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View of Dramaturgien des Säumens. Postdramatik und Posthumanismus in drei Aufführungen von Hölderlins „Der Tod des Empedokles“ (Grüber, Castellucci, Theater Zuidpool)

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Academic year: 2022

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Texte intégral

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Zusammenfassung

Friedrich Hölderlins unvollendetes Trauerspiel Der Tod des Empedokles mag für die Hölderlin-Forschung eine attraktive Herausforderung darstellen, fürs Theater scheint das über drei Entwürfen zerstreute Material – um die dreitausend Verse – nicht gerade geeignet zu sein. Dennoch haben sich Regisseure hin und wieder an dem Textbrocken gewagt, zum ersten Mal im Winter 1916 in Stuttgart. Erst die umstrittene Aufführung von Klaus Michael Grüber in Berlin im Jahre 1975 („Empedokles. Hölderlin lesen“) hat gerade den Widerstand zum Drama einer bis heute maßgeblich gebliebenen, postdramatischen Inszenierung zugrunde gelegt. In diesem Beitrag wird zunächst auf Hölderlins Empedokles-Entwürfe selber fokussiert und nach deren theatralischem Potential gefragt. Zeichnet sich in der Dramaturgie des Erscheinens und Verschwindens vielleicht eine utopisch geladene Politik des Säumens ab, die überdies eine posthumanistische Perspektive eröffnet? In einem zweiten Teil werden diese Fragen und Hypothesen an Grübers legendärer Inszenierung sowie an zwei zeitgenössischen Aufführungen, Romeo Castelluccis „Giudizio Possibilità Essere“ (2014) und „Empedokles“ vom Antwerpener Theater Zuidpool (2014) geprüft.

Abstract

With three drafts and more than 3000 verses Friedrich Hölderlin’s unfinished drama The Death of Empedocles may be a challenge for Hölderlin scholars, but it doesn’t really seem suitable for the stage. Nevertheless, some theatre directors have ventured on the project of staging this though textual material, starting with a first attempt in the war winter of 1916.

But it was Klaus Michael Grüber’s production Empedocles. Reading Hölderlin that turned the resistance to dramatization in Hölderlin’s material into the starting point of a new and still exemplary postdramatic dramaturgy. In the first part of this article I will try to show how Hölderlin’s un-dramatic play harbors a strong theatrical potential; moreover, the dramaturgy of appearing and disappearing may articulate a utopian politics of ‘lingering’

or ‘tarrying’ that prefigures a post-humanist perspective. To check theses hypotheses I will focus in a second part on three theatre productions: Grüber’s «Empedocles. Reading Hölderlin», Romeo Castellucci’s «Giudizio Possibilità Essere» (2014) and «Empedokles»

(2014) by Theater Zuidpool.

Bart P

hiliPsen

Dramaturgien des Säumens. Postdramatik und Posthumanismus in drei Aufführungen von Hölderlins „Der Tod des Empedokles“

(Grüber, Castellucci, Theater Zuidpool)

To quote this article:

Bart PhiliPsen: Dramaturgien des Säumens. Postdramatik und Posthumanismus in drei Aufführungen von Hölderlins „Der Tod des Empedokles“ (Grüber, Castellucci, Theater Zuidpool), in: Interférences littéraires/Literaire interferenties, 22, « Un-Fading the Hero.

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Sascha bRu (Ku leuven) Geneviève FabRy (UCL)

Agnès GuideRdoni (FNRS – UCL) Ortwin de GRaeF (Ku leuven) Jan heRman (KU Leuven) Guido latRé (UCL) Nadia lie (KU Leuven)

Michel lisse (FNRS – UCL) Anneleen masschelein (KU Leuven) Christophe meuRée (FNRS – UCL) Reine meylaeRts (KU Leuven) Stéphanie Vanasten (FNRS – UCL) Bart Vanden bosche (KU Leuven) Marc Van VaecK (KU Leuven)

Olivier ammouR-mayeuR (Université Sorbonne Nouvelle -–

Paris III & Université Toulouse II – Le Mirail) Ingo beRensmeyeR (Universität Giessen)

Lars beRnaeRts (Universiteit Gent & Vrije Universiteit Brussel) Faith bincKes (Worcester College – Oxford)

Philiep bossieR (Rijksuniversiteit Groningen) Franca bRueRa (Università di Torino)

Àlvaro ceballos ViRo (Université de Liège) Christian chelebouRG (Université de Lorraine) Edoardo costaduRa (Friedrich Schiller Universität Jena) Nicola cReiGhton (Queen’s University Belfast) William M. decKeR (Oklahoma State University) Ben de bRuyn (Maastricht University) Dirk delabastita (Université de Namur) Michel delVille (Université de Liège)

César dominGuez (Universidad de Santiago de Compostella

& King’s College)

Gillis doRleijn (Rijksuniversiteit Groningen) Ute heidmann (Université de Lausanne)

Klaus H. KieFeR (Ludwig Maxilimians Universität München) Michael KolhaueR (Université de Savoie)

Isabelle KRzywKowsKi (Université Stendhal-Grenoble III) Mathilde labbé (Université Paris Sorbonne)

Sofiane laGhouati (Musée Royal de Mariemont) François leceRcle (Université Paris Sorbonne) Ilse loGie (Universiteit Gent)

Marc mauFoRt (Université Libre de Bruxelles) Isabelle meuRet (Université Libre de Bruxelles) Christina moRin (University of Limerick) Miguel noRbaRtubaRRi (Universiteit Antwerpen) Andréa obeRhubeR (Université de Montréal)

Jan oosteRholt (Carl von Ossietzky Universität Oldenburg) Maïté snauwaeRt (University of Alberta – Edmonton) Pieter VeRstRaeten ((Rijksuniversiteit Groningen)

ConseilderédaCtion – redaCtieraad

Anke Gilleir (KU Leuven) – Rédacteur en chef - Hoofdredacteur

Beatrijs Vanacker (KU Leuven) – Secrétaire de rédaction - Redactiesecretaris Elke d’hoKeR (KU Leuven)

Lieven d’hulst (KU Leuven – Kortrijk) david maRtens (Ku leuven)

Hubert Roland (FNRS – UCL)

Matthieu seRGieR ((UCL & Factultés Universitaires Saint-Louis) Myriam watthee-delmotte (FNRS – UCL)

Interférences littéraires / Literaire interferenties KU Leuven – Faculteit Letteren Blijde-Inkomststraat 21 – Bus 3331

B 3000 Leuven (Belgium)

ComitésCientifique – WetensChaPPelijkComité

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d

ramaturgien des

s

äumens

.

Postdramatik und Posthumanismus in drei Aufführungen von Hölderlins „Der Tod des Empedokles“

(Grüber, Castellucci, Theater Zuidpool)

Von „Der Tod des Empedokles“ zu „Empedokles auf dem Ätna“: Die Bühne als Transitort

Friedrich Hölderlins unvollendetes Trauerspiel Der Tod des Empedokles greift bekanntlich auf das Leben des gleichnamigen sizilianischen Naturphilosophen zurück, so wie es auf sehr bruchstückhafte und wenig zuverlässige Weise in den Schriften des Diogenes Laërtius überliefert wurde. Empedokles tritt aus diesem mosaikartigen, aus sich ergänzenden und widersprechenden Legenden bestehenden Porträt als eine schillernde, manche würden sogar sagen: dubiöse und skurrile Figur hervor, ein Tausendkünstler, der angeblich Philosoph, praktizierender Arzt und Dichter sowie auch systemkritischer Politiker und charismatischer Guru gewesen sein soll. Von allen pseudobiographischen Anekdoten, die überliefert sind, ist zweifellos die Legende des Freitods durch Empedokles‘ mutmaßlichen Sprung in den Ätna die bekannteste, zugleich schon seit Diogenes und später auch bei Horaz und Lukian ein Grund zu Spott und Verachtung. Das spektakuläre Ende im Ätna galt auch in Hölderlins Zeit noch als Beweis dafür, dass Empedokles die Tatsache, dass er in jeder Hinsicht – als Dichter, Gelehrter und Politiker – gescheitert sei, durch eine Verzweiflungstat zu verhüllen versucht habe. Der eingebildete Schwärmer und Scharlatan habe sich auf diese trügerische Weise den Status eines Halbgottes wie Herakles erschleichen wollen. Ein von dem Vulkan wieder ausgespiene bronzene Sandale soll ihm aber einen Streich gespielt und die vermeintliche Aufnahme in den göttlichen Bereich als peinlich gescheiterten Hokuspokus entlarvt haben. Kurz:

als Hölderlin in den Jahren vor 1800 die Idee eines Trauerspiels über Empedokles auszuarbeiten begann, konnte er nicht wirklich auf ein Korpus respektabler literarisch-philosophischer Prätexte zurückgreifen. Dass er gerade diesen Stoff und nicht den ursprünglich geplanten und oft literarisierten Tod des Sokrates zur Dramatisierung auswählte, war an sich schon innovativ und provokativ, ein klares Zeichen der Würdigung und der Rehabilitation jenes eher als komisch denn als tragisch rezipierten Anti-Heros der Philosophie.

Hölderlin machte aus Empedokles nichts weniger als einen exilierten und charismatischen Oppositionsführer; in dessen lyrisch-metaphysischer Sprache klingt ein politisch-theologischer Diskurs an, der sowohl von den Idealen der

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Französischen Revolution als von den konkreteren Demokratisierungstendenzen und republikanischen Bestrebungen in Deutschland, in Hölderlins Heimat Schwaben und sogar in seinen eigenen Freundschaftskreisen genährt wurde.1 Empedokles, so Hölderlin, sei vor allem „ein Sohn der gewaltigen Entgegensezungen von Natur und Kunst“ (FHA 13, 872), er hätte seinen Mitbewohnern, „seinen hyperpolitischen, immerrechtenden und berechnenden Agrigentinern“ (FHA 13, 874), die Vision anderer gemeinsamer Lebensformen und die Möglichkeit bzw. Notwendigkeit einer grundsätzlichen Änderung der Verhältnisse vorgehalten.2 Infolge dieses revolutionären Programms wurden zunächst die bestehenden Formen und Bindungen zur Diskussion gestellt und the powers that be, die weltlichen und religiösen Führer Kritias und Hermokrates, provoziert. Hölderlin lässt sein Trauerspiel dort anfangen, wo Kritias und Hermokrates Empedokles als Betrüger in Diskredit zu bringen versuchen. Der Anlass: Nachdem er sich in Anwesenheit des Volkes einen Gott oder Halbgott genannt hatte, gerät Empedokles in eine existentielle Krise und wird er von Selbstzweifel zerrissen. Der sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogene Empedokles wird den Bürgern, denen er vorher als charismatischer Prophet und Heiler erschienen war, nun als gebrochene, entmachtete Figur vorgeführt, verflucht und offiziell verbannt. Aber die Bürger kommen zu anderen Einsichten und zwingen die Führer dazu, Empedokles feierlich wieder nach Agrigent zu holen. Als sie ihm auch noch die Königskrone anbieten, werden sie jedoch von Empedokles schroff zurückgewiesen: „Dies ist die Zeit der Könige nicht mehr“ – „Schämet Euch,/

dass Ihr noch einen König wollt/ Ihr seid zu alt (…) Euch ist nicht zu helfen, wenn ihr selber euch nicht helft“. (FHA 13, 742, V. 1329-1333) Empedokles weist jede weltliche Autorität und Macht zurück und ist immer entschlossener, sich der Natur hinzugeben:

Am Tod entzündet mir

Das Leben sich zulezt und reichest du Den Schreckensbecher, mir, den gährenden Natur! Damit dein Sänger noch aus ihm

1. In einem Brief an den Freund Isaac von Sinclair, der vermutlich eine zentrale Rolle in der kurz danach gescheiterten geheimen revolutionären Bewegung in Württemberg gespielt hat, schreibt H. im Dezember 1798, während der Arbeit am Empedokles: „Ich habe dieser Tage in deinem Diogenes Laertius gelesen. Ich habe auch hier erfahren, dass mir nemlich das Vorübergehende und Abwechselnde der menschlichen Gedanken und Systeme fast tragischer ausgefallen ist, als die Schicksaale, die man gewöhnlich alleine die wirklichen nennt, und ich glaube, es ist natürlich, denn wenn der Mensch in seiner eigensten freien Thätigkeit, im unabhängigsten Gedanken selbst von fremdem Einfluss abhängt, und wenn er auch da noch immer modificiert von den Umständen und vom Klima ist, wie es sich unwidersprechlich zeigt, wo hat er dann noch eine Herrschaft? Es ist auch gut und sogar die erste Bedingung alles Lebens und aller Organisation, dass keine Kraft monarchisch ist im Himmel und auf Erden. Die absolute Monarchie hebt sich überall selbst auf, denn sie ist objectlos; es hat auch im strenge Sinne niemals eine gegeben.“ Friedrich höldeRlin, Sämtliche Werke, „Frankfurter Ausgabe“, Historisch-Kritische Ausgabe (D.E. Sattler u.a. ed.), Band 19, Frankfurt, Stroemfeld/Roter Stern Verlag, 1975 ff. Diese Ausgabe wird künftig als FHA zitiert.

2. In einer Reihe von poetologischen und geschichtsphilosophischen Reflexionen, die Hölderlin während der Arbeit am Empedokles aufgeschrieben hatte, versucht er Empedokles und seine mutmaßliche Heroik in verschiedenen Ansätzen zur Definition philosophisch und dramaturgisch zu legitimieren. Empedokles, so Hölderlin, verkörpere und reflektiere die Gegensätze seiner Zeit und seiner Kultur, d.h. die von Natur und Kunst, wobei Kunst zu verstehen sei als menschliche Aktivität und Selbstreflexivität, kulturelle Institutionen und Diskursivität. Hölderlin führt diese Begriffe auf neue, eigenständig geprägte Termini zurück: In Empedokles, so heißt es, werden die latenten Spannungen und entgegengesetzten Wechselwirkungen zwischen einerseits dem Aorgischen – das sind Tendenzen zum Formlosen und Unbewussten – und andererseits dem Organischen, d.h. zum Geformten, Organisierten und Reflexiven oder Selbstbewussten, auf übermäßige Weise sichtbar und fühlbar. Das Aorgische und das Organische lassen sich übrigens gar nicht auf die Termini Natur vs. Kultur zurückführen, da sie aus Hölderlins Sicht sowohl der Natur im engeren Sinne als dem Menschen eigen sind. Siehe FHA 13, 872 („Grund zum Empedokles“).

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Die lezte der Begeisterungen trinke!

Zufrieden bin ichs, suche nun nichts mehr Denn meine Opferstätte. Wohl ist mir.

(FHA 13, 755, V. 1767-1773)

Was aus dem ganzen Plan geworden ist, ist längst Literaturgeschichte. Dreimal hat Hölderlin neu angefangen mit dem Entwurf dieses Trauerspiels, dreimal bricht er es wieder ab. Alles scheint um das schon im Titel angekündigte Verschwinden des Helden zu drehen, auf das die drei Entwürfe immer fokussierter aber vergeblich hinarbeiten. Die Konzentration des Handlungsvorgangs auf den Augenblick des Todes rückt aber dieses Ende nicht näher; es vertieft nur das Problem des Verschwindens, das nie stattfindet und wie in einem Endspiel angekündigt und aufgeschoben, beschleunigt und verzögert und nur in der ursprünglichen Skizze sowie in Notizen zur Fortsetzung des dritten Entwurfs als Handlungsmoment erwähnt wird. Wie schreibt man überhaupt ein Drama über einen Helden, der aus freiem Willen aus dem Leben scheiden möchte?

Interessantes Detail: Hölderlin hatte kurz vor dem definiten Abbruch noch einen anderen Titel für das Trauerspiel gewählt. Anstatt des auf die Opfertat fokussierenden Titels „Der Tod des Empedokles“ sollte das Trauerspiel nunmehr

„Empedokles auf dem Ätna“ heißen, vielleicht eine Anspielung auf „Ödipus auf Kolonos“, auf jeden Fall ein Hinweis darauf, dass nicht das Opfer an sich und die dadurch erhoffte Revolution, also nicht dramatische Handlung, sondern vielmehr eine Situation oder ein Zustand zum eigentlichen Kern des Trauerspiels avanciert waren. Die immer schwieriger werdenden politischen Umstände, die Verhaftungen von führenden Republikanern und die zunehmende Repression in Württenberg dürfen den im dritten Entwurf vom Anfang an überherrschenden Ton der Weltabgewandtheit und der Todessehnsucht mitbegründet haben. Hölderlin bricht das Projekt im Dezember 1799 endgültig ab – am 9. November hatte Napoleon Bonaparte durch einen Staatsstreich der Periode der französischen Revolution ein Ende gesetzt und die – auch von Hölderlin – auf ihn gesetzten Hoffnungen auf eine republikanische Umwälzung der politischen Verhältnisse verraten.3

In einem aufschlussreichen Aufsatz „Erscheinen und Verschwinden.

Metaphysik der Bühne in Hölderlins ‚Empedokles‘“ hat Rüdiger Campe akribisch nachgezeichnet, dass die Handlung sowie die Sprache sowohl in den Bühnenanweisungen als in den dialogischen und monologischen Sprechakten leitmotivisch von Figuren des Fortschickens und Zurückholens, Auftretens und Abtretens, Erscheinens und Verschwindens beherrscht werden. Der Grundtendenz des Stückes entsprechend, „kann man den Ausruf ‚Hinweg!‘ geradezu das Grundwort (im ersten Entwurf) des ‚Empedokles‘ nennen.“4 Das Todesverlangen verschiebt und verwinkelt sich jedoch in den verschiedenen Fassungen und durch die spärlichen Handlungsmomente, d.h. die „wesentlichen Handlungszüge der Verbannung, der Verfluchung und ihres Widerrufs.“ 5 Der Held will eigentlich weg von der Bühne bzw. der Öffentlichkeit, nur nicht unter den Bedingungen

3. Siehe u.a. Christoph PRiGnitz, „Zeitgeschichtliche Hintergründe der ‚Empedokles‘- Fragmente Hölderlins“, Hölderlin-Jahrbuch, 1982/83, 23, 229-257.

4. Rüdiger camPe, „Erscheinen und Verschwinden: Metaphysik der Bühne in Hölderlins

‚Empedokles‘“, in: Bettine menKe & Christoph menKe (eds.), Tragödie – Trauerspiel – Spektakel, Recherchen 38, Berlin, Theater der Zeit, 2007, 53-71, 58.

5. Ibid., 61.

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der bestehenden Machtverhältnisse, deren Dramaturgie des Fortschickens und Zurückholens, der An- und Abwesenheit er zurückweist. Und zwar beruft er sich auf eine andere Dramaturgie, die der Götter, die ihm Charisma geschenkt und auch wieder entnommen hätten, weil er sich einen Gott genannt haben soll. Aber, so wird von Empedokles suggeriert und von seinen Jüngern beteuert, letzten Endes ehren sie ihn damit, dass sie ihn der Welt wieder entreißen und in ihre Gemeinschaft aufnehmen wollen. Daraus entsteht eine sehr paradoxe exzessive Theatralik; paradox weil das Zuwenig der Handlung und die vom Anfang an stark durchwirkende Tendenz zur Auflösung der Bindungen, d.h. letzten Endes zur Auflösung jedweder Dramatik, fast zum exklusiven Gegenstand des Spiels wird. Der Bühnenapparat und dessen Basisfunktion – das In-Erscheinung-Treten und Verschwinden-Lassen von Figuren – werden somit ins Zentrum eines Spiels gerückt, dessen ‚Held‘ der von ihm erwarteten Präsenz zutiefst entgegenstrebt (und diesem Entgegenstreben seine ebenfalls paradoxe Wirkung, seine charismatische présence, zu verdanken hat). Die Bühne ist somit nicht bloß der Ort, an dem sich eine Handlung abspielt, sondern sie wird zu einem auf Dauer gestellten Durchgangsort, der nicht länger nur zwischen Orten und Zeitpunkten situiert ist. Der Theaterraum wird vielleicht zu dem, was Foucault „Heterotopie“ genannt hat, zu einem Ort also, der der realen Ordnung, von der sie sich unterscheidet, keine andere in sich abgerundete fiktiv-imaginäre entgegensetzt (das wäre eine Utopie), sondern vielmehr die reale Ordnung (die dort waltende Ordnung der Wörter und der Dinge) subvertiert oder wenigstens deren Verortungen der Macht radikal in Frage stellt.6 Die Änderung des Titels – „Empedokles auf dem Ätna“ – dürfte genau dieser heterotopischen Qualität Rechnung tragen. Die Szenen, in denen sich die eigentlichen Auseinandersetzungen zwischen Empedokles, den Machthabern, dem Volk und seinen Jüngern abspielen, finden immer an einem Ort statt, der sich zwischen der Stadt und dem definitiven

‚Ziel‘ des Empedokles befindet. Als ursprünglicher Transitraum erlaubt er Durchblicke auf die prekäre Konstitution der Agrigenter Gemeinschaft, auf Beziehungen und Organisationsstrukturen, Machtverhältnisse und Abhängigkeiten, kurz: auf die Bruchlinie zwischen der bestehenden sozial-politischen Ordnung und dem Politischen, der faktischen Organisation des Zusammenlebens und jenem Moment der Offenheit und ‚Unentscheidbarkeit‘, in dem die faktische Ordnung in ihrer prekären Kontingenz als – vielleicht Existenzformen reduzierende – mögliche aber nicht notwendige Gemeinschaftsform erscheint. Diese Bruchlinie ist immer auch ein Ort, an dem rhetorisch-theatralische und – in umfassenderem Sinn –, ästhetische Prozesse wirksam sind und sichtbar oder lesbar werden.7

6. “Heterotopias are real places – places that do exist and that are formed in the very foundling of society – which are something like counter-sites in which the real sites, all the other real sites that can be found within the culture, are simultaneously represented, contested, and inverted. Places of this kind are outside of all places, even though it may be possible to indicate their location in reality.”

Michel Foucault, „Of Other Spaces“, Diacritics, 1986, 16, 1, 24.Siehe auch Patrick PRimaVesi,

“Heterotopias of the Public Sphere. Theatre and Festival around 1800”, in: Erika FischeR-lichte

& Benjamin wihstutz (eds.), Performance and the Politics of Space. Theatre and Topology, New York &

London, Routledge, 2013, 159.

7. Die ästhetische Grundlage der Politik ist längst zum etablierten Forschungsgegenstand der Kulturwissenschaften geworden. Siehe u.a. die von Oliver Kohns und Martin Doll bei Wilhelm Fink herausgegebene Reihe ‚Texte zur politischen Ästhetik‘, die „die Verbindung von Ästhetik und Politik nicht in den Zusammenhang der Darstellung oder Kritik politischer Verhältnisse in ästhetischen Werken [stellt], sondern fragt, inwiefern das Politische immer schon auf Ästhetik, bestimmte Formen der Sichtbarwerdung, des Wahrgenommenwerdens und folglich der ästhetischen Repräsentation angewiesen ist“. Aus dem Klappentext von Martin doll und Oliver Kohns (eds.), Die imaginäre Dimension der Politik. Texte zur politischen Ästhetik I, München, Wilhelm Fink Verlag,

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Die Frage der Präsenz und Absenz ist tatsächlich nicht zu trennen von der theologisch-politisch-ästhetischen Dramaturgie, die eben die Präsenz und Verkörperung der Macht – das Recht und das Vermögen zu theatralischem Erscheinen bzw. Auftreten und Abtreten, die strategisch eingesetzte, inszenierte und kontrollierte An- und Abwesenheit, kurz: die Verwaltung des Sichtbaren und, in umfassenderem Sinne, des Sinnlichen oder der Wahrnehmung8 – regelt.

Empedokles‘ schon zitierter Appell an die Bürger sich selbst zu helfen, soll nicht nur als ein klassischer Emanzipationsimperativ und ein Aufruf zum Wechsel der Macht verstanden werden; er bedeutet vielmehr einen Aufruf, die von der politischen und religiösen Macht durchgeführte Reduktion und Verwaltung der Lebensformen zu bekämpfen, denn – so der Priester Hermokrates – „Drum binden wir den Menschen auch das Band ums Auge, dass sie nicht zu kräftig sich am Lichte nähren (…) Es darf ihr Herz Lebendiges nicht finden“. (FHA 13, 817, V.

10-16; Zweiter Entwurf) Damit ist aber die (politische) Crux von Hölderlins Poetik, nicht nur von der Poetik des Empedokles-Projektes, sondern von dessen ganzem Werk berührt: die Position, der Status des poetischen Vermittlers in der Zeit, der für Hölderlin nur ein verschwindender sein kann, weil die Rolle des affirmativen Vermittlers notwendigerweise in die des falschen Propheten umkippen muss und dessen charismatische, medial inszenierte Präsenz zu Idolatrie pervertiert zu werden droht. Wer „statt offner Gemeine“ „singen“9, d.h. als Wortführer im Namen des Volkes, auftreten und sprechen will, soll sich der prekären temporären und rhetorischen Natur der eigenen Position bewusst sein. Aber auch die Tendenz zur Selbstaufgabe, die nur scheinbar der Haltung des Vermittlers entgegensetzt ist, wird von Hölderlin als eine potentiell problematische aufgefasst; sie könnte sich in ein pathetisches und letzten Endes pathologisches Verlangen nach Selbstauslöschung verwandeln, das im tragischen Selbstopfer den heroischen oder Märtyrertod sucht, um in der Negativität eine paradoxe Wahrheit erscheinen zu lassen, also gerade in der Absenz absolute Macht auszuüben. So oder so, jeder Eingriff, jede Setzung, auch die der Selbstauslöschung, entstellt die Erfahrung einer Welt im Umbruch, der Hölderlin als einer wesentlichen Erfahrung von Zeitlichkeit (auch im Sinne von Endlichkeit, Kontingenz…) und Veränderung gerecht zu werden versucht.

Der ursprüngliche Vorwurf des Kritias, als er (im ersten Akt des ersten Entwurfs) dem Volk Empedokles zeigt, um das Gerücht seiner ‚Himmelfahrt‘ zu entkräften – „Und traurig sieht er, gleich den Sterblichen“ (FHA 13, 712, V. 476) – wird auf ironische Weise von Empedokles beim versöhnlichen Abschied im zweiten Akt

2014. In Hölderlins „Empedokles“ wird diese Perspektive auf die grundsätzliche und konstitutive Beziehung von Ästhetik und Politik wieder mit der dramaturgischen und thematischen Problematik des Trauerspiels als eines Reflexionsraums eben dieser Beziehung verknüpft.

8. Eine Schlüsselszene ist die, wo die Machthaber Empedokles zunächst dem Volk in der Öffentlichkeit vorführen wollen, bevor sie ihn durch einen Fluch verbannen: „Versammle nur das Volk, damit ich / Das Angesicht des Mannes ihnen zeige / Von dem sie sagen, daß er aufgeflohn / Zum Aether sei; sie sollen Zeugen seyn / Des Fluches, den ich ihm verkündige. / Und ihn verstoßen in die öde Wildniß, / Damit er nimmerwiederkehrend dort / Die böse Stunde büße, da er sich / Zum Gott gemacht.“ FHA 13, 704, V. 240-248; Erster Entwurf) Der Streit um und die Verwaltung der Öffentlichkeit als Bühne gehört laut Rancière zum Wesen der Politik: „La politique est d’abord le conflit sur l’existence d’une scène communne, sur l’existence et la qualité de ceux qui y sont présents.“ Jacques RancièRe, La Mésentente. Politique et Philosophie, Paris 2007 [1995], 49.

9. ‘Stellvertretend’ für viele der späteren Gesänge der Anfang des hymnischen Fragments

„Der Mutter Erde“, Friedrich höldeRlin, Sämtliche Werke und Briefe, Band I, ed. Michael Knaupp, München, Carl Hanser Verlag, 1992, 334. Für die Problematik der Sprechinstanz und des personalen Mittlertypos in Hölderlins Spätwerk siehe u.a. Bart PhiliPsen, „Gesänge (Stuttgart, Homburg)“, in:

Johann KReuzeR (ed.), Hölderlin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar, Verlag J.B.

Metzler, 2002/2011, 347-378.

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ins Affirmative gewendet und für sich selbst beansprucht: „Lebt wohl, es war das Wort des Sterblichen,/ Der diese Stunde liebend zwischen euch und seinen Göttern zögert“. (FHA 13, 746, V. 1468 und 660, V. 1468-1469d-1470c)

Gerade an diesem Dilemma leidet Empedokles. In seiner Überzeugung, „Es muss beizeiten weg, durch den der Geist geredet“, ist die imitatio christi nicht zu überhören. Aber am Ende des dritten Entwurfs, das nur noch auf die Endstufe der Fabel fokussiert, auf einen Empedokles, der schon unterwegs zum Vulkan ist, wird Empedokles durch eine geisterhafte Figur aus der Vergangenheit und aus der Fremde heimgesucht: ein Trugbild, das sich fast wie eine phantasmagorische Abspaltung von Empedokles selber hören und sehen lässt, so dass – wie noch einmal Campe mit Recht bemerkt – sich zwischen den beiden „ein Zwiegespräch [entspinnt], dem nicht zu entnehmen ist, ob die beiden Sprecher sich gegenseitig als Anwesende wahrnehmen.“10 Es handelt sich um den Ägypter Manes, der nach einer zynischen Bemerkung über die Kindlichkeit der Griechen Empedokles mit einer prägnanten Frage aus dem Gleichgewicht bringt: Ob er tatsächlich derjenige sei, den der Gott der Zeit, der Zeitgeist also, als den sich selbst im Akt der Offenbarung zu erlöschenden Vermittler ausgewählt habe, „Bist du der Mann? Derselbe? Bist Du diß?“. Die prägnante und mehrdeutige Identifikationsfrage rückt Empedokles‘

Programm erneut in ein ambivalentes Licht. Sie präfiguriert die Suche in Hölderlins Spätwerk nach einem poetischen Standort und einer Sprechinstanz, die sich aller Vereinnahmungen von linker und rechter Seite in der Hölderlin-Rezeption zum Trotz, nicht anders als ein sich jeder Setzung entziehendes Sprechen zu profilieren versucht.

Daran lässt sich noch einmal die Frage nach der eigentlichen politischen Bedeutung des Empedokles-Projektes präzisieren. Es mag sein, dass Hölderlin den Schreibprozess abgebrochen hat, weil jener acte suprême des Sprungs irrelevant geworden wäre, nicht jedoch Empedokles‘ wiederholtes und variierendes elegisches Abschiedsnehmen, das vielmehr zur eigentlichen (Nicht-)Handlung avanciert. Das Gewicht verlagert sich auf das sich andauernd von Bindungen Lossagen und aus Beziehungen Trennen, auf den zögernden, zaudernden Rückzug, dessen Fluchtpunkt im Krater nunmehr außerhalb des Rahmens des Schauspiels liegt. Empedokles ist der Säumende, aber sein Säumen erlaubt ihm, eine Zukunft anzusprechen, die sich nicht schon in politische oder andere Szenarien verwandelt hat. Im Säumen lässt er das „Kommende“ der Demokratie erscheinen, d.h. – nach Jacques Derridas Verständnis von Demokratie – nicht diese oder jene historische Regierungs- oder Staatsform, sondern einen Diskurs der ständigen Selbstbefragung, ein Sprechen über und von Demokratie, das selber auch ein demokratisches Sprechen sei, insofern die Reflexion über die Sprechinstanzen und das Recht zu sprechen zur unaufhörlichen Aufgabe und zum Wesen des Demokratischen gehören.11 Das Zögern und Säumen an den Grenzen des Sichtbaren durchkreuzt die von der theologisch-politischen Souveränität (Hermokrates und Kritias) kontrollierte Dramaturgie und setzt das von ihr verwaltete und der Wahrnehmung entzogene „Lebendige“ wieder frei.

Empedokles‘ politische Bedeutung darf allerdings nicht von seinen hymnischen Evokationen der Natur getrennt werden. Sie ist alles andere als bloß

10. camPe, „Erscheinen und Verschwinden“, 71.

11. Siehe Jacques deRRida, „Das Recht des Stärkeren (Gibt es Schurkenstaaten?)“, in:

Schurken.Zwei Essays über die Vernunft, Frankfurt/M., Suhrkamp Verlag, 2003.

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Dekor. Ihre Bedeutung lässt sich keineswegs auf einen romantischen Naturbegriff zurückführen, sondern sie soll, bei genauer Lektüre, auf eine durchaus politisch motivierte Erfahrung der Umwelt und des Lebens bezogen werden, die sich nicht mit der anthropozentrischen und dem alten europäischen Subjektbegriff verhafteten objektivierenden Beziehung zur Wirklichkeit gleichsetzen lässt. Auf diese alteuropäische Perspektive zielt die Fragestellung des Ägyptiers Manes; aus dessen entschieden nicht-griechischer, sogar außer-europäischer Perspektive klingt es fast wie ein Vorwurf: „bist du der Mann, derselbe, diß“. Das sind Fragen, die unvermittelt auf den Mann, den anthropos zielen, auf sein vermeintliches Sich- Selbst-Sein, seine Selbstidentifikation und Selbstpositionierung im Zentrum eines von ihm gesetzten und repräsentierten Universums, in dem er – der Agierende par excellence – Entscheidungen trifft, handelt und produziert, mit einem hegemonialen und universalisierenden Gestus Lebensformen gleichsetzt, unterscheidet, einschließt und ausschließt. Die letzte Frage („bist du – diß?“) scheint schließlich noch eine andere, fast umgekehrte Perspektive anzusprechen: ‚lässt sich deine Singularität („diß“) überhaupt mit der anspruchsvollen, die Singularität der vielen Lebensformen (darunter auch der eigenen) zwangsläufig übersteigenden Rolle des messianischen Vermittlers versöhnen?‘ Die von Hölderlins Empedokles sowohl in seinem Todesverlangen als in seinen Evokationen vergangenen Glücks, in seinen Erinnerungen, Antizipationen und Versprechen heraufbeschworenen Formen des Seins artikulieren allerdings Gemeinschaftsformen, die sich nicht auf exklusiv menschliche, sozio-politische Konfigurationen beschränken, sondern eine post-anthropozentrische Perspektive einschließen. Aus dieser Perspektive wird eine Welt evoziert, an der der Mensch zwar teilnimmt, nicht jedoch als souveräner Herrscher der Schöpfung: eine Perspektive, die das politisch-demokratische (oder historisch genauer: republikanische) enjeu des Trauerspiels mit einer ökologischen Dimension ergänzt. Empedokles entwickelt sich zu einer Figur, die an der Grenze zwischen dem Aorgischen und dem Organischen12 das Verblassen des hegemonialen selbstzentrierten Subjekts inauguriert; in seinem Verlangen nach dem Elementaren lässt er den nicht-exklusiven und in Wirklichkeit prekären Status der klassisch-humanistischen, selbstreflexiven Existenzform sowie auch die damit zusammenhängende biopolitische Gewalt an der Singularität der Daseinsformen durchschimmern.

Postdramatische Lektüren: Hölderlins „Empedokles“

im zeitgenössischen Theater: Klaus-Michael Grübers

„Empedokles. Hölderlin lesen“, oder die „Zäsur“ des Politischen

Im Folgenden soll versucht werden, die hier oben thematisierte Fragestellung, die vor allem auf die Verschränkung (bio-)politischer und ästhetischer (u.a.

dramaturgischer) Aspekte und Dimensionen des Empedokles-Materials fokussiert hat, an drei Inszenierungen der Empedokles-Fragmente zu prüfen. Als Klaus Michael Grüber im Dezember 1975 an der Berliner Schaubühne am Halleschen Ufer „Empedokles. Hölderlin lesen“ inszenierte, bedeutete diese Inszenierung

12. Siehe Anmerkung 2.

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nichts weniger als „eine Zäsur“.13 Die Zäsur bezog sich zunächst auf die eher beschränkte und problematische Theaterrezeption von Hölderlins unvollendeten Trauerspielentwürfen, die wegen der komplizierten, bruchstückhaften Überlieferung sowieso erst am Anfang des 20. Jahrhunderts einem breiteren Publikum zugänglich waren. Von der Welturaufführung im Winter 1916 in Stuttgart bis zu den vereinzelten Nachkriegsinszenierungen der Fünfziger- und Sechzigerjahre hatten sich Regisseure immer wieder darum bemüht, Hölderlins unfertigen, durchaus sperrigen und in vielen Hinsichten undramatischen Textbrocken zu einem spielbaren und in sich abgerundeten Dramentext umzugestalten, wobei vor allem Aufführungen aus der Zeit der beiden Weltkriege die Verherrlichung des mythischen Opfers für die Gemeinschaft – Empedokles‘ legendären Freitod durch einen Sprung in den Vulkan – als ‚Botschaft‘ hervorhoben. In Grübers Inszenierung hingegen ging es nicht darum, „die Spielbarkeit unter Beweis zu stellen“; stattdessen „wurde nach einer Form gesucht, die die Unabgeschlossenheit des Textes ernst nimmt“14 und dadurch auch die Zweifel und die Ambivalenz, die sich immer ausdrücklicher in Hölderlins Schreibprozess abzeichnen und sich in der säumenden Figur des Empedokles zu einer utopischen (oder heterotopischen) Gegenkraft entwickeln, ins Zentrum der Aufführung rückt. Grüber inaugurierte einen dramaturgischen Umgang mit dem Text, der „das Verdikt vom Undramatischen [einbezieht] und die Schwierigkeiten der Form selbst zum Gegenstand der Aufführung [macht]“.15

Was bedeutet dies konkret? Friedemann Kreuder beschreibt in einer Monographie über „Formen des Erinnerns im Theater Klaus Michael Grübers“

die Empedokles-Inszenierung Grübers sehr detailliert als eine „rechtwinklig

‚L-förmig angeordnete Bühne aus zwei Hälften, bei der auf der rechten Längsseite eine Eislandschaft, auf der linken Schmalseite dagegen ein Bahnhofswartesaal zu sehen war. […] Die fast 400 Zuschauer saßen der langgestreckten Eislandschaft gegenüber. Sie mußten Gesicht und Körper ständig drehen, um die Geschehnisse auf beiden Bühnen gleichmäßig verfolgen zu können“16, denn es wurde auf den zwei Simultanbühnen gespielt, auf der einen gesprochen, auf der anderen nur

„stumm agiert.“17 Im Zentrum der rechten Bühne stand eine Installation, die als dreidimensionale Rekonstruktion von „Das Eismeer“ betrachtet werden konnte, Caspar David Friedrichs bekanntem Gemälde von 1823/24, „das vielfach als Metapher für die politische Eiszeit der Restaurationsjahre nach den Napoleonischen Befreiungskriegen […] interpretiert, und lange Zeit dementsprechend fälschlich mit „Die gescheiterte Hoffnung“ betitelt wurde“.18 Die linke Bühne stellte einen Bahnhofswartesaal dar, dessen Ausgänge aber zugemauert waren und die also auch keinen Zugang zu irgendwelchen Gleisen gaben. Die Leute im Saal scheinen vergeblich auf Veränderung bzw. Fortschritt zu ‚warten‘. Aus diesen und vielen

13. So Therese biRKenhaueR über die Rezeption bzw. die Inszenierungsgeschichte von Hölderlins Empedokles-Entwürfen, in: Johann KReuzeR (ed.), Hölderlin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart – Weimar, J. B. Metzler Verlag, 2011, 223.

14. Ibidem.

15. Ibidem.

16. Friedemann KReudeR, Formen des Erinnerns im Theater Klaus Michael Grübers, Berlin, Alexander Verlag, 2002, 111.

17. „Aber wie soll man und was verstehen, wenn auf der einen Bühne gesprochen, auf der anderen zur gleichen Zeit hantiert und stumm agiert wird?“ Rolf michaelis, „Zeitgenosse Hölderlin – Probe-Tagebuch, Premierenbericht“, in: DIE ZEIT 52 (1975).

18. KReudeR, Formen des Erinnerns, 114.

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anderen emblematischen Details (Requisiten, Kostümen, Gesten,…) schließt Kreuder, dass Grüber einen theatralischen Gedächtnisraum konstruiert habe, der als ‚geschichteter‘ Erinnerungstext gescheiterter revolutionärer Bewegungen zu lesen sei; der Zuschauer werde somit nicht nur zu einem andauernden räumlichen Blickwechsel, sondern zu gleicher Zeit zu einer „zeitendurchquerenden Sicht“

aufgefordert, die verschiedene sich überlagernde Zeit-Schichten assoziieren und in einer spannungsreichen Konstellation zusammenführen soll. Empedokles‘

krisenhafte, vorsokratische Zeit, Hölderlins Zeit republikanischer Hoffnungen und Enttäuschungen, die Restaurations- und Vormärzzeit sowie die post-68 Ära und die deprimierende Siebzigerjahre-Republik: Grübers Dramaturgie zwingt diese vergangenen und gegenwärtigen Zeitausschnitte – Momente historischer sowie aktueller Stagnation, Resignation und Enttäuschung – im Sinne von Walter Benjamins Geschichtskonzept in einer von Spannungen gesättigten Konstellation, die sich einer homogenisierenden und Kontinuität fingierenden Zeitlogik entgegensetzt.

Die Verdoppelung und emblematische Komplexität der Bühne einerseits – und die Konzentration auf den Text andererseits – ein Sprechen, das einem lauten, akribischen, zugleich auch retardierenden, innehaltenden Lesen gleichkam („Hölderlin lesen“) – führten zu einer bis heute für Bearbeitungen und Darstellungen von Hölderlin-Texten wegweisenden Ästhetik visueller und textueller Exzessivität und Intensität. Sie verlagerte die Aufmerksamkeit von einer problematischen (un-)dramatischen oder narrativen Inkohärenz auf den durchaus theatralischen Sprechakt selber; und dadurch auch auf die Materialität, die Zeit- und Räumlichkeit eines Bühnenvorgangs, der sich nicht länger auf die Funktion eines transparenten Mediums dramatischer Handlungen reduzieren ließ, sondern ‚Handeln‘ im Sprechen (und Zuhören) sowie in der stummen Gestik (und deren ‚Lektüre‘), in der Differenz auch des Sprechens und des ‚stummen Hantieren und Agierens‘ verortete.19

Die radikale innovative Theaterästhetik, die erst viel später von Hans-Thies Lehmann – unter Verweis auf u.a. Grübers Werk im Allgemeinen und dessen Hölderlin-Inszenierungen im Besondern20 – auf den inzwischen etablierten Begriff des Postdramatischen21 gebracht wurde, ging mit einer politischen Dimension einher, die sich gerade durch ein Insistieren auf der Form von ideologischen

19. Ein späteres Beispiel dieser Verfahrensweise sind die einmaligen ‘Verfilmungen’ des gesamten Empedokles-Materials durch Danièle Huillet und Jean-Marie Straub aus den späten Achtzigerjahren „Der Tod des Empedokles, oder: wenn dann der Erde Grün von neuem euch erglänzt“ (1986) und „Schwarze Sünde“ (1988: dritte Fassung), alles aufgenommen auf dem Etna.

Von ihnen sagte Armin Schäfer: „Man sieht und hört in den Filmen, dass Sprechen allein schon eine Handlung ist, […]. Die gesprochenen Verse verweisen dabei weniger auf die Psychologie eines Charakters als vielmehr auf eine Physiologie des Sprechens. So wenig die Sprechakte durch irgendetwas anderes als durch das Sprechen selbst vom Text losgerissen werden können, so sehr hat eine landläufige Auffassung vom Theater als Drama behindert, dass ein Theaterstück überhaupt als etwas begriffen wurde, dass in der Sprache geschieht […] Huillet und Straub haben von den Theaterstücken das Drama abgezogen, sie unter freien Himmel gesetzt.“ Zitiert nach menKe &

menKe, Tragödie –Trauerspiel – Spektakel, 9.

20. Viel mehr Aufsehen noch als die Empedokles-Inszenierung erregte Grübers im Winter des schicksalsträchtigen Jahrs 1977 inszenierte „Winterreise“ – eine Kollage mit Textfragmenten aus Hölderlins Hyperion-Roman (und Empedokles) – in dem von den Nazis erbauten Berliner Olympiastadion.

21. Hans-Thies lehmann, Postdramatisches Theater, Frankfurt a.M., Verlag der Autoren, 1999.

Zu Grüber u.a. 124-129.

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Vereinnahmungen – auch der linken Seite22 – distanzierte.23 Auch darum bedeutete Grübers szenische Lektüre eine ‚Zäsur‘. Wo frühere Inszenierungen, wie schon angedeutet, noch versucht hatten, den ‚zögernden‘ Helden immerhin Richtung Opfertod zu schubsen und diesem eine bestimmte ideologische Bedeutung abzuringen, definierte Grüber das theatralische Handeln und dessen ‚politische‘

Funktion neu, indem er stattdessen auf die Unterbrechung des Politischen (bzw. des politischen Handelns auf der Bühne) hinarbeitete.24 Das Theatergeschehen wurde

„mehr Präsentation einer Atmosphäre und einer Zuständlichkeit“25, es inszenierte weniger einen Handlungsverlauf als die „Unterbrechung des politisch Kalkulier- und Darstellbaren“, die „den Abgrund der politischen Rationalität und Diskursivität [offenbart]“.26 Dementsprechend beansprucht Grübers Theater laut Kreuder eine

„Eigen-Zeitlichkeit“, die nicht nur jener der postrevolutionären Depression und Stagnation entspreche, sondern auch der Zeit eines (wieder im Benjaminschen Sinne zu verstehenden) „hoffnungsträchtigen Eingedenkens“, das sich vor allem dramaturgisch in dem immer wieder nachdenklich innehaltenden Lese- und Sprechakt artikuliere.27 Grüber hat für das Säumen des Empedokles eine ästhetisch entsprechende Form gefunden, die das Politische dieses Säumens hervorkehrt, indem er ihm statt einer wirklich agierenden und Repräsentationen produzierenden

‚heroischen‘ eine sich selbst unterbrechende, innehaltende Performativität zugrunde gelegt hat.

Losing one’s voice : Castellucci’s „Giudizio Possibilità Essere“

Die zwei jüngeren Theaterproduktionen, die hier weiter besprochen werden sollen, wurden (wohl zufällig) fast gleichzeitig und am gleichen Ort uraufgeführt.

Es handelt sich einerseits um Romeo Castelluccis Aufführung „Giudizio Possibilità Essere“ (oder „Urteil Möglichkeit Sein“)28 in der Turnhalle des Antwerpener

22. Zu erwähnen wäre etwa Peter Weiss’ Hölderlin-Stück H. (1971), in dem Hölderlin als moderner marxistisch inspirierter Guerrillero erscheint.

23. „Grüber läßt den Text ohne Kürzungen, langsam, mit langen Pausen, sprechen – und erschließt ihn so der Vorstellungskraft und politischen Phantasie der Zuschauer. Die an Schauwerten überreiche Aufführung, mit zwei Simultan-Bühnen ohnehin eine Inszenierung für vier Augen und Ohren und bei erster Begegnung – vom Regisseur gewollt – nur in Fragmenten wahrzunehmen, ist eminent politisch, ja sie ist nur politisch zu verstehen – gerade weil sie ohne solche Gleichheitszeichen wie Empedokles = Che Guevara auskommt.“ Rolf michaelis, „Zeitgenosse Hölderlin – Probe- Tagebuch, Premierenbericht“, in: DIE ZEIT 52 (1975)

24. Siehe auch Hans-Thies lehmann, “Unterbrechung. Wie politisch ist postdramatisches Theater?“, in: Hans-Thies lehmann, Das Politische Schreiben. Essays zu Theatertexten, Recherchen 12, Berlin, Theater der Zeit, 2002, 11-21.

25. Hans-Thies lehmann Postdramatisches Theater, 124.

26. Hans-Thies lehmann, “Unterbrechung”, 21. Siehe auch michaelis: „Beim Versuch scheiternd, einen Bruchteil dessen zu berichten, was während der zweieinhalbstündigen Aufführung zu sehen, zu hören, zu ahnen ist, muß ich gestehen, daß ich noch nie im Theater den Eindruck hatte, eine Inszenierung sei, selbst wie hier in ihren bedenklichsten Augenblicken, so in den Mittelpunkt der Hölderlinschen Dichtung gedrungen, habe deren utopische Qualität so radikal verwirklicht.“

27. KReudeR, Formen des Erinnerns, 128.

28. Ein Hinweis auf ein frühes theoretisches Fragment Hölderlins („Seyn, Urtheil, Modalität“

1795; auch „Urtheil und Seyn“), in dem er sich von Fichtes Ich- und Weltbegriff distanziert. Kurz gefasst: Hölderlin begreift die Reflexion als ein Ur-Teilen, das schon immer eine Teilung oder Trennung zwischen (Selbst-)Bewusstsein und Sein/Welt voraussetzt und re-markiert. Wo Fichte die Welt als Vorstellung des Ichs im selbstbewussten Denken umfassen zu können meinte, weist Hölderlin diese Überlegenheit des Denkens schroff zurück. Das Sein transzendiert immer das Selbstbewusstsein, letzteres wird vom Sein umfasst. Später (u.a. in den theoretischen Notizen

„Grund zum Empedokles“) geht er der Frage nach, ob nicht die Kunst imstande sei diese Beziehung zwischen Sein und Denken als „kühneres fremdes Gleichnis“ zu artikulieren. Für den Einfluss

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Jesuitengymnasiums „Sint-Jan Berchmanscollege“. Die Produktion aus dem Jahre 2014 ging allerdings auf frühere Fassungen und Projekte zurück, die unter dem Titel „The Four Seasons Restaurant“ aufgeführt wurden. Die zweite Aufführung mit dem schlichten Titel „Empedokles“ wurde vom Antwerpener Theater Zuidpool ebenfalls 2014 in Antwerpen uraufgeführt. Auffallend an beiden Produktionen ist, dass keine dem sperrigen Text aus dem Wege gegangen ist (obwohl es sich jeweils um eine eigene Montage von Fragmenten aus den verschiedenen Fassungen handelt). Die schon von Grüber inaugurierte Entscheidung, den Sprechakt und somit den Text Hölderlins ins Zentrum der eigentlichen theatralischen Handlung zu rücken, wird hier fortgeführt; beide Inszenierungen kreieren ebenfalls einen starken theatralischen, sowohl visuell als auditiv auffallenden Rahmen, der das Textmaterial noch einmal eigensinnigen Lektüren unterwirft und – wie Grübers zweite Bühne – eine Art Autonomie gewinnt, die das ganze Bühnengeschehen in ein komplexes emblematisches Tableau verwandelt. Andere auffallende Ähnlichkeit: In beiden Produktionen treten nur Frauen als Hauptakteure auf, bei Castellucci sind es etwa 10 junge Frauen, Mädchen fast, bei Zuidpool nur vier, die verschiedene Rollen spielen (genauer: im Sitzen deklamieren). Die radikale Betonung der sexuellen Differenz könnte zu allerhand Interpretationen in Bezug auf die vermeintliche

‚männliche‘ Heroik und Dramatik der Vorlage Anlass geben; aber wie ‚maskulin‘

ist die ‚Dramatik‘ dieses Stücks, in dem politische Tatkraft von einer ‚säumenden‘

Performanz unterminiert und durchkreuzt wird? Tatsache ist, dass die weiblichen Akteure – in der Zuidpool-Vorstellung waren sie hinter einem nur teils transparenten Vorhang kaum zu sehen, nur zu hören – die Textvorlage nicht wirklich als Spieltext benutzten, sondern ihn (oder aus ihm) zitieren, und dadurch eine verfremdende Distanz zwischen dem vorgebrachten Text und der performance kreierten.

Castelluccis Vorstellung konfrontiert das Publikum zu Anfang mit einer Tonaufnahme der NASA, die die Aktivitäten eines der größten bekannten Schwarzen Löcher des Weltalls in hörbare Frequenzen verwandelt, obwohl sie die Grenzen des Erträglichen berühren und man die Aufnahme eigentlich nicht ohne Ohrstöpseln ertragen kann. Das schwarze Loch soll, so Castellucci in einem Interview anlässlich der Antwerpener Aufführung29, für eine unzugängliche Verdichtung von destruktiver sowie kreativer Energie stehen, die alles anzieht, aufsaugt und verschwinden lässt, und aus der der Künstler Fluchtversuche machen soll: eine ‚gefährliche‘ Situation, der auch das Publikum unterzogen werden muss, bevor es in die eigentliche Vorstellung eintreten darf. Das erinnert nicht nur an Nietzsches berühmtes Anfangskapitel aus der „Geburt der Tragödie“, in dem

dieser Reflexionen auf den jüngeren Freund Schelling siehe u.a. Manfred FRanK, Eine Einführung in Schellings Philosophie, Frankfurt a/M, Suhrkamp Verlag, 1985, 61-70.

29. Johan thielemans, „Oordeel, Mogelijkheid, Zijn. Romeo Castellucci”, Cobra 10 March 2014, [online], <http://cobra.canvas.be/cm/cobra/podium/podium-recensie/1.1905095>. Siehe auch das Interview anlässlich der Berliner Festspiele 2012 :“Das ist der Real-Klang eines riesigen Schwarzen Lochs, eins der größten bekannten des Weltalls. Es handelt sich um ein Tondokument der NASA, eine Art Objet trouvé, das für mein Stück wie eine Ouvertüre funktioniert. Es ist, als ob wir durch ein Schwarzes Loch in den Geist der Inszenierung eintreten, durch etwas, das die Dinge anzieht und sie verschwinden lässt – dadurch entsteht eine ganz andere Art der Aufmerksamkeit gegenüber der Realität der Phänomene. Auch das Licht wird aufgesaugt, es ist ein Kollaps, eine Sonnenfinsternis. Das habe ich bewusst so gewählt, weil die Idee meiner Arbeit verbunden ist mit einer Philosophie des Verschwindens. Diese Philosophie ist die Grundstruktur, die den dramatischen Bogen dieser Inszenierung bestimmt.“ Christina tilmann, „Fur mich ist die griechische Tragödie der Polarstern“, in: Foreign Affairs 12, 2012, [online], <https://www.berlinerfestspiele.de/media/2012/

foreign_affairs/fa12_interviews/fa12_interview_castellucci.pdf>

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die konstitutive Duplizität des Apollinischen und des Dionysischen erörtert wird und die attische Tragödie als der Ort par excellence dieser produktiven Duplizität gedeutet wird; es erinnert ebenfalls an Hölderlins eigene theoretische Erörterungen zu seinem Empedokles-Projekt „Über die dialektischen Kräfte“ des Aorgischen und Organischen, die sowohl im kulturellen und humanen Bereich als in der Natur wirksam seien.30 Castellucci deutet alle Bilder konsequent als Metaphern des

‚heroischen‘ Künstlers der in der ikonoklastischen Zerstörung der Bilder sowie auch in der potentiellen, als Fluchtpunkt gesetzten Selbstzerstörung die Bedingung des kreativen Aktes finden soll. Castellucci hat hin und wieder auf Antonin Artauds

‚Theater der Grausamkeit‘ als Bezugspunkt seines eigenen ästhetischen Programms, im Besondern seiner eigenen transgressiven Dramaturgie, hingewiesen.31 Artauds Verlangen nach einer radikalen Abrechnung mit der (vor allem okzidentalen) Macht des Vorstellungsdenkens, nach dem jede Aussage, jeder Gedanke, jeder Körper schon immer von dem jeweiligen Original abgeschnitten (‚gestohlen‘ von einem

‚diebischen Gott‘) und zu Trennung, Zweitrangigkeit und Repetition verurteilt seien, wurde einem ästhetischen Programm zu Grunde gelegt, dessen scheinbare Ausweglosigkeit Hölderlins Aporie des Empedokles-Projekts einerseits sowie dem unlösbaren Dilemma von „Urtheil und Seyn“ (oder Giudizio, Possibilità, Essere) sehr nahe kommt.

Im ersten erschütternden Tableau32 betreten alle Frauen, die eine nach der anderen, die Szene um sich die Zunge mit einer silbernen Schere abzuschneiden.

Während sie nach dieser Handlung einen Kreis und Reigen bilden und sich die Hände reichen, kommt ein schwarzer Hund auf die Bühne gelaufen, der ruhig sämtliche Zungen verschlingt und wieder verschwindet. Die Zungen bedeuten für Castellucci 33 ein tierisches Element, das folgerichtig dem Tierischen – dem Bereich des nicht-nur-menschlichen Seins, der Natur – zurückgegeben werden sollte;

wonach den Frauen eine andere Stimme geschenkt werde, die Stimme Hölderlins und des „Empedokles“, d.h. die Stimme der Poesie, die angeblich als Sprache von Gemeinschaft in einem umfassenden kreatürlichen Sinne aufzufassen sei und sich radikal von der Sprache der realen Welt und deren Vorstellungen unterscheide. Sie kontrastiert allerdings mit der konkreten Situation der Schauspielerinnen und der spezifischen Bühne, die eine Turnhalle in einem Gymnasium oder einem ähnlichen Bildungsinstitut sein sollte, so Castelluccis ausdrückliche Vorschrift. Der Dresscode

30. Siehe Anmerkung 2.

31. Für eine sehr erhellende kritische Analyse und Interpretation von Artauds transgressivem Theater im Kontext der Avantgarde sowie von der (vor allem) poststrukturalistischen Artaud- Rezeption einerseits und Castelluccis komplizierter Beziehung zu Artaud andererseits siehe Thomas cRombez, Het Antitheater van Antonin Artaud. Een onderzoek naar de veralgemeende artistieke transgressie.

Toegepast op het werk van Romeo Castellucci en de Socìetas Raffaelo Sanzio, Gent, Academia Press, 2008.

32. Ich beschreibe im Folgenden der von mir beigewohnten Performance in Antwerpen am 7. März 2014.

33. „Diese Amputation wird ausgeführt als ein freiwilliger Akt. Das Extreme dieser Geste ist notwendig, um eine Gemeinschaft zu schaffen. Die zehn jungen Frauen geben sich die Hand und schließen einen Kreis. Im nächsten Moment kommen Hunde auf die Bühne und fressen die Zungenstücke, die auf der Erde liegen. Es gibt keine Möglichkeit mehr, die Zungen wiederzugewinnen, sie werden als tierisches Element gezeigt, denunziert und folgerichtig den Tieren wiedergegeben. Das Paradox, auf dem diese Szene beruht, besteht darin, dass die so verstummten Frauen anschließend ihre Sprache wiedergewinnen. Aber es ist eine andere Sprache, eine andere

›Zunge‹, die Sprache der Poesie, die keine Beziehung mehr hat zur realen Sprache. Es ist die Sprache von Hölderlin, aus dem Drama Der Tod des Empedokles: ein philosophischer Text, der den Weg des Empedokles bis zu seinem Verschwinden beschreibt. Der Selbstmord, der in dem Drama erzählt wird, ist kein existenzieller Selbstmord, es ist ein ästhetischer Selbstmord, wie eine Lehrstunde, eine Geste, die für die Gemeinschaft ausgeführt wird.“ Interview Berliner Festspiele 2012, siehe Note 29.

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der Mädchen lässt ich auf verschiedene Weisen lesen: ist es die Tracht junger Amish Frauen, sind sie Insassen einer Strafanstalt für Jugendliche oder einfach Schülerinnen eines Internats? Oder tragen sie Uniformen und stellen sie, da sie einige Male mit Gewehren und Pistolen sowie Fahnen herumlaufen, Freiheitskämpferinnen und Revolutionäre dar? Das Schlussbild bildet eine Art Klammer mit dem Anfang: die Frauen verschränken sich zu einem Knäuel aus Leibern, kreieren einen großen Körper wie eine Gebärmutter, aus der die eine nach der anderen wieder geboren wird und danach den allmählich völlig entleerten Bühnenraum verlässt.

Castelluccis Dramaturgie schreibt sich in eine durchaus modernistische Tradition ein, die durch die virtuelle Vernichtung der bestehenden Vorstellungen und Formen neue Möglichkeiten oder wenigstens die Idee des Möglichen und des utopisch Anderen heraufbeschwören möchte. Was sich zwischen der Anfangsszene und dem Schlusstableau abspielt, könnte als das Einüben dieser paradoxen Selbstauslöschung betrachtet werden; diese wird als ästhetischer Akt par excellence einer realen Unfreiheit, die vielleicht in den Uniformen und den vagen Anspielungen auf ideologische Diskurse und Kontexte zum Ausdruck kommt, entgegengesetzt, und zwar als Fluchtweg und imaginäre Neugeburt in eine noch völlig unbestimmte Freiheits- und Gemeinschaftsutopie. Man könnte sich allerdings fragen, ob Castellucci dadurch nicht einem durchaus romantischen (und von der Avantgarde fortgeführten) Künstler- und Subjektbegriff verhaftet bleibt. Überherrscht hier nicht die Idee des souveränen Künstlers, der als Demiurg aus dem Chaos des Aorgischen eine neue einheitliche Welt gestaltet, gereinigt von den konkret-historischen und materiellen Existenzformen, von dem Fleisch des Realen, das er mit einer allem vorangehenden souveränen und, gelinde gesagt, nicht gerade genderneutralen Geste entfernt hat? Oder legen die übertrieben stilisierte und kodierte, manchmal ins Komische und Skurrile abgleitende Theatralik der Schauspielerinnen, ihr forciert schulisches ‚Deklamieren‘ des Textes und ihre altmodischen Uniformen andere Schlüsse nahe? Dass die Mädchen ihre eigenen individuellen Zungen/Stimmen ‚abschneiden‘, um mit der (einen) Stimme des Empedokles (Hölderlins, und Castelluccis?) zu reden; dass sie überdies ihre eigenen (?) auf Tonband aufgenommenen Stimmen, die aus versteckten kleinen Lautsprechern unter ihren Kostümen aufklingen, durch ‚lip-synch‘ nachsagen und dass dadurch eine durch die Trennung von Stimme (Zunge) und Körper verursachte Ungleichzeitigkeit hörbar wird, die den Eindruck eines soufflierenden Gott-Autors bzw. -Regisseurs verstärkt: Das alles scheint eher den Alptraum Artauds – die totale Enteignung der Existenz, die einen zum Bauchsprecher einer anderen ‚transzendenten‘ Autorität mache – als dessen erwünschte Transgression vorzuführen. Das ‚Leben‘ – Hölderlins „Seyn“ – scheint sich in jeder Hinsicht aus diesem Theateraufführung zurückgezogen zu haben; die Beschwörung der sizilianischen Natur geschieht mittels eines alten schnarrenden Radiogeräts, aus dem blökende Schafe, zirpende Grillen und ein altes Volkslied schallen, sowie eines ebenfalls ‚antik‘ wirkenden Diaprojektors, durch das leicht amateurhaft wirkende Schnappschüsse von u.a. sonnübergossenen Bergesgipfeln gezeigt werden.

Eine Frage drängt sich auf: Soll Castelluccis Inszenierung von Hölderlins

„Empedokles“, anstatt eine Hommage an Hölderlin zu präsentieren, nicht vielmehr als eine Hölderlin/Empedokles-Parodie betrachtet werden? Oder soll man diese scheinbare Pervertierung des ‚erhabenen‘, lyrisch-pathetischen Textes gerade als

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einen programmatischen Versuch verstehen, die in Hölderlins „Empedokles“ selber thematisierte ikonoklastische Tendenz einer weiteren ikonoklastischen destruktiven Geste zu unterwerfen? Empedokles‘ Verlangen nach einem radikalen Rückzug – einer Nicht-Position, die sich jeder setzenden Vereinnahmung und Enteignung des Lebens (der Natur, des Seyns) entziehen sollte – lässt sich vielleicht erst so gerecht werden: durch eine paradoxale regenerative ‚Ruinierung‘ der Vorlage in der Absicht, eine „ontology of creation and becoming“ aufzudecken und eine Ahnung neuer Möglichkeiten zu vermitteln.34 Bleibt aber bei einem solchen meta-theatralischen oder meta-ästhetischen Programm die zutiefst politische Tendenz von Hölderlins Trauerspiel-Projekt nicht auf der Strecke? Gar nicht, meint Daniel Sack, der einen Essay über Castellucci mit einer unmißverständlichen auf die Empedokles- Aufführung bezogenen politischen Pointe abschließt:

Judgment, Possibility, Being is the most verbal of the many pieces by Castellucci that I have seen over the last fifteen years, but it orbits precariously around an impossibility of speech. While parlaying in the anti-discourse of the sublimely unrepresentable, these performances do not present an apolitical wonder. As the armbands, flags, and guns of Judgment, Possibility, Being make clear, the rituals of the theatre also invoke legacies of political rhetoric of monstrous proportions. […] These performances – and the performances of Castellucci at large – tap into the inherently political roots of theatre’s games of representation. They show us the nature of theatrical power, how it might make one lose one’s voice or self to whatever dark mass gathers on our horizon, whatever predator waits to snatch us up.35

Sacks politische Deutung wirkt am Ende seines Essays etwas überraschend und sogar forciert. Aber die Verquickung von Rhetorik, Theatralität und Politik, die hier mit dem Motiv der entwendeten Stimme verknüpft wird, trifft die oben erläuterte Crux in Hölderlins „Empedokles“ – das Dilemma eines Sprechens- im-Namen-der-Anderen (des Volkes, der Gemeinschaft, der Frauen/Männer, der Künstler...), das zur Vereinnahmung der eigenen sowie/oder aber der anderen Stimme(n) führen kann – sehr genau. Aber was heißt es, die ‚eigene‘ Stimme zu bewahren bzw. zu finden? Bei näherer Betrachtung sind es eher diese Fragen, die Castelluccis Vorstellung aufruft und inszeniert; und die hinter dem Pathos der transgressiven Ästhetik eine Szene bedachtsamer, zögernder Reflexion auftun – jener „Lehrstunde“36, mit der der Artaud-Adept Castellucci die Vorstellung immerhin gleichgesetzt hat.

Die gymnasiale Turnhalle, die für Castellucci eine notwendige dramaturgische Voraussetzung seiner Inszenierung darstellt, dürfte der geeignete Ort für eine solche Reflexion sein. Sie ist ein ambivalenter Transitort, Exerzierplatz auch für die Jünglinge, deren nackte Körper dort spielend auf den Krieg, zunächst lediglich auf die Olympischen Spiele, vorbereitet wurden. Die Turnhalle repräsentiert in jeder Hinsicht die heterotopische Szene, auf der der Körper des Infans Symbolisierungs-, Disziplinierungs- und Institutionalisierungsprozessen unterworfen wird. Diese setzen dem Menschen-‚Kind‘ zweifellos der Gefahr der Entfremdung und der

34. Diese für Castelluccis Ästhetik typische paradoxe Logik der Schöpfung durch Ruinierung der Tradition wird sehr überzeugend erörtert in Timmy de laet & Edith cassieRs, „The Regenerative Ruination of Romeo Castellucci“, in: Performance Research. A Journal of Performing Arts, 2015, 20, 3, 18-28, 27.

35. Daniel sacK, “On Losing One’s Voice: Two Performances from Romeo Castelluccis e la volpe disse al corvo”, in TheatreForum, 2014, 37-46, 46.

36. Siehe Anm. 33

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Vereinnahmung aus, die Artaud und Castellucci (und Hölderlin) in Feindbildern und Destruktionsphantasien einer allzu ‚organisch‘ berechnenden (Hölderlin) oder dem Vorstellungsdenken verhafteten Kultur zu bekämpfen versucht haben; aber wie Jacques Derrida in dem kongenialen Aufsatz zu Artauds Alptraum, „Die soufflierte Rede“, mühsam zu erklären versucht hat: ohne diese Prozesse der „augenblicklichen und originären Entwendung“ „[fände] keine Rede ihren Atem“, das Ideal der reinen, eigenen Stimme ist ein metaphysisches Phantasma.37 Das Gymnasium ist auch Ort des Spiels, der Schule als Freizeit (scholè) und Experimentierraum für zukünftige Lebensentwürfe, Bildungsstätte der noch nicht ideologisch vereinnahmten Sprache und der zwecklosen Schönheit. Die noch-nicht-abgeschlossene Sozialisierung des Gymnasiasten, seine/ihre hybride und noch flexible Daseinsform, die zwischen Radikalität und Unentschlossenheit, Nachahmung und Originalitätsverlangen, Identitätssuche und Faszination für das Andere, Individualitätssucht und Sehnsucht nach Gemeinschaft schwankende Existenz: das alles sind Aspekte, die Castelluccis Inszenierung sehr ausdrücklich thematisiert. Man spürt, wie die jungen Frauen (oder Mädchen) zugleich nach einem ‚großartigen‘ und ‚anderem‘ Leben draußen verlangen, aber dieses Leben vorläufig in der muffigen Sicherheit des virtuellen schulischen Exerzierplatzes und des (manchmal rührenden, dann wieder skurrilen) Schultheaters mit kitschigen und unbeholfenen Attributen einüben. Nur so, in der konsequenten Betonung der Gestik und Semiotik einer an der Grenze des erwachsenen Lebens zögernden Adoleszenz, gelingt es ihm, das vielleicht zu schroffe Entweder/Oder von Urteil (Giudizia) und Sein (Essere) zu zersetzen und in der Aporie der Repräsentation, die Hölderlin schon mit einer post-rousseaustischen Stringenz in dem Empedokles-Projekt bis zum Abbruch durchdekliniert hat, die Spur des Möglichen (Possibilità) frei zu legen.

Gesichtsverlust: Ansätze zu einer posthumanistischen Dramaturgie

In der Empedokles-Inszenierung von Theater Zuidpool (Antwerpen 2014), der ich mich zum Schluss zuwenden möchte, werden auf den ersten Blick noch völlig andere Akzente gesetzt, zugleich werden bestimmte Tendenzen konsequent fortgeführt. Auch diese Inszenierung fängt mit einem dem Chaos des „Aorgischen“

gewissermaßen abgewonnenen visuell und auditiv beeindruckenden, allerdings auch betörenden Bilder- und Klangfluss an.38 Im Gegensatz zu Castelluccis Aufführung hört dieser visuelle und auditive Fluss jedoch nicht auf, er wird nur manchmal latenter, dann wieder sehr manifest und aufdringlich, das Publikum wird fast immersiv in diesen Bild- und soundscape versenkt. Sowohl die – live ausgeführte – Musik- oder Klangpartitur als auch eine erstaunliche Videoaufnahme fügen dem von vier Schauspielerinnen (und einem Musiker/Sänger) hinter dem durchsichtigen schleierartigen Leinwand fast als Hör- und Musikspiel gebrachten Text eigene Bedeutungsschichten hinzu, manchmal ergänzende, manchmal entgegengesetzte, unterminierende, störende. Die Stimmen werden hin und wieder deformiert, sie

37. Jacques deRRida, „Die soufflierte Rede“, in: Jacques deRRida, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a/M, Suhrkamp Verlag, 1976, 271.

38. Wesentlich für diese Produktion war der Beitrag der Videokünstler Frederik Jassogne und Bart Moens. Siehe ihre Internetseite zu „Empedokles“, wo auch Videofragmente zu sehen sind:

http://hangaar.net/portfolio/empedokles/ (abgerufen am 13. Juni 2018)

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