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Die direkte Anwendbarkeit volkerrechtlicher Normen 10B

Die Wirksamkeit des internationalen Rechts in der innerstaatlichen Rechts-ordnung bangt nebst der Vorrangfrage auch wesentlich davon ab, ob sich Ein-zelne var dem nationalen Richter direkt auf staatsvertragliche Normen beru-fen konnen. Dies ist gemass stiindiger Rechtsprechung des Bundesgerichts dann der Fall,

«wenn die Bestimmung inhaltlich hinreichend beslimmt und klar isl, um im Einzelfall Grundlage eines Entscheides zu bilden; die Norm muss mitmn justiziabel sein, die Rechte und PfIichten des Einzelnen zurn Inhalt haben, und Adressat der Norm müssen die rechts-anwendenden Behërden sein,,!!)}.

Bei der direkten Anwendbarkeit gehl es samit um die Frage, unter wel-chen Bedingungen die rechtsanwendenden Beharden befugt sind, eine staats-vertrag1iche Norm anzuwenden, ohne dass diese vorheriger Konkretisierung durch den Gesetzgeber bedarf. Oas Bundesgericht stellte hierbei lange

aus-lM EuGH. Internationale Handelsgesellschaft, Urteil vom 17. Dezember 1979, Rs.11nO, Sig. 1970,1125,1135, Rz. 19.

107 S. hierzu die Rechtsprechung des italienischen Verfassungsgerichts Frontini, Foro ita-liano 1974 1 314, auf franzôsisch in der RIDE 1974, 154 ft., Granitai, Giurisprudenza costituzionale 1984 l, 1098, auf franzosisch in der RIDE 1985, 414-419, Fragd, Giuris-prudenza costituzionale 1989 I, 100l.

lOS Die nachfolgenden ÜberJegungen und Ergebnisse zur direkten Anwendbarkeit beruhen auf Ergebnissen des Nationalfondsprojektes O(Der Staatsvertrag im schweizerischen Verfassungsrecht» (NFP 42, ThOMAS COTllER Hrsg., erscheint 2000). Deren vertiefte Darstellung ist ebenfalls Bestandteil der im Rahmen des Projektes in Ausarbeitung ste-henden Berner Dissertation von DANIEL WOGER, «Die direkte Anwendbarkeit staats~

vertraglicher N ormen,..

109 BGE 124 III 90, 91 (S.L.X.).

26 TH. CoTIlER/M. HERTIG: Das Vôlkerrecht in der neuen BV: Stellung und Auswirkungen

schliesslich auf die Bestimmtheit und die Klarheit einer staatsvertraglichen Bestimmung ab. Diese auf den ersten Blick einleuchtende Umschreibung ver-mag indessen den eigentlichen Gehalt der Praxis nicht hinreichend wiederzu-geben. Wie es neuere Untersuche aufzeigen"O, hat sich das Bundesgericht in vielen Entscheiden nur vordergründig durch den Bestimmtheilsgrad einer staatsvertraglichen Norm leiten lassen. So wenden Gerichte einerseits offene Normen wie z.B. die Grundrechte der EMRK ohne weiteres direkt an. Ande-rerseils hat aber das Bundesgericht den im Freihandelsabkommen zwischen der Schweiz und der EG und im GATT verankerten wiI;tschafttichen Grund-freiheiten und anderen, sem prazis formulierten Bestimmungen die direkte Anwendbarkeit versagtl11 • Letzteres iIIustriert z.B. der Entscheid Courtel des Eidgenossischen Versicherungsgerichts, in dem eine Bestimmung des ILO-Übereinkommens Nr. 128, die klar eine Leistungskürzung im Bereich der In-validenrente nur im FaIl vorsâtzlichen Handelns des Versicherten zuliess, aIs nicht justiziabel erkl.rte. Wie OLfVIER JACOT-GUILLARMOD kritisch bemerkt hat, erscheint die Frage der direkten Anwendbarkeit ais «stérile question préalable qui surgit comme par enchantement lorsque le problème est sinon juridiquement, du moins politiquement ou financièrement délicab)1l2. Unter dieser Inkohlirenz leidet letztendtich die Transparenz und Legitimation der Rechtsprechung zur Frage der direklen Anwendbarkeit slaalsvertraglicher Nonnen. Um Praxis und Theorie besser in Einklang lU bringen ist es notig, die Kriterien der direkten Anwendbarkeit neu zu überdenken.

Die neue Bundesvedassung beUisst hier den nôtigen Spîelraum, da sie die-se Frage zu recht nicht regelt und implizit den Gerichten und der Lehre

über-tr~gt. Das Problem stellt sich auf zwei Ebenen. Es betrifft vorerst die Kriteri-en der unmittelbarKriteri-en AnwKriteri-endung selbst. Das im eingangs zitiertKriteri-en Entscheid aufgeführte Kriterium der Justiziabilit~t kann hier weiterführen. Es stellt sich indessen nicht nur in bezug auf die inhaltliche Struktur einer Norm, sondern auch um deren Einstufung im Normengefüge. Hierzu kann am materiel1en Gesetzesbegriff angeknüpft werden.

110 OLIVER JACOT-GUILLARMOD, L'applicabilité directe des traités internationaux en Suisse:

histoire d'un détour inutile, SJIR 1989. 129-151; derse/he (Anm. 56), 128-140; PATRICK EDGAR HOLZER, Die Ennittlung der innerstaatlichen Anwendbarkeit volkerrechtlicher Vertragsbestimmungen, Diss. Bem, Zürich 1998; WOGER (Anm. 108).

III Eingehend dazu JACQT-GIJIU.ARMOO (Anm. 56). 221-242; ThOMAS COlTfER, Oas Problem der Parallelimporte im Freihandelsabkommen Schweiz-EG und im Rechl der WTO-GAIT, Schweizer Mitteilungen zum ImmaterialgUterrecht (SMl) 1995, 37-61. Aktuelles Beispiel für die wohlwollende Praxis des Bundesgerichts gegeniiber der EMRK îst der Entscheid Kurdisches Propagandamaterial (publiziert in EuGRZ 1999, 475 ff.), wo das Bundesgericht seine ZusUindigkeit zur Beurteilung einer Beschwerde gegen einen bun-desditlichen Entscheid direkt auf Art. 6 Abs. 1 EMRK stUtzte.

112 JACOT-GUILLARMOD (Anm. 110), 138.

TH. ComERIM. HUTIG: Das Vôlkerrecht in der neucn av: Stellung und Auswirkungen 27

a) Normstruktur und Organeignung: die Justiziabilitat

Ausgangspunkt neuerer Überlegungen zum Thema der direkten Anwendung, die hier nur knapp zusammengefasst werden k6nnenl13, bildet angesichts der zunehmenden Bedeutung des Volkerrechts der Gedanke, Staatsvertrage in ihrer innerstaatlichen Behandlung und Anwendung soweit wie moglich den innerstaatlichen Normen anzugleichen. Die Frage der unmittelbaren Anwen-dung stellt sich nicht nur in bezug auf volkerrechtliche Vertrage. Wenn auch weit seltener, steUt sie sÎch mitunter auch bei Normen des innerstaatlichen Rechts, so beispielsweise den sozialstaatlichen Zielbestimmungen der Verfas-sung. In beiden Bereichen geht es letztlich um die Frage, inwieweit die Ge-richle und BehOrden nach Massgabe ihrer Struktur, ihrer Aufgaben und ihrer Stellung im Gefüge der Gewalten geeignet sind, die betreffende Norm auszu-legen, anzuwenden und mit den ihnen zur Verfilgung stehenden Milleln zu realisieren. Hinter dem Kriterium der Justiziabilitat steht mit andern Worten das Kriterium der Eigllung des Organs zur Rechlsgestaltung in einem be-stimmten Bereich. Diese bangt nicht von einem engen Verstandnis der Sub-sumtion (Syllogismus) ab"'. Sie kann sowohl bei offen formulierten wie auch spezifischen Vorschriften vorhanden sein bzw. fehlen. So erklart sich ohne weiteres, dass sich die Gcrichte in ihrem Kernbereich des Grundrechtsschut-zes unabhangig der Dichte der Normen bewegen, wahrend sie umgekehrt -auch im Ausland - namentlich in Fragen des Aussenwirtschaftsrechts und da-mit auch grundlegenden Fragen der Wettbewerbsordnung gegenüber den po-litischen Behorden bislang zu grosse Zurilckhaltung geübt haben 1\5. Seiden Bercichen lag seitens des Bundesgcrichts cine unterschiedIichc Einschatzung der eigenen Aufgabe und Rolle zugrunde.

Dieser Ansatz erlaubt im Gegensatz zur heutigen Praxis des Bundesge-richts, wonach eine staatsvertragliche Norm pauschal-auch für künftige An-wendungsfalle - aIs nicht direkt anwendbar erklart wird, die Frage der direk-ten Anwendbarkeit verfassungsrechtlich Oexibel von Fan zu Fan zu entschei-den. So wird dem Umstand Rechnung getragen, dass eine Norm - unabhangig davon, ob sie aus vôlkerrechtlicher oder innerstaatlicher Quelle stammt -durchaus justiziable und nicht justiziable Teilgehalte aufweisen kann. Die Praxis des Bundesgerichts hinsichtlich Art. 4 Abs. 2 aSV illustriert dies deut-lich: So hat das Eidgenossische Versicherungsgericht zum Beispiel aIs Konse-queoz der Verfassungswidrigkeit einer kantonalen Regelung, welche Witwer-renten strengeren Bedingungen unterstellt ais Witwenrenten. cinem Be-schwerdeführer eine Rente zugesprochen. ahne die nur für Manner geltenden

Il) S. Anm. 108.

114 So aber KOLLER (Anm. 37), 72.

115 Eingehend zurn Therna ConlERINADAKAvUKAREN SCHEFER (Anm. 45), 83, 91-119.

28 Th. CornERIM. HERTIG: Das Volkerrecht ln der neuen BV: Stellung und Auswirkungen

Voraussetzungen anzuwenden1l6. In Fallen. welche mit grossen finanziellen Implikationen verbunden sind und dem Gesetzgeber einen grossen Gestal·

tungsspielraum überlassen - wie z.B. im Bereich des Steuerrechtsl17 und Re-gelungen beztlglich des Pensionsalters118 - hat sich das Bundesgericht aber damit begnügt, einen AppeUentscheid zu faUen und den Gesetzgeber damit beauftragt, die Ungleichbehandlung zwischen den Geschlechtern zu besei·

tigen.

b) Die Normstufe: Auswirkungen des Gesetzesbegriffes

Auf innerstaatlicher Ebene bestimmt Art. 164 BV, aUe wichtigen rechtsset·

zend en Bestimmungen seien in der Form des Bundesgesetzes zu erlassen. Mit dieser Bestimmung hat der in der Lehre und Praxis entwickelte materiale Ge·

setzesbegriff Eingang in die neue Bundesverfassung gefunden. Es geht dar·

um, den einzelnen Organen Regelungsaufgaben sachgerecht zuzuweisen, was Ober die Wahl der entsprechenden Normstufe geschiehtll9. AuC das Anliegen eines angemessenen Verhaltnisses von Regelungsgegenstanden und Erlass-formen kann unseres Erachtens angesichts der stetig zunehmenden Bedeu-tung des Vôlkerrechts auch bezüglich staatsvertraglicher Regelungen nicht verzichtet werden. Auch hier muss die Relation von Wichtigkeit und entspre·

chender Erlasslorm so weit wie môglich verwirklicht werden. So ist es ange·

zeigt, dass jene Regelungsgegenstande, die innerstaatlich aul dem Wege des referendumspflichtigen Erlasses geregelt werden müssen, 8uch bei volker-rechllicher Regelung in einem dem Referendum unterliegenden Vertrag zu verankern sind. Wo sich dieses Ziel in den Vertragsverhandlungen nicht errei-chen l'sst (da die Form des Abkommens nicht einseitig bestimmt werden kann), fehlen unseres Erachtens die Voraussetzungen eÎner unmittelbaren Anwendung. Der Vertrag muss in solchen Fallen - aber eben nur in solchen Flillen - fUr Wirkungen gegenüber dem Bürger vorerst innerstaatlich auf der Ebene des referendumspflichtigen Erlasses umgesetz! werden. Damit wird zweierlei erreicht. Erstens wird verhindert. dass sich wichtige Gegenstande ohne Schwierigkeiten zunehmend auf die Ebene der Regierungsabkommen (und damit das Pendant der Verordnung) verlagern und so dem demokrati·

schen Meinungsbildungsprozess entziehen. Zweitens erfahren die Rechte der Bürger einen wirksamen Schutz. Aus cliesem Grund sollte das Bundesgericht executive agreements mit eigentlichen Gesetzesinhalten, welche

delegations-116 BGE delegations-116 V 198,212 ft (K. gegen KantonSt. Galien).

117 BGE 110 la 7 (Hegetschweiler).

ltH BGE 117 V 318 (Staatliche Pensionskasse des Kantons Solothurn).

t19 S. THOMAS COTIlER, Oie Verfassung und das Edordernis der gesetzlichen Grundlage, 2. Erganzte Ausgabe, Zürich 1991,144 ff.

TH. C01Tll:RIM. HERTIG: Das Vôlkerrecht in der neue" SV: Stellung und Auswirkungen 29

reehtlieh nieht abgedeckt sind, die direkte Anwendung versagen, um so den Gesetzgeber zur stufengerechten Umsetzung zu veraolassen120.

Diese Überlegungen haben im neuen verrassungsreeht noeh keinen Nie-dersehlag gefunden und steUen sieh für die zukUnftigen Entwicklungen bei der reehtliehen Bewaltigung der Globalisierung. lndem die neue Bundesver-fassung im Gegensatz zur alten BV nicht nur die vom Parlament genehmigten Slaatsverirage, sondern das gesamte Vôlkerrecht rur massgebend erklart, er-schwert sie einerseits diese Rechtsentwicklung121 . Andererseits wurde im Rahmen der Verfassungsrevision den Anforderungen des Legalitiilsprinzips Reehnung getragen, indem darauf verziehtet wurde, die bestehende Praxis der Kompetenz des Bundesrates zur eigenstiindigen Genehmigung vôlker-reehtlicher Vertragel22 zu kodifizierenl23 So sieht Art. 166 Abs. 2 BV das ver-einfachte Verfahren zum Abschluss von Staalsvertragen für FaUe vor, in de-oen sich eioe Ausnahme vom Prinzip der parlarnentarischen Genehmigung aus einem Gesetz oder eiDem vôlkerrechtlichen Vertrag selbst ergibt. Schon wahrend der Verfassungsdiskussion wurde vorgeschlagen, dass im Geschafts-verkehrsgesetz sachgerechte Delegationskriterien festgelegt werden soU-tenl24.

Die unmittelbare Anwendung von Staatsvertragen ist eine Stiirke des schweizerischen Verfassungsrechts. Sie bildet ein wesentliches Element im System von checks and balances, gerade auch rus Gegengewicht zu einer intro-vertierten politischen Tradition 12S Die vorliegenden Überlegungen woUen

120 Das Sundesgericht hat erst in seiner jüngsten Rechtsprechung zu dieser Frage Stellung nehmen müssen. Es hat sich unter Berufung auf Art. 46 Abs. 2 VRK geweigert, einem Staatsvertrag wegen kompetenzwidrigem Abschluss die direkte Anwendung zu versa-gen, s. BGE 120 lb 360, 366 (Y.), bestatigt in BGE 124 fI 293, 307 f. (Politische Gemeinde Glattfelden).

121 S. supra, 23.

122 Zu den Vertragskategorien, welche keiner Genehmigung durch das Parlamenl bedUrfen, s. anstatt vieler DLETIUCH ScHINOLER, Kommentar Art. 85 Ziff. 5 SV, Rz. 40 ft.

123 Art. t58 Abs. 2 VE 1995 verankerte das vereinfachte Verfahren auf Verfassungsebene, indem dem Bundesrat die Befugnis eingeraumt wird, insbesondere provisorische und dringliche Vertrage sowie Vert rage von geringer Tragweite selbstandig abzuschliessen.

Zudem kann die eigenstlindige Kompetenz des Bundesrates zur Genehmigung vôlker-rechtlicher Vertrage auch auf einem Gesetz oder einem vôlkerrechtlichen Vertrag beru-hen. Diese Bestimmung stiess in der Vernehmlassung auf Kritik, weshalb der Bundesrat die Bestimmung inhaltlich straffte. Gemass Art. 156 Abs. 2 VE 1996 sollte dem Bundes-rat cine eigenstandige Vertragsschlusskompetenz zukommen, wcnn es die Verfassung, cin Geselz oder ein vôlkerrechtlicher Vertrag vorsieht. Hierzu ausführlicher VALENTIN ZELLWEGER/CHJUsrOPH ScHNEEBERGER, Auswirkungen des LegaliHitsprinzips auf die Aushandlung und den Abschluss von StaatsvertragcD, 91 ff., ausgearbeitet im Rahmen des NFP 42 (s. Anm. 108), erscheint demnachst.

124 S. den Vorschlag der Expertengruppe Kompetenzverleilung. BB11996 Il 475.

125 Vg!. dazu für die Schweiz COTTIERlNADAKAVUKAREN SCHEFER (Anm. 45),108-]12.

30 Th. CorrrERIM. HEJtTIG: Das Vôlkerrecht in der neuen BV: Stellung und Auswirkungen

dazu beitragen, diese Tradition zu starken, indem die Kritenen der unmittel-baren Anwendung besser und klarer mit den Prarogativen der Gesamtverfas-sung abgestimmt werden kônnen. Es geht hier letztlich zentral auch um die Frage der richtigen Stellung und Aufgabe der Gerichte in einer WeU, die zu-nehmend von regionalem und globalem Recht gepragt ist. lhre Beantwor-tung, und die Verantwortung dazu, hangt auch unter der neuen Verfassung wesentlich bei den Gerichten selbst.

li.

Ausblick: Auswirkung des Viilkerrechts

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