7. RAUMWERTIGE FUNKTIONEN EINER VER ¨ANDERLICHEN 239 Bei dieser Schreibweise fassen wir implizit die Elemente des Rn als Spal- tenvektoren auf, also γ = (γ1, . . . , γn)⊤, wo der obere Index ⊤ unsere Zei- lenmatrix in eine Spaltenmatrix transponiert. Man nennt so eine Gleichung auch einhomogenes System von linearen Differentialgleichungen mit konstanten Koeffizienten. Die Spezifikation “mit konstanten Koeffizien- ten” grenzt unsere Gleichung ab von dem noch allgemeineren Fall, bei dem auch die Matrix A noch von t abh¨angt. Die Spezifikation “homogen” grenzt es ab vom allgemeineren Fall einer Gleichung der Gestaltγ′(t) = Aγ(t) +f(t) f¨ur eine zus¨atzlich gegebene vektorwertige Funktionf,den wir inIHD9.4.1 disku- tieren. Anschaulich gesprochen geben wir uns auf dem Rn das sehr spezielle Vektorfeldx7→Axvor und interessieren uns f¨ur die Bahnen solcher Teilchen, die bei x∈Rn jeweils die Geschwindigkeit Ax haben.
exM 7.4.7. Im Falln = 1 hat Agenau einen Eintrag a∈R,und wir hatten schon in 4.3.12 gesehen, daß alle L¨osungen der DifferentialgleichungLe γ′ = aγ die Form γ(t) =cexp(at) haben. Im Allgemeinen definieren wir die Exponen- tialfunktion auf Matrizen durch die Vorschrift
exp : M(n×n;R) → M(n×n;R)
A 7→ P∞
k=0 1
k!Ak=I+A+ 12A2+16A3+. . . Hier bedeutet A0 = I nach unserer Konvention KNeuI.3.1.13 die Einheitsmatrix und unsere unendliche Reihe ist zu verstehen als der Grenzwert der Folge ihrer Partialsummen. Es ist nur noch zu zeigen, daß diese Grenzwerte existieren.
Bezeichnen wir dazu f¨ur eine quadratische Matrix A ∈ M(n × n;R) mit
|A| das Maximum der Absolutbetr¨age ihrer Eintr¨age, so gilt offensichtlich
|AB| ≤ n|A||B|, also |Ak| ≤ (n|A|)k, und dann zeigt die Konvergenz der Exponentialreihe zu (n|A|) schon die absolute Konvergenz aller Reihen von Matrixeintr¨agen in der Exponentialreihe zu A.
Bemerkung 7.4.8. Die Stetigkeit von exp : M(n×n;R)→M(n×n;R) d¨urfen Sie in gr¨oßerer Allgemeinheit als ¨Ubung ExpSr7.5.21 selbst beweisen.
EKD Satz 7.4.9 (Lineare Differentialgleichungen). IstA∈M(n×n;R)eine quadratische Matrix und c ∈ Rn ein Spaltenvektor, so gibt es genau eine dg
differenzierbare Abbildung γ :R→Rn mit Anfangswert γ(0) =cderart, daß gilt γ′(t) =Aγ(t) f¨ur alle t∈R, und diese Abbildung wird gegeben durch die Vorschrift
γ(t) = exp(tA)c
Bemerkung 7.4.10. Es ist durchaus m¨oglich, mithilfe dieses Satzes auch ganz konkrete Differentialgleichungen ganz konkret zu l¨osen. Wir gehen darauf in Abschnitt 9 n¨aher ein.LESc
7. RAUMWERTIGE FUNKTIONEN EINER VER ¨ANDERLICHEN 241 Beweis. Wir behaupten zun¨achst, daß die Abbildung g :R → M(n×n;R), t 7→ exp(tA) differenzierbar ist mit der Ableitung g′(t) = Aexp(tA). In der Tat wissen wir nach PRD5.1.12, daß man Potenzreihen gliedweise differen- zieren darf, und unsere Formel ergibt sich, wenn wir diese Erkenntnis an- wenden auf alle Eintr¨age unserer Matrix. Nach Lemma 7.2.5 ist nun auchLDD die Abbildung γ : R → Rn, t 7→ exp(tA)c differenzierbar mit Ableitung γ′(t) = Aexp(tA)c = Aγ(t), und die Bedingung γ(0) = c ist offensichtlich.
Unsere Funktion ist damit eine L¨osung der Differentialgleichung mit dem vorgegebenen Anfangswert. Ist umgekehrtγ(t) eine beliebige L¨osung unserer Differentialgleichung γ′ =Aγ, so berechnen wir die Ableitung der Funktion t 7→ h(t) = exp(−tA)γ(t) mithilfe der matrixwertigen Produktregel 7.2.16MPR und erhalten
h′(t) =−Aexp(−tA)γ(t) + exp(−tA)γ′(t) = 0
Die Funktion h(t) = exp(−tA)γ(t) ist also konstant mit Wert γ(0) und mit dem anschließenden Lemma 7.4.11 folgtADFG γ(t) = exp(tA)γ(0).
ADFG Lemma 7.4.11. Die Exponentialabbildung wirft die Null auf die Identit¨at, und sindA, B zwei kommutierende quadratische Matrizen, in FormelnAB = BA, so gilt
exp(A+B) = (expA)(expB)
Bemerkung 7.4.12. Insbesondere folgt exp(−A) = (expA)−1, die Exponen- tialabbildung ist mithin eine Abbildung von der Menge aller quadratischen Matrizen in die Menge aller invertierbaren quadratischen Matrizen
exp : M(n×n;R)→GL(n;R)
F¨ur den Beweis des Lemmas geben wir zun¨achst nur eine Skizze, die dann im anschließenden Abschnitt ausgemalt wird.
Beweisskizze. Genau wie bei der Diskussion des Produkts absolut konvergen- ter Reihen in2.6.11 zeigt manPvR
(expA)(expB) = X
(i,j)∈N×N
AiBj i!j!
Dann faßt man mithilfe von 7.5.14 die Terme mitZZZ i + j = k zusammen und landet wegen AB = BA wie beim Beweis der Funktionalgleichung der Exponentialfunktion bei der Reihe f¨ur exp(A+B). Um das alles formal zu rechtfertigen, kann man mit den einzelnen Matrixeintr¨agen argumentieren und sich so auf unsere Resultate ¨uber Reihen reeller Zahlen zur¨uckziehen.