://doi.org/10.4000/ceg.1839

Tous droits réservés

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Warum man sich den Hochstapler als einen glücklichen Menschen vorstellen muss

1

Dorothee KIMMICH

Universität Tübingen

Einleitung: Der „Karneval der Identitäten“

Hochstapler sind nicht gerade die Lieblingsgestalten der bürgerlichen Presse, sie taugen nicht zum Erziehungsvorbild und auch nicht zum Modell für den netten Schwiegersohn. Hochstapler sind verschrien, weil sie charakterlos sind – was selbstverständlich stimmt. Das ist gewissermaßen ihre Definition. Sie verachten den Wert der bürgerlichen Biographie und haben nichts übrig für das, was wir eine Identität nennen – weder für die im Pass ausgewiesene, noch für Identität im emphatischen Sinne: Ihre Person ist mimetisch und nicht identisch. Hochstapler haben multiple Persönlichkeiten und keinen Glauben. Sie sind Verführer, aber niemals Familienväter (Mütter schon gar nicht) – und: Hochstapler sind die einzigen freien und glücklichen Menschen, die die moderne Literatur kennt.

Daher lohnt es sich, einen Blick auf Hochstaplergeschichten zu werfen. Es gibt sie in allen Jahrhunderten und in allen Literaturen der Welt, hier soll es jedoch vor allem um Texte der klassischen Moderne gehen.

Selbstverständlich werde ich auf den bekanntesten von ihnen, auf Thomas Manns Felix Krull eingehen. Ein Hochstapler ist aber auch Andreas Zumsee aus Heinrich Manns Schlaraffenland; es finden sich weitere bei Otto Julius Bierbaum, bei Hermann Bang, bei Frank Wedekind, Carl Zuckmayer, Jean Cocteau und Walter Serner. Auch den Erfinder Tobler aus Robert Walsers Gehülfen und den Vorsteher des Dienerinstituts Benjamenta aus seinem Roman Jacob von Gunten kann man als Hochstapler bezeichnen, ebenso wie Franz Xaver Zenobi, Efraim Frischs Hochstapler aus seinem gleichnamigen Roman. Hochstapler finden sich natürlich auch bei Joseph Roth – Franz

1 Die Formulierung lautet: „Mundis vult decipi, ergo decipiatur“, sie wird ursprünglich Petronius zugeschrieben.

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Tunda aus Die Flucht ohne Ende wird so bezeichnet und in einem Entwurf zu einer Autobiographie, „Erdbeeren“, sagt Roth von sich:

Ich bin eine Art Hochstapler, so nennt man in Europa die Menschen, die sich für etwas anderes ausgeben, als sie sind. Alle Westeuropäer tun dasselbe. Aber sie sind keine Hochstapler, weil sie Papiere haben, Pässe, Ausweise und Taufscheine. Manche haben sogar Stammbäume. Ich aber habe einen falschen Pass, keinen Taufschein, keinen Stammbaum. Man kann also sagen, Naphtali Kroj ist ein Hochstapler.2

Roths Hochstapler sind nicht nur ohne Pass, also ohne

„Identitätsnachweis“, sie sind auch die typischen „Osteuropäer“, die im

„Karneval der Identitäten“3 die Rolle der Verlierer spielen.

Nicht nur für den Beginn des 20. Jahrhunderts, sondern auch für die Literatur nach dem 2. Weltkrieg lassen sich viele Hochstaplergestalten ausmachen. Hingewiesen sei etwa auf Wolfgang Hildesheimers Romane, so wimmelt es z.B. im Paradies der falschen Vögel von verschiedensten Hochstaplern und sogar von – den sehr seltenen – Hochstaplerinnen. Sie sind Spioninnen, Kunstfälscher und falsche Politiker, denen es allerdings gelingt, trotz aller Gefahren ein fröhliches, ausgefülltes Leben zu führen. Berühmt geworden ist auch Natalie Zemon Davis’ Die wahrhaftige Geschichte von der Wiederkehr des Martin Guerre.4 Der jüngste Hochstaplerroman, den ich ausmachen konnte, stammt aus dem Jahr 2012: Michael Köhlmeiers Die Abenteuer des Joel Spazierer.5

Die literatur- und kulturwissenschaftliche Forschungsliteratur zum Thema Hochstapler widmet sich meist der Interpretation einzelner Werke. Oft handelt es sich auch um historische Dokumentationen, etwa Untersuchungen zum berühmten Fall des rumänischen Heiratsschwindlers Manolesco,6 dessen zweibändige Memoiren Thomas Mann für seinen Krull verwendete. Es finden sich allerdings vereinzelt auch Vorschläge, den Hochstapler als kulturtheoretischen Kommentar zur Moderne oder auch kulturkritische Figur

2 Joseph ROTH, „Erdbeeren“, in ders., Romane und Erzählungen 1916-1929, Bd. 4, Köln, Kiepenheuer & Witsch, 1989, S. 1008-1036, hier S. 1008.

3 Sighard NECKEL, „Bluffen, Täuschen und Verstellen, Bemerkungen zu einer Variante des Leistungsprinzips“, in ders., Die Macht der Unterscheidung. Essays zur Kultursoziologie der modernen Gesellschaften, Frankfurt am Main, Campus, 2000, S. 60-66, S. 61.

4 Nathalie Zemon DAVIES, Die wahrhaftige Geschichte von der Wiederkehr des Martin Guerre, Berlin, Klaus Wagenbach, 2004.

5 Selbstverständlich gibt es auch im Film eine bedeutende Anzahl von Hochstaplern: Dazu gehören Steven Spielbergs Catch me if you can von 2002, wo Leonardo DiCaprio einen schwindelnden Piloten spielt; auch die Verfilmungen von Patricia Highsmiths Der talentierte Mr. Ripley von 1960 und 2000 gelten Hochstaplern. Der allerlustigste Hochstapler ist natürlich unübertroffen immer noch Charlie Chaplins „Charlot“.

6 Vgl. Hans WYSLING, Narzissmus und illusionäre Existenzform. Zu den ‚Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull‘, Bern/ München, Francke, 1982, S. 153-170; Joachim Joe LYNX, The Prince of Thieves. A Biography of Manolesco alias H.E. Prince Lahovary alias the Duke of Otranto, London, Casell, 1963, S. 86.

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der Modernisierung zu lesen.7 Diese Vorschläge möchte ich hier aufgreifen und den Hochstapler dabei verstehen als überraschend kritische Herausforderung der Moderne, oder besser ihrer Konzepte von persönlicher

„Identität“ und historischem bzw. kulturellem „Fortschritt“.

Helmuth Plessner liefert in seiner Anthropologie der Nachahmung8 wichtige Hinweise für das Verständnis hochstaplerischen Verhaltens und der Bedeutung, die es für anthropologische Reflexionen haben kann: So konstatiert er, dass Imitation eine grundlegende menschliche Eigenschaft sei:

„Ihre Möglichkeit gründet in der unaufhebbaren Fernstellung des Menschen zu sich, welche in Verkleidung, Verstellung wie überhaupt in dem Grundzug seines Wesens: eine Rolle zu spielen, sich kundgibt.“9 Ähnliche Thesen – d.h.

die vom ‚natürlichen‘ Ursprung der Hochstapelei im kindlichen Spiel und der wichtigen Funktion von Nachahmung und Mimesis für die Entwicklung – finden sich nicht nur im soziologischen, sondern auch im kriminalistischen Diskurs der 1920er Jahre. So etwa in der kleinen Studie des Berliner Staatsanwaltes Erich Wulffen zur Psychologie des Hochstaplers von 1923.10

Peter Sloterdijk greift die zeitgenössische Debatte über die Hochstapelei in seiner Reflexion über den modernen „Kyniker“ auf und geht in seinem zweibändigen Essay zur Kritik der zynischen Vernunft (1983)11 ausführlich auf die Konjunktur der Hochstapler in der Weimarer Republik ein. Sighard Neckel dagegen hält Hochstapelei eher für ein Symptom von Dekadenz und

7 Vgl. z. B. Sander BROUWER, „Imposture in Nineteenth-Century Russian Literature (with special regard to Gogol’)“, in Essays in Poetics, Nr. 23, 1998, S. 96-121; Marion DUFRESNE,

„La Figure de l'imposteur dans la littérature de langue allemande au XXe siècle“, in Germanica, Nr. 35, 2004, S. 35; Debbie LEE, Obscure Women who Became Impostors andChallenged, New York, Palgrave Macmillian, 2006; Rolf-Peter JANZ, „Schwindelnde Männer oder die Liebe zum Betrug. Krull, Schwejk, Gunten, ,Rotpeter’“, in Rolf-Peter JANZ, Fabian STÖRMER, Andreas HIEPKO, Schwindelerfahrungen. Zur kulturhistorischen Diagnose eines vieldeutigen Symptoms, Amsterdam, Rodopi, 2003, S. 99-116; Rohan MCWILLIAM, „Unauthorized Identities. The Impostor, the Fake and the Secret History in Nineteenth-Century Britain“, in Margot FINN, Michael LOBBAN, Jenny Bourne TAYLOR, Legitimacy and Illegitimacy in Nineteenth-Century Law,Literature and History, Basingstoke, Palgrave Macmillan, 2010, S. 67-92; vgl. allgemein Stephan PROMBKA, Felix Krulls Erben. Zur Geschichte der Hochstapelei im 20. Jahrhundert, Berlin, Bostelmann und Siebenhaar, 2001; Jürgen W. SCHMIDT, „Eine Hochstaplerin in Erfurt.

Martha Barth alias ‚geschiedene Kronprinzessin von Griechenland‘ bzw. ‚Prinzessin Margarethe von Preußen‘“, in Jahrbuch für Erfurter Geschichte, Nr. 5, 2010, S. 149-180; Vgl.

auch: Philippe DI FOLCO, Petit traité de l'imposture, Paris, Larousse, 2011; ders., Les Grandes Impostures littéraires, Paris, Écriture, 2006; Aleksandra KROH, Petit traité de l'imposture scientifique, Paris, Belin, 2009; Andrée BAUDUIN, Psychanalyse de l'imposture, Paris, Presses Universitaires de France, 2007; besonders wirksam war die Kritik postmodernen Wissenschaftsgebarens bei JeanBRICMONT, Alain SOKAL, Impostures intellectuelles, critique de la philosophie postmoderne des sciences à travers sa rhétorique, Paris, biblio, 1997.

8 Helmuth PLESSNER, „Zur Anthropologie der Nachahmung“, in ders., Ausdruck und menschliche Natur. Gesammelte Schriften, Bd VII, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1982, S. 389-398.

9 Ibid., S. 398.

10 Erich WULFFEN, Die Psychologie des Hochstaplers, Leipzig, Verlag für Kulturforschung, 1923.

11 Peter SLOTERDIJK, Kritik der zynischen Vernunft, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1983.

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Korruption gesellschaftlicher Verhältnisse. E r konstatiert eine bemerkenswerte „Umwertung jener Strategien, deren nunmehr in die Alltagssprache eingesickerter Sammelbegriff der Bluff ist.“12 Es handle sich um ein „Eindrucksmanagement“, bei dem die Kunst der Verstellung selbst

„zur Leistung geworden sei“.13

Mimetische Existenzen: Das Spiel mit dem Ich

Zunächst gilt es aber, das Phänomen ‚Hochstapelei‘ etwas genauer zu betrachten. Der Begriff stammt aus dem Rotwelsch, der Gaunersprache, und ist Mitte des 18. Jahrhunderts zum ersten Mal nachgewiesen – und zwar in Schwaben. „Stapeln“ bedeutet ursprünglich Betteln.14 Eine exakte Definition des heutigen Wortgebrauchs ist nicht leicht, da die Abgrenzungen zum Betrüger, zum Lügner, zum Dieb, zum Dandy, zum Heiratsschwindler, zum Fälscher, zum Schelm, zum Erotomanen und zum Spieler nicht immer eindeutig zu ziehen sind. Der Hochstapler hat von allem etwas. Manchmal wird die kriminelle Aktivität, manchmal die psychologische Komponente, manchmal die erotische Verführungskraft und manchmal die Abenteurerseite seiner Existenz mehr hervorgehoben.

Eine allgemeine Definition soll hier nicht versucht werden, vielmehr geht es darum, den Hochstapler in der Literatur des frühen 20. Jahrhunderts als Typus genauer zu charakterisieren. Dabei sind besonders die zeitgenössischen Kommentare zum Phänomen des Hochstaplers hilfreich: Sie zeigen, dass es sich um einen Zeittypus handelt, der die paradoxen Züge moderner Identitäten markiert. Exemplarisch sei hier der Essay von Erich Wulffen zitiert. Er betont gleich zu Beginn, dass der Hochstapler keineswegs ein

„Atavismus“ sei, also keine besondere und dem Normalen ganz fremde Form der psychischen Disposition besitze. Wulffen grenzt sich hier explizit gegen Cesare Lombroso ab und fährt fort:

Vielmehr behaupten wir neueren Kriminalisten, daß die Charaktere der Verbrecher in ihrer Umgebung sich bilden und körperlich wie seelisch, genau oder modifiziert, je die Grundeigenschaften der Gesellschafts- und Volksklasse wiedergeben, in der sie geboren wurden.15

Die Psychologie des Hochstaplers zu ergründen, so wird damit deutlich, ist also auch eine Art Diagnose der eigenen Zeit und der eigenen Gesellschaft.

Wulffen untersucht daher zunächst – ganz im Sinne Plessners und im Übrigen auch Freuds – die entwicklungspsychologische Motivation von kindlichen Verhaltensweisen wie der Nachahmung, dem Nachäffen, der Verstellung,

12 NECKEL, „Bluffen, Täuschen und Verstellen“, S. 60f.

13 Ibid.

14 Roland GIRTLER, Wörterbuch des Rotwelschen. Deutsche Gaunersprache, Mannheim, Bibliographisches Institut, 1956, S. 316.

15 WULFFEN, Psychologie, S. 5.

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spielerischer Verkleidung etc., um dann die besondere Disposition bestimmter Berufe für hochstaplerische Verhaltensweisen nachzuweisen:

Jäger, Sportler, Offiziere, Künstler, Professoren und Studenten sind besonders anfällig für ständige Hochstapelei: Das Selbstverständnis dieser Berufe und Existenzweisen sei genuin hochstaplerisch.16

Zum Schluss seiner Ausführungen widmet Wulffen dem Verhältnis von Kunst und Hochstapelei ein eigenes Kapitel: „Es besteht ganz gewiss eine psychologische Verwandtschaft zwischen dem dichterischen Vermögen und der hochstaplerischen Veranlagung.“17 Von der Odyssee über Goethe, Schiller, Keller, Daudet, Ibsen, Wagner und Nietzsche nennt Wulffen eine lange Liste an verschiedenen – unterschiedlich überzeugenden – Beispielen.

Es sei das Leben in „Möglichkeitswelten“, „seitwärts der Wirklichkeit“, das die Dichter mit den Hochstaplern verbinde. Mimesis, Nachahmung, Schwindel, Fiktion, Imagination und Hochstapelei unterscheiden sich nur graduell voneinander. Je nach Kontext, Medium, Hinsicht und Blickwinkel können sie als Kunst oder als Verbrechen erscheinen.

So endet der aufschlussreiche Text von Wulffen in einer emphatischen Apologie der künstlichen bzw. künstlerischen Möglichkeitswelten, des schönen Scheins, der Welt als Maskenball. Mittendrin steht der Hochstapler als der Meister des Scheins:

Sucht zu glänzen, werfen wir ihm vor, zu blenden, im Golde zu wühlen, im Lichtermeere von Juwelen zu wandeln, durch äußeren Schein zu täuschen, ohne innere Berechtigung hohe Personen und Aufgaben vorzugeben. Ist er damit nicht ein Kind der Zeit? der Welt? der Geschichte? ‚So wie ich bin, seid ihr alle!‘, ruft er uns zurück [...]. Der Hochstapler, der Schelm, hält euch den Spiegel vor!‘18

Dem Juristen ist unter der Hand der Verbrecher zum Moralisten geworden.

16 Vgl. ibid., S. 16. Wulffen geht interessanterweise auf den ausgeprägt männlichen Charakter dieser Berufe ein und untersucht, als einer der wenigen, die Frage nach dem Geschlecht von Hochstaplern oder besser die Frage, ob auch Frauen Hochstaplerinnen sein können. Er sieht eine besondere Affinität zwischen weiblicher Putzsucht und hochstaplerischer Verkleidung. „Die Dame“ – so Wulffen – „ist immer kostümiert“. Frauen, so könnte man schließen, sind die wahren Verkleidungskünstlerinnen und also von Natur aus Hochstaplerinnen. In der Kriminalgeschichte tauchen sie meist als Heiratsschwindlerinnen auf und Wulffen hat aus eigener Erfahrung eine Anzahl amüsanter Anekdoten zu berichten. In der Literatur finden sich erstaunlich wenige Hochstaplerinnen. In den hier verhandelten Texten etwa tauchen sie nur als Randfiguren auf. Dabei sind sie regelmäßig viel korrupter als ihre männlichen Kollegen, in keiner Weise berechenbar, halten keine Versprechen und haben keinen Funken Moral. Die erotische Ausstrahlung, die alle männlichen Hochstapler auszeichnet und die bei ihnen einen Großteil ihrer schillernden Anziehungskraft ausmacht, wirkt bei den Frauen in jeder Hinsicht disqualifizierend. Eine Hochstaplerin ist immer eine Prostituierte, niemals eine

„Panerotikerin“ (vgl. Walter SERNER, Letzte Lockerung. Ein Handbrevier für Hochstapler und solche, die es werden wollen, München, Klaus G. Renner, 1981, S. 102).

17 WULFFEN, Psychologie, S. 78.

18 Ibid., S. 90.

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Es bedarf keines ausführlichen Kommentars, um hier die Grundzüge von Nietzsches Ästhetik wiederzuerkennen.19 Gerade weil die Kunst keinen Anspruch auf absolute Wahrheit erhebt, sondern nicht mehr als Schein, als eine Interpretation sein will, ist sie in Übereinstimmung mit dem perspektivischen Charakter des Daseins und damit wahrer als alle Wahrheit.20 Für die Zeitgenossen war das Schwindelgefühl, das einen angesichts solcher Umwertungen der Werte, solcher Konstruktionen und Dekonstruktionen erfasst, nicht nur ein intellektuelles Erlebnis, sondern ganz konkreter Alltag: 1923, als die kriminalistische Studie erschien, erreichte die Inflation in Deutschland ihren ersten Höhepunkt. Die Umwertung oder Entwertung der Werte ist in dieser Zeit nicht nur eine Frage philosophischer Spekulation und dadaistischer Wut, sondern eine der Finanzen und der Politik. „In einer so ‚verunsicherten‘ Welt wuchs der Hochstapler zum Zeittypus par excellence heran“, konstatiert Peter Sloterdijk. „Im Blick auf den Hochstapler“, so begründet er seine These, „kam das Bedürfnis, sich dieses zweideutige Leben, wo stets alles anders herauskommt, als es

‚gemeint‘ war, anschaulich zu machen, am besten auf seine Rechnung.“21 Hochstapler sind also nicht nur unterhaltsame Abenteurer, sondern in einem viel weiter reichenden Sinne ein Typus, der auf die Herausforderungen der Moderne antwortet. Sie sind Lebenskünstler, Artisten, ja Philosophen der Existenz, die das Schwindelgefühl der anderen nicht kennen oder zumindest nicht fürchten. Sie leben ohne echten Namen, ohne Herkunft und Familie, kennen kein bürgerliches, erreichbares Lebensziel, erlernen keinen Beruf. Sie sind einsame Menschen, immer fremd, nirgends zuhause und oft auf Reisen.

Trotzdem fühlen sie sich nie verlassen, kennen kein Heimweh; sie sind seltsam furchtlos, sie haben ein unerschütterliches Vertrauen in die Welt und in ihr Schicksal. Sie genießen ohne Rücksicht auf die Folgen – für sich und für andere. Sie sind Glückskinder und sie sind glücklich.

Hochstapelei als Kulturkritik oder: Geschichten von glücklichen Schwindlern

Felix Krull ist ein solches Glückskind.22 Er ist ein Sonntagskind und trotz seiner nicht gerade vielversprechenden Herkunft fest davon überzeugt, dass

19 Vgl. dazu Luc FERRY, Nietzsche. Homo ästheticus. L'invention du goût à l'âge démocratique, Paris, biblio, 1991, S. 217ff.

20 Gilles Deleuze formuliert dies – einen Aphorismus Nietzsches kommentierend – folgendermaßen: „Die Kunst ist die größte Macht des Falschen, sie preist die Welt als Irrtum, sie heiligt die Lüge, sie macht aus dem Willen zu täuschen ein höheres Ideal [...]. Wahrheit nimmt also vielleicht eine neue Bedeutung an. Wahrheit ist Erscheinung. Wahrheit bedeutet Verwirklichung der Macht.“ (Gilles DELEUZE, La philosophie de Nietzsche, Paris, Presses Universitaires de France, 1962, S. 117).

21 SLOTERDIJK, Kritik, S. 850.

22 Holger PI L S, „Die Begegnung der Hochstapler oder Von der Vertracktheit der Aggression: Robert Neumanns ‚Olympia‘ als Parodie auf Thomas Manns Bekenntnisse des

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das Leben nur Gutes mit ihm vorhabe. Diese Vorstellung scheint sich im Laufe seines Lebens nicht geändert zu haben, obwohl er doch zum Zeitpunkt der Erzählung nicht nur ein schnell gealterter 40jähriger ist, sondern auch seinen Reichtum verloren hat und wohl sogar im Gefängnis sitzt. Es fehlt ihm die Sorge. Er ist zwar vorsichtig, aber doch gewissenlos.

Ich kann mein inneres Verhalten zur Welt nicht anders als widerspruchsvoll bezeichnen. Bei allem Verlangen nach Liebesrausch mit ihr eignete ihm nicht selten eine sinnende Kühle, eine Neigung zu abschätzender Betrachtung, die mich selbst in Erstaunen setzte.23

Felix hat eine leidenschaftliche Affäre mit der Welt, mit schönen Frauen, schönen Kleidern, mit ausgesuchtem Essen etc., und doch betrachtet er das Ganze wie ein großes Spektakel, in dem alle bloß eine Rolle spielen, ihre Kostüme und Masken zuweilen ablegen oder vertauschen. Ein explizites Beispiel für diese Haltung gibt er selbst:

[D]er Gedanke, der mich zuweilen beschäftigte, wenn ich gerade einige Minuten müßig stand, […] war der Gedanke der Vertauschbarkeit. Den Anzug, die Aufmachung gewechselt, hätten sehr vielfach die Bedienenden ebenso gut Herrschaft sein und so mancher von denen, welche, die Zigarette im Mundwinkel, in den tiefen Korbstühlen sich rekelten – den Kellner abgeben können. Es war der reine Zufall [...].24

Krull entwirft sich Möglichkeitswelten, indem er die gesellschaftlichen Rollen vertauscht. Seine Einbildungskraft zeigt ihm andere Welten, die die eigentliche Wahrheit seiner Wirklichkeit – nämlich deren Beliebigkeit – erst deutlich machen. Die Möglichkeitswelt, die er dann durch Rollenwechsel zu seiner eigenen Welt erklärt, erweist sich tatsächlich als nicht weniger wirklich als die Wirklichkeit, die bisher als solche gegolten hatte.

„Mundus vult decipi“, der Wahlspruch der Hochstapler, ist für Felix Krull nicht die enttäuschte Haltung eines Gläubigen, der sich von der Welt abwendet, sondern die Aufforderung zur Teilnahme am großen Spektakel.

Das theatrum mundi ist ein Betrug, der mit Zustimmung der Beteiligten stattfindet. Das hat der junge Felix bei seinem ersten Besuch im Theater

Hochstaplers Felix Krull“, in Germanica, Nr. 35, 2004, S. 91-104; Joelle STOUPY, „Félix Krull, l'imposteur ou l'aimé de Dieu“, in Germanica, Nr. 35, 2004, S. 69-80; vgl. auch Jürgen JACOBS,

„Der Liftboy als Psychopompos? Zur Deutung von Thomas Manns“, in Euphorion, Nr. 88, 1994, S. 236-241.

23 Thomas MANN, Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, Der Memoiren erster Teil, Gesammelte Werke, Bd. VII, Frankfurt am Main, S. Fischer Verlag, 1974, S. 491. Die Metapher des „kühlen Blicks“ erinnert an die Ästhetik der neuen Sachlichkeit, die bekanntlich mit dieser Vorstellung operierte. Vgl. Helmut LETHEN, Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1994; vgl. auch Dorothee KIMMICH,

„Coole Lover oder: ‚die Wand zwischen Netzhaut und Seele‘. Bemerkungen zu Joseph Roths

‚Flucht ohne Ende‘“, in Ingrid HAAG/ Karl HeinzGÖTZE (Hrsg.), „L’amour entre deux guerres, 1918-1945. Concepts et représentations“, Cahiers d’Études Germaniques, Nr. 55, 2008, S. 79- 92.24 MANN, Felix Krull, S. 491f.

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bereits erkannt. In der Garderobe des abgeschminkten Startenors ist er schockiert von dessen abstoßender Hässlichkeit, die unter der Maske hervorkommt.

Wussten die Zuschauer, wem sie da huldigten? Oder achteten sie in stillschweigendem Einverständnis den Betrug nicht für Betrug? Letzteres wäre möglich; denn genau überdacht: wann zeigt der Glühwurm sich in seiner wahren Gestalt, – wenn er als poetischer Funke durch die Sommernacht schwebt, oder wenn er als niedriges, unansehliches Lebewesen sich auf unserem Handrücken krümmt? Hüte dich, darüber zu entscheiden!25

Das ist das Bekenntnis des Hochstaplers zur Erscheinung, zum Schein, zur Oberfläche der Dinge. Die einzige Wahrheit liegt in den Erscheinungen und davon gibt es immer viele, immer verschiedene, aus jeder Perspektive eine andere. Die Lüge beginnt dort, wo man versucht, eine Wahrheit als die einzige zu etablieren.

„Hüte dich, darüber zu entscheiden!“, das ist auch die Lehre, die Krull seiner Geliebten Zouzou in Lissabon zu erklären versucht. „Der Mensch, wie schön er sei, wie schmuck und blank, ist innen doch Gekröß’ nur und Gestank“, mit diesem dummen Vers hatte sie ihn provozieren wollen. „Das ist ein garstiges Verschen“, antwortet er ihr herablassend, weil es

den Glauben zerstören will an Schönheit, Form, Bild und Traum, an jedwede Erscheinung, die natürlich wie es im Worte liegt, Schein und Traum ist, aber wo bliebe das Leben und jegliche Freude, ohne die ja kein Leben ist, wenn der Schein nichts mehr gelte und die Sinnenweide der Oberfläche? […]26

Er redet sich in Schwung und seine recht gedrechselte und überhebliche Ansprache endet in einer Anspielung auf Zouzous Vater, ein Professor der Paläontologie wie viele andere, die „die Wahrheit erblickten in Form und Schein und Oberfläche und sich zu deren Priester machten und auch sehr oft Professor dafür wurden“27. Auch der Professor ist ein Liebhaber des Scheins, also ein typischer Hochstapler.

Professor Kuckuck ordnet die Dinge nach ihrem Aussehen, ihrer Erscheinung und nach den jeweiligen Ähnlichkeiten. Er orientiert sich dabei selbstverständlich an ihrer Oberfläche, am Außen.28 Krull sammelt andere Dinge: teure Kutschen, gute Zigarren, schöne Kleider, schöne Frauen.29

25 Ibid., S. 294.

26 Ibid., S. 633.

27 Ibid., S. 634.

28 Vgl. zu „Ähnlichkeit“ als Paradigma des Wissens in der Moderne Anil BHATTI, Dorothee KIMMICH, Albrecht KOSCHORKE, Rudolf SCHLÖGL, Jürgen WERTHEIMER, „Ähnlichkeit. Ein kulturtheoretisches Paradigma“, in Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Nr. 36, 2011, S. 233–247.

29 Kann er ein Paar eines Exemplars bekommen, etwa Mutter und Tochter, Zaza und Zouzou oder Schwester und Bruder, so entfaltet sich ihm die eine schöne Oberfläche gewissermaßen in eine ‚kubistische‘ Vervielfältigung und garantiert vielfachen Genuss.

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Was Professor Kuckuck an seinen Studien fasziniert und auch Felix in Bann schlägt, ist nicht nur die Schönheit der Dinge, der Phänomene und Lebewesen. Offenbar verbirgt sich in der Faszination durch die Oberfläche eine Weltanschauung. Das unendliche, unbegrenzbare Spiel der Ähnlichkeiten erweist sich als Lebensphilosophie und als episteme zugleich.

Es ist die elegante Verabschiedung geschichtsphilosophischer Fortschritts- modelle. So hatte Kuckuck Felix bereits im Zug nach Lissabon auseinandergesetzt, dass

immer alles versammelt [sei], alle Zustände der Kultur und Moral, alles vom Frühesten zum Spätesten, vom Dümmsten bis zum Gescheitesten vom Urtümlichsten, Dumpfesten, Wildesten bis zum Höchst- und feinstentwickelten bestehe allezeit nebeneinander in dieser Welt [...].30

Es gibt keine Unterscheidung in mehr oder weniger entwickelt, in fortschrittlich oder primitiv, in modern oder vormodern. Kuckuck plädiert für ein Universum ohne Unterscheidung oder besser, ohne Diskriminierung. Er ist viel eher ein Archäologe im Sinne Foucaults als ein Darwinist.

Die „Allsympathie“, die Kuckuck angesichts dieser unendlich vielen Erscheinungen der Materie fordert, ist die wissenschaftliche Form hochstaplerischer Panerotik, die Felix betreibt, wenn er nicht nur alle Frauen liebt, sondern dies am liebsten auch noch gleichzeitig täte. Die Wissenschaft ist die sublimierte Form von Felix’ Liebe zur Liebe und Kuckuck damit nicht der Gegenentwurf zu Krull, sondern sein Doppelgänger.

Hochstapler sind also in einer doppelten Hinsicht eine Herausforderung der Moderne: Sie verweigern sich dem Prinzip des mit sich selbst identischen Ich, das nicht durch Nachahmung entsteht, sondern auf der Basis individueller Selbstkonstitution zu stehen hat. Zugleich provozieren sie aber auch eine Geschichtsphilosophie, die einem Fortschritts- und Perfektibilitätsmodell verpflichtet ist, die Moderne privilegiert und alles andere diskriminiert. Sie sind weder Idealisten noch Marxisten und eben auch keine Anhänger Darwins. Vielmehr sind sie Sammler im Sinne Walter Benjamins, Archäologen im Sinne Michel Foucaults und huldigen einer Art epikureisch grundiertem Rollenspiel.

Exkurs über die unglücklichen Hochstapler

Es gibt selbstverständlich auch weniger erfolgreiche, weniger fröhliche Hochstapler als Krull. Ich werde diese ganz kurz streifen, um dann wieder zurückzukehren zu den glücklichen Schwindlern. Der Marquis von Keith in Frank Wedekinds gleichnamigem Stück (1899) etwa ist ein skrupelloser Betrüger, ein geldgieriger Aufschneider, Ausbeuter, ein Feigling ist er zudem und am Ende ein schlechter Verlierer. Sein Jugendfreund Ernst Scholz nennt

30 Ibid., S. 633f.

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ihn ein „Ungeheuer an Gewissenlosigkeit“31 und hält ihn zu Recht für einen Zyniker.32 Franz Pander aus einer der Exzentrischen Novellen (1905/14) von Hermann Bang kommt ebenfalls wie der falsche Marquis aus kleinen Verhältnissen. Es gelingt ihm, eine Stelle in einem großen Hotel zu bekommen und er verspürt eine „trunkene Verliebtheit“, als er zum ersten Mal die luxuriösen Säle des Grandhotels betritt. Anders als Felix Krull wird ihm seine Liebe zur Welt, zu Galanteriewaren, zu gutem Essen und zu den Frauen zum Verhängnis. Er geht buchstäblich an unbefriedigter Lust zugrunde. Das Essen, das er nicht essen darf und die Frauen, die er nicht bekommt, treiben ihn in den Selbstmord. Er erhängt sich im Ballsaal des Hotels. Auch Andreas Zumsee aus Heinrich Manns Roman Schlaraffenland ist am Ende ein verbitterter Verlierer. Sein Erfolg als Geliebter einer Bankiersgattin und Pseudopoet war kurz und so sehr er sich gewünscht hatte, in der Berliner Gesellschaft zu reüssieren, waren seine Genüsse doch schal.

Schnell konnte nichts mehr seinen Gaumen kitzeln, sein Interesse erregen, seine Lust wecken.

Alle diese Hochstaplerfiguren sind Repräsentanten einer zynischen Welt und sie sind selbst Zyniker. Wirklichen Genuss kennen diese unkultivierten Materialisten nicht. Ihre Gewissenlosigkeit ist nicht spielerisch, sondern infam. Wenn sie sich nicht entscheiden können, dann nicht aus Liebe zur Schönheit, aus kukukscher „Allsympathie“33, sondern aus dekadentem Überdruss.

Die bitter-ironische Anleitung zu einem solchen Leben, gewissermaßen den ästhetischen Kommentar zu diesen Gestalten, legt Walter Serner in seinem Handbrevier für Hochstapler und solche, die es werden wollen (1927) vor.34 Hier wird der Zynismus zum Programm einer wütenden postdadaistischen Zerstörungsästhetik.35 Das praktische Handbrevier beginnt wie seine moralistischen Vorbilder mit diätetischen Tipps, das heißt Vorschriften für Essen, Trinken und Kleidung des Hochstaplers. Die ersten 50 Regeln enthalten „Elementares“, dann folgen Anweisungen zur allgemeinen „Menschenkenntnis“, für das Verhalten in Hotels und auf Reisen, für den Umgang mit Frauen (der Hochstapler ist auch hier selbstverständlich ein Mann), „Trucs“, „Training“ und „Warnungen“. Die 49. Regel lautet: „Sprich nicht zu oft zynisch. Sei es immer.“36 Und die

„Schlussnummer“ – Regel Nr. 591 – liefert gewissermaßen die Rechtfertigung für diesen Zynismus: „Die Welt will betrogen sein, gewiss.

31 Frank WEDEKIND, „Ein gefallener Teufel. Der Marquis von Keith“, in ders., Kritische Studienausgabe in 8 Bänden, Bd. 4, Darmstadt, Häusser, 1999, S. 149-229, S. 164.

32 Ibid.

33 MANN, Felix Krull, S. 548.

34 Vgl. SERNER, Letzte Lockerung.

35 Der erste Teil des Bandes war bereits 1920 erschienen und damals ein dadaistisches Manifest gewesen, 1927 – nach der Trennung von den Dadaisten – erscheint es mit einem zweiten „praktischen“ Teil.

36 Ibid., S. 76.

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SIE WIRD ABER SOGAR ERNSTLICH BÖSE, WENN DU ES NICHT TUST.“37

Alle diese Hochstapler haben eine andere literarische Funktion als Felix Krull. Sie dienen einer Gesellschaftskritik, die sich gegen die korrupte Society der wilhelminischen Ära und der Weimarer Zeit wandte. Diese Hochstapler sind zugleich Produkte, Schmarotzer, Tyrannen und Opfer dieser Gesellschaft. Von einer schelmischen Hingabe an die Schönheiten dieser Welt, wie wir sie von Krull kennen, kann hier nicht die Rede sein.

Dass Krull aber wiederum auch keine Ausnahme ist, sondern vielmehr einen bestimmten ‚Typ‘ von Hochstapler verkörpert – eben den philosophischen Hochstapler –, lässt sich anhand meiner letzten Beispiele zeigen. Davon werde ich eines – Jean Cocteaus Thomas l’imposteur (1923)38 – nur streifen. Das andere ist Efraim Frischs Zenobi.

Cocteaus Guillaume Thomas (de Fontenoy) ist wie Krull unter einem guten Stern geboren: „Guillaume betrog ohne Boshaftigkeit“39. Er ist ein Träumer, der in vielen verschiedenen Welten lebt, immer „halb im Traum“40, wovon auch seine doppelte Lebenslinie zeugt, was eine handlesende Zigeunerin mit Überraschung feststellt. Thomas ist schön, er ist geschickt, furchtlos und auch wieder ein großer Liebender. Er genießt sein Leben ohne Sorgen bis zu seinem Tod, und so merkt er auch nicht, dass es mit ihm zu Ende geht: „‚Eine Kugel‘, sagte er sich, ‚wenn ich mich nicht tot stelle, bin ich verloren‘. Bei ihm allerdings waren Realität und Fiktion eines geworden.

Guillaume Thomas war tot“.41 Der Hochstapler hat gewissermaßen seinen eigenen Tod versäumt, weil er damit beschäftigt war, sich zu verstellen.

Damit hat er die alles bedrohende Angst vor dem Tod überlistet und das Ziel aller Lebenskünstler erreicht.

Von Efraim Frischs42 Zenobi ist nicht einmal bekannt, ob er überhaupt gestorben ist. Er ist wie viele Hochstapler früh verwaist und schlägt sich mühsam durch, bis er von einem Gönner in die Hauptstadt des Reiches – man darf Wien vermuten – geholt wird. Er reist als falscher Baron von Stauff

37 Ibid., S. 162.

38 Jean COCTEAU, Thomas l´imposteur [1923], Paris, Gallimard, 1973.

39 Ibid., S. 32: „Guillaume dupait sans malice“ (Übersetzung DK).

40 Ibid., S. 31: „à moitié dans le songe“ (Übersetzung DK).

41 Ibid., S. 174: „‚Une balle‘, se dit il. Je suis perdu si je ne fais pas semblant d’être mort.

Mais en lui, la fiction et la réalité ne formait qu’un. Guillaume Thomas était mort.“

(Übersetzung DK).

42 Der galizische Jude Efraim Frisch ist heute fast vergessen. Dabei war Efraim Frisch – anders als heute – seinen Zeitgenossen keineswegs ein Unbekannter. Er leitete viele Jahre den Neuen Merkur in München (1914-1916, 1919-1925) und schrieb eine große Anzahl von Artikeln und Essays für die Frankfurter Zeitung. 1933 wanderte er in die Schweiz, nach Ascona aus, wo er 1941 starb. Frisch hat in den 1920er Jahren neben seiner Redaktionsarbeit vor allem aus dem Französischen übersetzt, neben Werken von Jean Giraudoux und André Gide auch Cocteaus Enfants Terribles. Wahrscheinlich kannte er also auch Thomas l’imposteur. Seine Frau übersetzte aus dem Russischen und kannte daher sicher Hochstaplerfiguren wie Iwan Turgenjews „Rudin“. Vgl. Eva HENLE, „Efraim Frisch (1873-1942)“, in Literatur und Kritik, Nr. 327/328, 1998, S. 103-108.

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durch Italien, befreit als verkleideter Irrenarzt einen Delinquenten aus der Gefängnispsychiatrie, taucht auf jeder großen Gala auf, unterhält sich mit dem König, wird wiederholt für einen Diplomaten gehalten, hält vor einer ergriffenen Trauergemeinde die Grabrede für einen ihm völlig Unbekannten und antwortet mit großer Begeisterung auf Gesuche in Kleinanzeigen, wobei er sich wahlweise als Wohnungsmakler oder als Großgrundbesitzer ausgibt.

Zenobi wird kurz vor Ausbruch des ersten Weltkriegs in einem Duell schwer verletzt, seitdem gibt es, wie uns der Epilog berichtet, nur noch ungesicherte Nachrichten von seinem Über- oder Weiterleben.

Zenobi war „kein Kämpfer und kein Realist, der wirkliche Hindernisse wahrnimmt, mit Bedacht ihre Überwindung erwägt oder an seiner Schwäche verzweifelt“ 43, so heißt es auf den ersten Seiten.

Er war einer von den seltenen Glücklichen […]. Er hatte das große Staunen in sich, das ursprünglich allen Menschen eigen ist, dazu aber ein beglückendes Horchen auf ferne Musik, und er wäre in einer Welt, die auf solche Zwecklosigkeit die Todesstrafe setzt, vielleicht schon bald dem Untergange verfallen [...].44

Zenobi liebt – wie alle seine Kollegen – das Theater; die Bühne übrigens genauso wie die Kulissen: Er macht keinen Unterschied zwischen vor oder hinter dem Vorhang, zwischen Spiel und Wirklichkeit. Auch Zenobi interessiert an seiner Umgebung nur die Oberfläche: „Wie ein Magnet nur Eisen und Eisenartiges an sich zieht, so zog sein Wesen aus den mannigfachen Inhalten menschlichen Lebens und Tuns [...], nur das an sich, was sich unmittelbar als Geste und Ausdruck ihm mitteilte.“45 Die Nachahmung, Mimesis oder sogar Mimikry ist sein Lebensprinzip und sie erschöpft sich keineswegs in simpler Assimilation an die Macht. Im Gegenteil: Die kritische, ja zerstörerische Kraft der Mimesis und ihrer Ironie wird in Zenobis großartiger Exerzierszene deutlich.

Zenobi ist – anders als Krull – gerne Soldat und liebt vor allem das Exerzieren. Er fällt dabei mit seiner Begeisterung für die militärische Massenästhetik aus dem Rahmen und exerziert mit so viel Hingabe, dass sein Auftritt dem Ganzen den Charakter eines Schauspiels verleiht, oder besser gesagt: Der soldatisch-ernsthafte Aufmarsch wird dadurch als Varieté entlarvt. Wie in einer Pantomime von Charlie Chaplin – etwa in Modern Times – oder in Robert Walsers Berliner Dienerschule im Roman Jakob von Gunten erregt sein Verhalten zunächst Erheiterung, provoziert dann bei den Vorgesetzten aber Wut und schließlich die Relegation.

In die Schreibstube versetzt, langweilt er sich, reüssiert dafür aber in der feinen Wiener Gesellschaft. Dabei bekommt er wie alle Hochstapler die Gelegenheit, über Kleider zu philosophieren und über die Frage, ob Kleider Leute oder vielmehr – wie Krull behauptet – der Mann das Kleid mache.

43 Efraim FRISCH, Zenobi, Olten/ Freiburg im Breisgau, Walter Verlag, 1981, S. 12.

44 Ibid.

45 Ibid, S. 27.

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Zenobi kommt zu dem Schluss, dass beides nicht mehr stimme in einer Zeit,

„in der die Menschen nicht mehr das sind, was sie darstellen [...]“.46 Kleider repräsentieren nämlich keinen Stand und keinen Beruf mehr. Sie sollen nun vielmehr das ‚Individuum als solches‘ kennzeichnen, die Persönlichkeit unterstreichen, aber je mehr das versucht wird, desto deutlicher wird, dass es gar keine Persönlichkeiten, ja nicht einmal Personen gibt. Die Individualisierung der Mode – so stellt Zenobi ganz richtig und bis heute gültig fest – befördert das Stereotype und führt erst recht zur Verwechslung.

Zenobi ist – wie Felix Krull – ein kühler Beobachter und trotzdem begeistert von dem, was er sieht. Er ist ein Fremder, distanziert, auf seine Freiheit bedacht und trotzdem immer wieder hingerissen von dem, was die Welt ihm bietet. Zenobi ist ein Genießer, aber er ist nicht dekadent. Er kennt keine Sorge, aber er ist doch nicht gewissenlos. Vergangenheit und Zukunft, Erfahrung und Entwicklung, Persönlichkeit und Charakter sind Bestimmungen, die auf Zenobi nicht passen. Er hat durchaus Energie, aber keinen Willen. Er ist ein raffinierter Verführer und lässt sich doch mit Freuden selbst verführen.47 Zenobi weiß selbst nicht, wer er ist. Zenobi lebt in einer zynischen Welt, ist aber selbst kein Zyniker.

Kein Zyniker – so sollte man präzisieren – im üblichen Wortsinne wie es etwa für Wedekinds Marquis von Keith oder Walter Serners Hochstapler stimmt, aber vielleicht in dem Sinne, in dem Nietzsche den Begriff mehrfach verwendet hat. In der „Zweiten unzeitgemäßen Betrachtung. Über den Nutzen und Nachtheil der Historie“ heißt es vom Zyniker:

Wenn ein Glück, wenn ein Haschen nach neuem Glück in irgendeinem Sinne das ist, was den Lebenden im Leben festhält und zum Leben fortdrängt, so hat vielleicht kein Philosoph mehr recht als der Zyniker. [...] [W]er sich nicht auf der Schwelle des Augenblicks, alle Vergangenheiten vergessend, niederlassen kann, wer nicht auf einem Punkte wie eine Siegesgöttin ohne Schwindel und Furcht zu stehen vermag, der wird nie wissen, was Glück ist, und noch schlimmer: er wird nie etwas tun, was andere glücklich macht.48

Die Schwindler sind die einzigen, denen im „Karneval der Identitäten“49 nicht schwindelig wird. Zenobi, Krull und Thomas sind wie Nietzsches Zyniker und Sloterdijks Kyniker50: schwindelfrei und furchtlos, bereit, auf

46 Ibid., S. 44.

47 Zenobi ist ein hingebungsvoller Verehrer schöner Frauen, wirbt geduldig um sie, genießt seine Erfolge und vergisst Misserfolge sofort. Er gerät selbst an eine Hochstaplerin, die allerdings auf dem Weg ins Verbrecherische einen Vorsprung hat und ihn dann zu seiner Erleichterung verlässt. Zenobi ist kein moralischer Mensch, hat aber ein Herz für Arme. Seine letzte Rolle spielt er als großartiger Rächer gefallener Mädchen.

48 Friedrich NIETZSCHE, „Zweite unzeitgemäße Betrachtung. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie“, in ders., Werke, hrsg. v. Karl Schlechta, Bd. 1, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1983, S. 212.

49 NECKEL, „Bluffen, Täuschen und Verstellen“, S. 61.

50 Vgl. dazu auch Peter SLOTERDIJK: „[...] Strategie und Taktik, Verdacht und Enthemmung, Pragmatik und Instrumentalismus – dies alles im Griff eines zuerst und zuletzt an sich selbst denkenden politischen Ichs, das innerlich laviert und äußerlich panzert.“ So

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Vergangenheit, Geschichte und „Stammbäume“ zu verzichten oder sie immer wieder neu zu erfinden. Der Lebensgenuss, den uns diese Hochstapler vorleben, hat die Faszination des Verbotenen. Er ist mit einem bestimmten Gestus der Befreiung verbunden und beweist die Macht des Spiels, die Kraft der Phantasie und den Erfolg der Lüge. Die Einbildungskraft der Hochstapler verweigert sich dem Realitätsprinzip. Sie sind die Glücklichen, die den Augenblick genießen können – und zwar ohne Teufelspakt. Sie repräsentieren damit den Gegenentwurf zu all den Faustgestalten, den strebenden Männern, die verzweifelt, grausam und erfolglos dem Glück nachjagen, ohne es auch nur je zu sehen. Diese sind angewiesen auf Erlösung, die Hochstapler nicht.

Sie haben nicht einmal Angst vor dem Tod.

beschreibt er Nietzsches Kynismus. Er unterscheidet auch weiterhin Kynismus als philosophische Haltung und Zynismus als dekadenten Zustand einer Gesellschaft (SLOTERDIJK, Kritik, S 10). Das von Sloterdijk hier beschriebene Individuum weist starke Ähnlichkeit mit Plessners modernem „honnête homme“ in seinem Essay über die ‚Grenzen der Gemeinschaft‘

auf. Strategie und Panzerung sind Stichworte, die dies nahelegen.

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