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Das Völkerrecht in der neuen Bundesverfassung : Stellung und Auswirkungen

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Das Völkerrecht in der neuen Bundesverfassung : Stellung und Auswirkungen

COTTIER, Thomas, HERTIG RANDALL, Maya

COTTIER, Thomas, HERTIG RANDALL, Maya. Das Völkerrecht in der neuen

Bundesverfassung : Stellung und Auswirkungen. In: Zimmerli, Ulrich (Hrsg.). Die neue

Bundesverfassung : Konsequenzen für Praxis und Wissenschaft . Bern : Stämpfli, 2000.

p. 1-34

Available at:

http://archive-ouverte.unige.ch/unige:13075

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1 / 1

(2)

THOMAS COTTIER und MAYA HERTlG'

Das VOIkerrecht in der neuen Bundesverfassung:

Stellung und Auswirkungen

lnItaItsibersicht

1. Die Nachfiihnmg im 8creich der AussenbeziehungeD A. Praambel und Zielbestimmungen

B. Die normativen Vcrfassungsbestimmungen

n.

Vas Verhii.ltnis l'on Volkenecbt und Ludesrecbt A. Grundlagen

1. Die vôlkerrechtliche Perspektive 2. Die verfassungsrechtliche Perspektive B. Die Rechtslage unler der neuen Bundesverfassung

1. Der Vorrang des Vôlkerrechts

a) Vôlkerrecht und referendumspflichtiges Bundesrecht b) Vôlkerrecht und Bundesverfassung

aa) V olkerrecht ais Schranke der Verfassungsrevision bb) Verfassungsrecht ais Schranke des Staatsvertragsrechts 2. Die direkte Anwendbarkeit vôlkerrechtlicher Normen

a) Nonnstruktur und Organeignung: die Justiziabilitat h) Die Normslufe: Auswirkungen des Gesetzesbegriffes

III. Ausblkk: Auswirlnmgen dH VOIkerrechts

.ur

die Verf8SSUJI~tUI' der Sc:b.weiz IV. ZusammenfsssuPK

Bund und Kantone beachten das Va/kerrecht.

Art. 5 Abs. 4 BV

1. Die Nachfiihrung im Bereich der Aussenbeziehungen A. Priiambel und Zielbestimmunllen

«[I]m Bestreben, den Bund ru erneuern, um Freiheit und Demokratie, Unab·

hilngigkeit und Frieden in Solidaritat und Offenheit gegenüber der Weil zu sUirken» - Mit diesen Worten bringt die Prliambel der neuen Bundesverfas-

ThOMAS CornER, Professor, Dr. iur., LL.M, Ordinarius filr Europa- und WirtschaCtsvôl- kerrecht und Direktor des gleichnamigen Instituts an der Universilat Sem; MAYA HER-

TIG, lic. iur .• Wissenschaftliche Mitarbeiterin am [nstitut fur Europa-und Wirtschaftsvôl- kerrecht der Universitât Bern. Für kritische Durchsicht und wesentliche Vorarbeiten im Rahmen der Nationalfondsstudie ",:Der Staatsvertrag im schweizerischen Verfassungs- rechb> (s. Anm. 108) danken wir unserem Kollegen lie. iur. Daniel Wüger, Wissenschaft- licher Mitarbeiter am Institut fOr Europa- und Wirtschaftsvôlkerrecht.

(3)

2 Th. CurnER/M. Huno: Das Vôllcerrecht in der neuen av; Stellung und Auswirlcungen

sung ein gewandeltcs Verstandnis gegenüber der Aussenwelt zum Ausdruck.

Besonders deutlich macht dies ein Vergleich mit der Verfassung von 1874, welche aIs einziges aussenpolitisches Ziel des Bundes in Art. 2 «die Behaup- tung der Unabhangigkeit des Vaterlandes gegen aussen» [noch deutlicher auf franzosisch: «contre l'étranger»] nannte. Die wesentliche Legitimation des jungen Bundesstaates bestand denn auch darin, das Überleben des jungen Staates in einern europaischen Umfeld zu sichern, das von rivalisierenden Ko- IOIÙalmachten unterschiedlichster Kllltur und zumeist autoriUirer, monarchi- scher Strukturen gepragt war1• Das Verhaltnis zu anderep Staaten wurde folg- lich vor allem negativ - aIs Bedrohung der jungen nationalen Existenz - wahr- genommen2. Auf einer Perzeption der Aussenpolitik aIs permanentem Aus- nahmezustand3 - aIs bellum omnium contra omnes -gründete «die fast mythi- sche Vorstellung von der Unnormierbarkeit der Aussenpolitik»'. Sie rechtfer- tigte eine nahezu unbescbrankte Vollmacht der Regierungen in den intema- tionalen Beziehungen, die allein durch die damaligen vôlkerrechtlichen Re- geln der Koexistenz eingebunden und diszipliniert wurde. Rechtsstaatlichkeit und die Herrschaft des Rechts (<<rule of law») fanden nur auf innerstaatlicher Ebene Anwendung und bildeten das Wescn des Konstitutionalismus5. Die klare Trennung zwischen Rechtsstaat und ungebundener willkürlicher Aus- senpolitik widerspiegelte den Zeitgeist des 19. Iahrhunderts. Diese national-

,

,

VgI. JEAN-FItANÇOIS AUBERT, Kommentar BV, ArL 2, Rz. 13, der die Behauptung der Unabhangigkeit des Vaterlandes ais den {(vordringlichsten Zweck des Staate5), bezeich- net; ahnlich auch KURT HAURI, Die Verfassungsm1issigkeit der Staatsvertrage. Über die inhaltliche Bindung der vertragschliessenden Gewalt an die Verfassung, Diss. Bern, 1962, 10. Eine abnliche Motivation lag der Grondung anderer Bundesstaaten zugrunde.

S. z.B. bezüglich der USA ALEXANDER HAMILTON/JAMES MADISON/JOHN JA'I, The Federal- ist Papers, New York/ScarboroughJLondon 1969,45 ff. (Paper Nf. 4, Jay).

GIORGIO MALINVERNI, L'indépendance de la Suisse dans un monde interdépendant, ZSR 1998 II, 7; in diesem Sinn auch DANIEL ThÜRU, Aussenpolitische Aspekte der künftigen Beziehungen ZUI Europaischen Gemeinschaft, in: Alais RiklinlHans HauglRaymond Probst (Hrsg.), Neues Handbuch der schweizerischen Aussenpolitik, Bem/Stuttgart!

Wien 1992, 533; nicht nur in Art. 2, sondem auch in anderen Bestimmungen der alten Bundesverfassung (fortan aBV) widerspiegelt sicb das Verstandnis der Aussenpolitik ais potentielle Bedrohung der nationalen Existenz. indem vor allem von «Krieg» und {(Frie- den)) die Rede ist (5. Art. 8 aBV, Art. 85 Zif(. 5 und 6 aBV; Art. 102 ZifC. 8 und 9 aBV).

WALTER KALIN, Verfassungsgrundsatze der schweizerischen Aussenpolitik, ZSR 1986 II, 269 ft.; CHRISTIAN TOMUSCHAT, Der Verfassungsstaat im Geflecht der internationalen Beziehungen. VVDStRL Nr. 36, BerlinlNew York 1977, 14.

BERNHARD EHRENZELLER, Legislative GewaJl und Aussenpolitilc, Basel/Frankfurt a.M., 1993,299. Die These der Unnonnierbarkeit der Aussenpolitilc wurde schon von John Loclce vertreten (s. Two Treatises of Civil Government. 1690, Buch 11,147).

S. THOMAS COTTIERIDANIEL WÜGER, Auswirlcungen der Globalisierung auf das Verfas- sungsrecht: Eine Di5kussionsgrundlage, in: Beat Sitter-Liver (Hrsg.), Herausgeforderte Verfassung, Die Schweiz im globalen Kontext, Freiburg 1999, 242.

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Th. CamEItlM, HEKnG: Das Vôlkerrecht in der neuen BV: Stellung und Auswirkungen 3

staatliehe Introvertiertheit6 des Verfassungsreehts wurde im 20. Jahrhuodert stark relativiert. Mit dem Wandel des V ôlkerreehts von einem Recht der Ko- existenz zu einem Recht der Kooperation und heute der positiven Integration und der damit verbundenen fnterdependeoz der nationalen und internationa- len Ordnung erfolgte naeh dem zweiten Weltkrieg eine rechtliehe Offnung der Verfassungsstaaten7

Dies trifft auch für die Schweiz zu. Der Beitritt zurn Vôlkerbund nach dem eesten Weltkrieg sowie die relative Isolation des Landes nach dem Zweiten Weltkrieg und die damit verbundene Kritik führen zu einer aUmahliehen Off- nung der schweizerischen Aussenpolitik und zorn multilateralen Engagement des Landes:8 Das defensive NeutralitatsversHindnis wird durch eine aktive Komponente - die internationale Solidaritat - erganzt9, welche die Schweiz veranlasst, mit ihrem Beitritt zur OEEC (heutige OECD) aktiv am Wieder- aufhau Europas mitzuarbeiten. Wei ter beteiligt sie sich in der Foige an den multilateralen Institutionen von Bretton Woods (IWF, Weltbank, GATT und heute der WTO) und wirkt - obwohl bis heute nicht UNO-Mitglied - in zahl- reichen Spezialorganisationen der Vereinten Nationen mit. Auch auf europai- scher Ebene hat die multilaterale Zusammenarbeit eine immer bedeutendere

RoUe gespielt. Die wichtigsten Etappen bilden hier die Gründung und der Beitritt zur EFfA (1%0), zurn Europarat (1 %3), die Ratifikation der EMRK (1974) und des Freihandelsabkommens mit der EG (1972) sowie die Teilnah-

7

,

TOMUSCHAT (Anm. 3), 9. Zur «lntrovertiertheit» der schweizerischen Bundesverfassung von 1848 s. GIOVANNI BlAGGINI, Die Offnung des Vetfassungsstaates aIs Herausforde- rung fUr Verfassungsrecht und Verfassungslehre, in: Der Verfassungsstaat vor neuen Herausforderungen: Festschrift fUr Yvo Hangartner, St. Gallen 1998,957-979; 'nIOMAS COnlER.. Constitutional Trade Regulation in National and International Law: Structure- Substance Pamngs in Lhe EFfA Experience. in: Meinrad HilflErnst-Ulrich Petersmann (Hrsg.), National Constitutions and International Economie Law, Deventer 1993, 409- 492; HAURI (Anm.1), 4-5; DIETRICH SCHINDLER, Der Weg vom t<geschlossenenJto zurn

«offenen» Verfassungsstaat, ebenda, 1027-1041; GERHARD SCHMlD, Verfassllngsgebllng in einer wsammenwachsenden Welt, ebenda, 1042-1054, insbes. 1046 f.; DANlfl ThO- RER, Bundesverfassung und Vôlkerrecht, in: Kommentar BV, Rz. 2, auch abgedruckt in:

DANJEL ThOUR, Perspektive Schweiz. Übergreifendes Verfassungsdenken ais Heraus- forderung, ZUrich 1998, 59-91.

BlAGGINI (Anm. 5), 957; ThOMAS COTIIER, Globalisierung des Rechts -Herausforderun- gen ftir Praxis, Ausbildung und Forschung, ZBJV 1997, 224; SClUNDLER (Anm. 6),1027.

S. z.B. URS ALTERMATT, Vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis zur Gegenwart (1945- 1991), in: Alais Riklin/Hans Haug/Raymond Probst (Hrsg.), Neues Handbuch der schweizerischen Aussenpolitik. BernlStuttgart/Wien 1992, 61 ft.

ALTERMAlT (Anm. 8), 63; WALTER KAuN/ALOJS RIKLlN, Ziele. Mîttel und Strategien der schweizerischen Aussenpolitik, in: Alois RiklinlHans HaugIRaymond Probst (Hrsg.), Neues Handbuch der schweizerischen Aussenpolitik, BernlStuttgart/Wien 1992, 175 f.

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4 TH. COTTIER/M. HERnG: Das Vôlkerrecht in der neuen BV: Stellung und Auswirkungen

me am KSZElOSZE Friedensprozess seit 1975'0 Bezieht sich diese Offnung vorab auf den zivilen und wirtschaftlichen BereÎch) 50 hat sich in den letzten Jahren infolge der neuen, aul das Ende des Kalten Krieges zurückgehenden InstabilitiH in Europa und teilweise gescheiterten wirtschaltlichen Integrati- onsbemül1ungen (Ablehnung des EWR-Vertrages, 1992) die Abkehr von ei- ner extensiv versfandenen NeutraliUitspolitik hin und zurück zu den Wurzein des Neutratitatsrechts abgezeichnet. Letzteres tragt auch in der Sicherheitspo- litik der Notwendigkeit der internationalen Kooperation in einer interdepen- denten Welt vermehrt Rechnungl l Die mit der NATO eingegangene Part- nership lor Peace bildet eine erste und wichtige Etappe in diesem Prozess.

Ali dies wurde im Rahmen der offenen Verlassung von 1874 geleistet. Es war Zeit, den erfolgten Wandel auch verlassungsrechtlich zum Ausdruck zu bringen, Die eingangs zitierte Praambel hat diese still erlolgte Entwicklung nachgezeichnet. Einen fundamentalen Kurswechsel der schweizerischen Aus- senpoHtik markiert sie iodes - entgegen manchen polemischen Stimmen im Abstimmungskampl - eben nicht. Diesen Schluss legt auch der neue Zweck- artikel (Art. 2 BV) nabe, dessen Formulierung deutlich das Kontinuitatsstre- ben der neuen Bundesverlassung widerspiegelt. So nennt er nehst den ande- ren klassischen Staatszwecken (Sicherheit, Freiheit, Wohlfabrt) im Bereich der Aussenpolitik immer noch die Wahrung der Unabhangigkeit des Landes aIs eestes Ziel, wobei die eingangs erwahnte defensive Referenz contre l'étranger entfallen ist. Zu erganzen ist, dass Art. 2 BV - wie schon die alte Bundesverlassung - die Neutralitat nicht aIs Ziel anfUhrt'2 Diese ist weiter- hin ais Mittel wr Sicherung der Unabhangigkeit und nicht ais eigenstandiger Staatszweck zu verstehen". Auch die in der Praambel bereits erwahnte Soli- daritatsmaxime hat ihren Platz unter den Staatszwecken gefunden. Art. 2 Abs. 4 BV postuliert namlich den Einsatz der Schweiz .fur die dauerhafte Er- haUung der natürlichen Lebensgrundlagen und fur eine lriedliche und ge- rechte internationale Ordnung». Diese Zie]setzungen werden im Kapitel be-

10

s.

KLAUS J. ... COB1, S<:hweizerische Europapolitik, in: Alois RiklinlHans HauglRaymond Probst (Hrsg.), Neues Handbuch der schweizerischeo Aussenpolitik, Sem/Stuttgart!

Wien 1992.409 ff.

Il S. die Antwort des Bundesrates auf das Postulat 86.344 Verhaltnis Schweiz-EG. BBI 19871679, in der der Bundesrat erklart, dass «die Neutralitlilspolitik ais Mittel ZUT Ver- wirklidtung aussenpolitischer Ziele, entsprechend den Bedürfnissen und HerausCorde- rungen einer Welt im Umbruch analysiert und fJexibel angepasst werden muss».

12 Die schweizerische Neutralitatspolitik ist in Art. 173 Abs. 1 lit. a und Art. 185 Abs. 1 BV verankert, welche Art. 85 Ziff. 6 und Art. 102 Ziff. 9 aBV entsprechen.

lJ ZUT alten Bundesverfassung s. JEAN-FRANÇOIS AUBERT, Kommenlar BV, Art. 2, Rz. 14;

KALiNfRlKLlN (Arun. 9), 174 C.; ZUT neuen Bundesverfassung GIOVANNI BIAGGINI, Das Verbaltnis der Schweiz zur internationalen Gemeinschaft. Neuerungen im Rahmen der Verfassungsrefonn, AJP 1999, 724.

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TH. COTTIER/M. HERTIG; Das Vôlkerrecht in der neuen BV; Stellun~ und Auswirkungen 5

züglich der Zustandigkeilen im Bereich der Aussenpolitik noch einmal aufge- nommen, konkretisiert und erganzt, indem Art. 54 BV den Bund anhalt, bei der Ausübung der auswartigen Angeiegenheiten einen Beitrag zu leisten «ZUT

Linderung von NOl und Armut in der Welt, zur Achtung der Menschenrechte und ZUT Fôrderung der Demokratie, zu einem friedlichen Zusammenleben der Vôlker sowie zur Erhaltung der nalÜrlichen Lebensgrundlagen».

Neue über den acquis constitutionnel hlnausgehende Signale hat die Bun- desverfassung nicht gesetzt. Das Verhaltnis zu Europa und dem eigenen Kon- tinent wurde trotz weilgehenden Abhangigkeiten14 verfassungsrechtlich selbst im Rahmen der Praambel totgeschwiegen15• Die Revision hat es hier verpasst, einen Beitrag zu leisten und Zusammenhange sichtbar zu machen16 •

Dieses Tabu dürfte dereinst ais Anachronismus - auch aIs Kniefall vor eiDer nach wie vor stark rückwartsgewandten Gesinnung in grossen Teilen der Be- vôlkerung - in die Geschichte eingehen. Umgekehrt muss zugestanden wer- den, dass ein Europa-Artikel im Abstimmungskampf schamlos und populi- stisch ausgenutzt worden ware und die Vorlage gefahrdet hatte.

B. Die nonnativen Verfassungsbestimmungen

Das Verhaltnis der Verfassung zu den Aussenbeziehungen und damit auch zum Vôlkerrecht kommt Ireilich nicht nur in der Praambel und den allgemei- nen Zielbestimmungen. sondern vor allem auch in verschiedenen zwingenden Bestimmungen des Verfassungsrechts zum Ausdruck.

14 80 Prozent der schweizerischen Importe stammen aus der EU, wahrend 64 Prozent der schweizerischen Produkte in den EU-Raum exportiert werden. Siehe Tabelle 3 im Bericht zur Aussenwirtschaftspolitik 98/1+2, BB1199911 1210. ZUT wirtschaftlichen Ver- flechtung der Schweiz mit dem Ausland im allgemeinen s. SILVJO BORNEItIRoLF WEDER, Die wirtschaftliche Verflechtung der Schweiz, in: Alois RiklinlHans Haug. Neues Hand- buch der schweizerischen Aussenpolitik, BernJStuttgart/Wien 1992,905-918.

U Vgt. die Botschaft des Bundesrates zur nellen Bundesverfassung vom 20. November 1996, BB11997 r 135. welche die neue Verfassung ais «europaneutral» bezeichnet. Kri- tisch zu diesem Ansatz 3uch AsTRID EPINEY, Die Schweiz und Europa: Eioige Gedanken zur Einbettung einer nationalen Verfassuog in den europaischen Kontext, in: Beat Sit- ter-Liver (Hrsg.), Herausgeforderte Verfassung, Die Schweiz im globalen Kontext. Frei- burg 1999, 439; ERNST-ULRICH PETERSMANN/ANDREAS R. ZIEGLER, Verfassungsgebung in der Europaischen Union: Lehren für die Nachführung der schweizenschen Bundesver- fassung, in: Beat Sitter-Li .... er (Hrsg.), Herausgeforderte Verfassung, Die Schweiz im glo- balen Kontext, Freiburg 1999, 494. A.M. BIAGGINI (Anm. 13), 724 f.

16 So spricht ThÜRER (Anm. 2),537, von der ~Offnung nach Europa,. ais einem verstecklen Ziel der schweizerischen Aussenpolitik. Zu einem vereinten Europa bekennt sich z.B.

die Praambel des deutschen Grundgesetzes.

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6 Th. COTTlERIM. HERTIG: Das Vôlkerrechl in der neuen SV: Siellung und Auswirkungen

Eine bedeutsame Offnung des Verfassungsslaates Schweiz gegenüber der multilateralen Ordnung - teils ais vôlkerrechlliche Neben-17 oder Parallelver- fassung18 bezeichnet - lasst sich im Bereich der Grundrechte verzeichnen. So wurde bei der Kodifikation des nun umfassenden Grundrechtskatalogs den internationalen Menschenrechtsvertragen - insbesondere der EMRK und den UNO-Pakten - Rechnung gelragenl9, Zudem werden die Grundrechte in Übereinstimmung mil der Praxis der Bundesgerichts vermehrt ais Menschen- rechte formulierl. Sie stehen dem lndividuum unabhangig seiner Nalionalital zu20, Die eigentlichen Bürgerrechte sind deshalb in der Bundesverfassung in einem gesonderten Kapitel angesiedelt2l , lndem gemaSs Art. 54 BV die aus- warlige Gewalt zur Achtung der Menschenrechte angehalten wird, distan- ziert sicb die neue Verfassung deut1ich von der früber vertretenen, inzwischen aber haufig kritisierten Theorie des Konstitutionalismus, wonach Freiheits- rechte der Verfassung «vor allem für das innere, nicht für das internationa1e Verhiillnis gelten»22, Vielmehr wird anerkannt, dass «Grundrechle [ .. ,) ihrem Wesen entsprechend [ .. ,) nach Ausdehnung in den inlernalionalen Bereicb»

Slreben, «[N)ach innen gewlihrte Freiheilen sollen, ihrer eigenen Logik nach, au ch grenzüberschreitend wirksam werden23

lm Gegensatz zur vôlkerrechtlichen Menschenrechtsverfassung24 hat demgegenüber die globale Wirtschaftsverfassung fast keinen Niederschlag in

11 TOMUSCHAT (Anm. 3), 9. 50 18 ThÜRElt (Anm. 6), Rz. 35 bzw. S. 86.

19 BIAGGINI (Anro. 13),727; HEINRICH KOLLER, Der Einleitungstitel und die Grundrechte in der neuen Bundesverfassung, AlP 1999, 663. Zum Grundrechtsschutz in der Schweiz, uoter Berücksichtigung der oeuen Bundesverfassung und des internationalen Meo- schenrechtsschutzes, s. JÔRG PAUL MÜLLER, Grundrechte in der Schweiz. lm Rahmen der Bundesverfassung von 1999, der UNO-Pakte und der EMRK, 3, Bern 1999.

20 Vg1. Art. 8 BV und Art. 4 aBV (Rechtsgleichheit). Eine Ausnahme bildet fortan our noch die Niederlassungsfreiheit, (Art. 24 BV). Zur Entwicklung der schweizerischen Grundrechte zu ,><Menschenrechten" s. PETER S.UADlN, Arbeitsgruppe 2: Scbweizer Frei- heit, in: Ewald R. WeibeUMarkus Feller (Hrsg.), Schweizerische IdentiUit und Europai- sche Integration. Elemente schweizerischer IdentiUit. Hemmnisse oder Grundlagen für cine Annaherung an Europa?, Bern 1992, 254.

21 2. Kapitel, Art. 37-40 BV.

22 WALTHER BURCKHARDT, Gutachten voro 26. September 1938 zuhanden des Eidgen6ssi- schen Politischeo Departements, auszugsweise abgedruckt in VEB 29/1959-1960,19 und JORG PAUL MÛLLERiLuzlUS WILDHABER, Praxis des Vôlkerrechts., 2, Bern 1982, 130 f.; für eine Kritik s. DIETRICH ScHINDLER, Gedanken zum Wiederautbau des VôlkerrechlS, in:

Festschrift

rur

Max: Huber, Zürich 1944, 109; s. auch die Stellungnahme der Justizabtei- lung vom 13. Juli 1973. VPB 37, Nr. 32, 14, welche «die ideellen Freiheitsrechte der Bürger (zurn Beispiel die Mcinungsausserungs-, Presse- und Religionsfreiheit}. ais Schranke der auswlirtigen Gewalt auffilhrt.

2J ThÜRER (Anm. 6). Rz. 26 bzw. S. 80; in diesem Sinn auch KALiN/RIKLlN (Anrn. 9), 180.

24 ThÜRER (Anro. 6 ), Rz. 35 bzw. S. 86.

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Th. CornERIM. HERTIG: Das Vôlkerrecht in der neuen BV: Stellung und Auswirkungen 7

der neuen Verfassung gefunden25, so dass der Eindruck entsteht, «die Schweiz regle die Beziehungen zwischen Staat und Wirtschaft gewissermassen in bin- nenstaatlicher Abgescbottetheil>,26. Der Aussenwirtschaftspolitik ist neben dem Zollartikel (Art. 133 BV) ein einziger Artikel gewidmet (Art. 101 BVf', was angesicbts der umfangreicben staatsvertraglichen Einbindung des Landes sowohl im Rabmen der

wro

wie auch regionaler und bilaleraler Vertrags- werke sonderbar anmutet28. Mit der zunehmenden Globalisierung geht eine Verschiebung der wesentlichen Regelungen von der innerstaatlichen au[ die globale und regionale Ebene einher, so dass die binnengerichtete, national- staatliche Wirtschaftsverfassung zunehmend an Bedeutung verliert und sich nunmebr im Lichte des regionalen und globalen Wirtschaftsrechts sinnvoll verstehen Hisst>"- Die Verfassung bringt hier cin wesentliches Phiinomen nicht zum Ausdruck und bleibt in diesem Punkt der introvertierten Verfassungstra- dition verhaftet.

Eiu nach wie vor nach Innen gerichtetes Bild vermittelt oicht nur die Wirt- schaftsverfassuog, sondern, allgemeiner ausgedrückt, die meisten in der Bun- desverfassung verankerten materiellen Kompetenznormen, die in der Aus- senpolitik nach wie vor dünn gesat sind30• Materielle Vorgaben im Bereich der Aussenpolitik beschranken sich im grossen und ganzen auf die bereits

25 Kritisch ScHMID (Anm. 6), 1051.

26 ScHMID (Anm. 6), 1051. Anm. 18.

27 Art. 101 SV beauftragt den Bund, «die Interessen der schweizerischen Wirtschaft im

Ausland~ zu wahren. Zudem wird ihm die Môglichlceit eingeraumt, notigenfaUs yom Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit abzuweichen um Massnahmen zum Schutz der inlan~

dischen Wirtschaft ru treffen.

:u! Demgegenüber BIAGGINI (Anm. 13), der festbalt, dass die Wirtschaftsfreiheit (Art. 27 BV) und der «Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit» (Art. 94 BV) aIs Grundsatze der Wirt~

schaftsverfassung 8uch auf das Aussenwirtschaftsrecht Anwendung finden. Diese Ansicht la55t aber ausser Acht, dass Art. 27 BV - wle schon Art. 31 aBV - die Frage onen lâsst, in welchem Ausmass die Wirtschaftsfreiheit sich auch auf das Aussenwirt~

schaftsrecht erstTeckt; S. zu dieser Problematik WII.LlAM ELio ANDIlICH, Die Wirtschafts~

freiheit im schweizerischen Aussenwirtschaftsrecht, Diss. St. Galien 1996, inbes. 58 ft;

RENÉ RHiNOW, Kommentar BV zu Art. 31, Rz. 89; LUZlUS WILDHABEJt, Menschenrechte - Fôderalismus - Demokratie und die verfassungsrechtliche Verankerung der Aussen~

politik, in: Ulrich HafelinfWalter HallerlDietrich Schindler (Hrsg.), Menschenrechte, FOderalismus, Demokratie: Festschrift zurn 70. Geburtstag von Werner IOgi, ZUrich 1978,437 ff.; ThOMAS ComERfREMO ARPAGAUS, Einleitung, Schweizerisches Aussenwirt~

schafts~ und Binnenmarktrecht, SBVR 1999,23 para. 39.

29 Eingehend dazu CoTTIER (Anm. 7) 219 (f., ComER/WÜGER (Anm. 5), 252 ff.

")0 Ein Beispiel einer materieUer Kompetenznonn findet sich in Art. 40 SV (Auftrag des

Bundes, die Beziehungen der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer unterein~

ander und zur Schweiz zu fordem). Art. 29 aBV, welcher den Bund zu einer Nicdrigzoll~

politik verpflichtet.und Art. 11 aBV (Verbot von Militarkapitulationen) sind nicht in die neue Verfassung aufgenommen worden.

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8 Th. COTIlER/M. HERllG: Das Vôlkerrecht in der neuen BV: Stellung und Auswirkungen

dargestellten, allgemeinen Zielbestimmungen. Demgegenüber finden si ch - nicht zuletzt infolge von Volksinitiativen - im inneren Bereich eine grosse Anzahl materieller Kompetenznormen, die aber wegen der Verzahnung von Innen-und Aussenpolitik nicht nur nach innen, sondern vermehrt auch nach aussen wirken und den staatlichen Handlungsspielraum - nebst faktischen Zwangen - in den auswartigen Beziehungen beschranken. Diese Aussendi- mension materieller Kompetenznormen ist bis heute noch wenig reflektiert worden31 . Es muss vermehrt der Frage nachgegangen werden, wie sich diese Ziel- und Aufgabennormen auf die Aussenbeziehungen auswirken und in welchem Masse sie im Rahmen volkerrechtlicher Verhandlungen zu befolgen sind. Das wohl bekannteste Beispiel in dieser Hinsicht ist der auf die Alpen- schutzinitiative zurückgehende Art. 84 SV, der im Rahmen der bilateralen Verhandlungen mit der EU haufig Anlass zu Diskussionen gegeben hat32 Doch auch materieUe Vorgaben in den Sereichen Umweltschutz (Art. 73 H.

SV) Tierschutz (Art. 80 SV), Energiepohtik (Art. 89 BV), Landwirtschaft (Art. 104 SV)33, Film (Art. 71 SV), Radio und Fernsehen (Art. 93 SV), Lan- desversorgung (Art. 102 BV) und Gentechnologie (Art. 119-120 SV) haben zwangslaufig 3uch eine aussenpolitische Dimension. Ail diese Beispiele zei- gen, dass die in der früheren Lehre zum Teil vertretene These, wonach die auswartige Gewalt our an sogenannte «aussengerichtete» oicht aber an «in- nengerichtete» Verfassungsbestimmungen gebunden ist34, zufolge der heuti- gen Verflechtung von Innen und Aussen in langerfristiger Sicht kein taugli- ches Unterscheidungskriterium mehr bildet. Die Schranken der auswartigen

31 BIAGGINl (Anm. 6). 971.

32 S. COTnER/WOGER (Anm.5), 261; HANSPETER. GUGGENBOHL, Wenn Vôlk.errecht die Staatsverfassung bricht, Europa-Magazin Nr.l, 1999, 17-18; CYRILL STIEGER, Eidgenos- sische Vollksabslimmung vom 20. Februar, Alpeninitiative quer ZUT Europapolitik; Dro- hende Gefahr von Retorsionsmassnahmen. NZZ, 3. Februar 1994, 23; CHIUSfLAN WAN-

NER, Ein Stolperstein fOr bilaterale Verhandlungen, NZZ, 21. Januar 1994, 21; Ein schôp- ferischer Lemprozess; Neue Qualitlit der Beziehungen Schweiz-EU, NZZ, 12. Dezem- ber 1998, 23.

33 Die Landwirtschaftspolitik iIIustriert besonders deutlich. wie eng Vôlkerrecht und Lan- desrecht verknüpft sind. So hat die verfassungsrechtlich verankerte Landwirtschaftspo- litikder Schweiz (Art. 31 bis Abs. 3b aBV) stark die GATT·Verhandlungen der Schweiz im Rahmen der Ilruguay-Runde beeinflusst. Das Ergebnis der Verhandlungen hat wie- derum auf das schweizerische Verfassungsrecht rückgewirkt, indem ein neuer Verfas- sungsartikeJ (Art. 31octie• aBV) angenommen wurde (hierzu ausführlich ThOMAS CoT- TIERlKRI~A NADAKAVUKAREN SCHEfER, Switzerland: The Challenge of Direct Demo- cracy, in: John H. JacksonJAlan O'$ykes (Hrsg.), Implementing the Uruguay Round, Oxford 1997, 341 ft.

J4 BURCKHARDT (Anm.22); zu dieser These ausführlicher und m.w.H. SCHINDLER, Kom- mentar Art. 8 BV, Rz.15 Cf.

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TH. COTTIERIM. HERTlG: Das Vôlkerrecht in der neuen SV: Stellung und Auswirkungen 9

Gewalt müssen sich vielmehr nach materiellen Kriterien und auf dem Weg ei- ner Güterabwagung bcstimmen35.

U. Das Verhiiltnis von Viilkerrecht und Landesrecht A. Grundlagen

Ziel-und Praambelbestimmungen sowie materiale Kompetenznonnen wider- spiegeln die Wahrnehmung und die Raltung cines Staates gegenüber dem in- ternationalen Recht. Die wirklieh entscheidende Einstellung der Verfassung zu den Aussenbeziehungen zeigt sich indessen am deutlichsten darin, wie sie das Volkerreeht in die innerstaatliehe Ordnung aufnimmt. Diesbezüglich hat die Sehweiz - wie es die folgenden Ausführungen darlegen - kompensierend zu ihrem introvertierten politischen System glücklicherweise stets eio offenes Ohr gehabt. Dieser Tradition folgt, wenn auch mit gewissen Nuancen, auch die neue Verfassung. Sie eroffnet gewisse Spielraume rur neue Ansatze, wel- che das Verhaltnis von Vôlkerrecht weniger in einem traditionell hierarehi- schen Sinne aIs vielmehr in einem differenzicrten Zusammenspiel kommuni- zierender Ebenen verstehen Hisst.

Mit der stetig wachsenden qualitativen und quantitativen Bedeutung des Volkerrechts kommt dem Verhaltnis von Volkerrecht und Landesrecht eine besondere Bedeutung ZU. Dieser Problemkreis 1000t sich sowohl aus volker- rechtlicher aIs auch aus verfassungsrechtlicher Perspektive beurteilen.

1. Die volkerrecht/iche Perspektive

Auf vôlkerreehtlieher Ebene gilt der Grundsatz pacta sunt servanda, wonach die Staaten gehalten sind, ihren vôlkerrechtIichen Ptlichten nachzukommen.

Dieses Prinzip ist in Art. 26 der Wiener Vertragsrecbtskonvention von 196936 (nachfolgend VRK) verankert. Es kommt in zwei weiteren volkergewohn- beitsreehtlichen Grundsiitzen zum Ausdruck: der Verptlichtung, vôlkerrecht- liche Normen nach Treu und Glauben zu erfUllen (Art. 26 VRK) unddem Ver- bot, sich auf innerstaatliches Recht zu berufen, um die Nichterfilllung volker- rechtlicher Pflichten zu rechtfertigen (Art. 27 VRK). Wie die Staaten diesen

3S SCHINDLER (Anm. 34), Rz. 18, m.w.H. Auf materielle Kriterien stützte sich auch das Eid- genôssische Politische Departement in einem Gutachten vom 15. August 1957 (VES 29, 1959-1960, NI. 3, 22): ..-Sicher kônnen aut dem Wege des Staatsvertrages nicht funda- mentale Normen der Sundesverfassung abgeandert oder aufgehoben werden. Es ist nkht angangig, auf diese Weise die grundlegende Struktur des schweizerischen Staats- rechts urnzustürzen.»

36 Wiener Übereinkommen Ober das Recht der Vertrüge vom 23. Mai 1969, SR 0.111.

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10 Th. CornEttlM. HERnc: Das Vôlkerrecht in der fieuen DV: Siellung und Auswirkungen

Verpflichtungen nachzukommen haben, lasst sich dem al/gemeillen VOlker- recht selbst nicht enlnehmen, - anders ist dies nur, wo das Verhaltnis - etwa in bezug auf die unmittclbare BerechtigungPrivater - wie z.B. im EG-Vertrag be- sonders und verbindlich geregelt wird. Jeder Staat ist demnach grundsatzlich frei, über die innerstaatliche Wirkung und die Einordnung des Vôlkerrechts im Landesrecht zu entscheiden". lm modernen Verfassungsstaat bildet die sach- gerechte Einordnung des internationalen Rechts in der innerstaatlichen Rechtsordnung damit eine zen traie Aufgabe des Verfassungsrechrs.

2. Die verfassungsrechtliche Perspektive

Die Bundesverfassung von 1848 und 1874 enthiell keine explizite Bestim- mung, welche das Verhaltnis von V ôlkerrecht und Landesrecht regelte.

Trotzdem - oder vielleicht gerade deshalb - hat sich in der Schweiz bald eine vôlkerrechtsfreundliche Praxis entwickelt. Diese widerspiegelt das schon früh vorhandene Bewusstsein, dass die Schweiz aIs _Kleinstaa! cin erhebli- ches Interesse daran hat, dass in zwischenstaatlichen Beziehungen Recht vor Gewalt geht»38. So ist heute unumstritten, dass die Schweiz der sogenannten (gemassiglen) monistischen Theorie" folgt40, wonach das Vôlkcrrecht41 ei- 31 Eingehend ARNOW KOU_ER, Die unmiuelbare Anwendbarkeit vôlkerrechtlicher Ver- trage und des EWG-Vertrages im innerstaadichen Recht, Bern 1971~ WALTER KA:LlN. Der Geltungsgrund des Grundsatzes «Vôlkerrecht bricht Landesrecht», in: Die Schwei- zerische Rechtsordnung in ibren internationalen Bezügen, Festgabe zum Schweizeri- schen Juristenrag 1988, ZBN, 124bi~, 1988. 52-53, mit Hinweisen auf abweichende Mei- nungen (47-48).

38 S. Bericht des Bundesrates über die Friedens- und Sicherheitspolitik der Schweiz vom 29.6.1988, BBI1989 1 680; auch in der Botschaft des Bundesrates zur neuen Bundesver- fassung wird auf das Interesse eines Kleinstaates an vôlkerrechtlichen Beziehungen hin- gewiesen (BBI1997 1135). S. auch DnmucH ScHlNDLER, Die Schweiz und das Vôlker- recht, in: Alois RiklinfHans HauglRaymond Probst (Hrsg.). Neues Handbuch der schweizerischen Aussenpolitik, BernlStuttgart/Wien 1992, 101 (

39 Zum Monismus und seiner Abgrenzung zurn Dualismus im allgemeinen s. anstatt vieler ALFRED VERDROSslBRUNO SIMMA, Universelles Vôlkerrecht, 3, Berlin 1984,53 H.

40 Hierzu anstatt vieler, KAuN (Anm. 37), 54.

41 Weil Vôlkergewohnheitsrecht und allgerneine Rechtsprinzipien in der Regel auch in Staaten. welche der dualistischen Tradition tolgen, direkt gelten, ist die Theorie des Monismus v.a. hinsichtlich der Stellung von Staatsvertragen relevant. Zur Stellung des Vôlkergewohnheitsrechts und der allgemeinen Rechtsprinzipien im inncrstaatlichen Recht s_ LuzlUs WILOHABEItlSTEPHAN BREnENMOSER, The Relationship belween Custo- mary International Law and Municipal Law in Western European Cou.nLrie~ ZaôRV 1988,163 ff., însbes. 176-178; CHRISTIAN DOMINIC~, La nature juridique des actes des organisations et des juridictions internationales et leurs effets en droit suisse, in: Recueil des travaux suisses présentés au VIlle Congrès international de droit comparé, Basel 1970,249-263.

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TH. C01T1ERIM. HERTIG: Das Vôlkerrecht in der neuen BV: Stellung und Auswirkungen 11

nen Bestandteil der innerstaatlichen Rechtsordnung bildet und demnach un- mittelbar gilt42• Diese monistische Tradition ist in der Schweiz so stark ver- wurzelt, dass es im Rahmen der Verfassungsrevision nicht aIs notig erachtet wurde, dieses erhartete und in der Schweiz bewahrte Prinzip in der neuen Bundesverfassung zu verankem. Wie schon die alte Bundesverfassung setzt die neue Bundesverfassung das monistische System implizit voraus, indem Art. 189 Abs. 1 Ziff. c BV Privaten das Recht einraumt, Verletzungen von Staatsvertragen VOT dem Bundesgericht geltend zu machen und das Volker- recht gemiiss Art. 191 BV rur aile rechtsanwendenden Behorden massge- bend ist43

Der vôlkerrechtsfreundIiche Charakter der schweizerischen Rechtsord- nung kommt sodann im allseitig anerkannten Grundsatz der vôlkerrechts- konformen Auslegung des gesamten Landesrechts, einschliesslich der Bun- desverfassung44, zum Ausdruck45. Wie es das Bundesgericht erstmals im Ent- scheid Frigerio festgehalten hat, erlaubt es dieses Prinzip in den meisten Fal- len, «eigentliche Konflikte zwischen den beiden Rechtsordnungen zu vermei- den»46.

Lasst sich ein Normenkonflikt nicht auf dem Wege der Auslegung beseiti- gen, geht die bundesgerichtliche Rechtsprechung grundsatzlich vom Vorrang des Vôlkerrechts aus47Die Tragweite dieser Regel im Einzelfall ist indessen klarungsbedürftig geblieben. In der Lehre umstritten ist auch die von der in-

42 Es wird auch vom Grundsatz der transformationslosen Gehung (KALIN [Anm. 37], 54), vom Adoptions- oder Inkorporationssystem gesprochen (ThÜRER [Anm. 6J, Rz. 9 bzw.

S. 68).

43 SCHINDLER (Anm. 38), 111.

44 MALINVERNI (Anm. 2), 69.

45 Die erste Erwahnung des Prinzips der vôlkerrechtskonformen Auslegung geht auf BGE 941669,679 (Frigerio) zurück: «lm Zweifel ist innerstaatliches Recht vôlkerrechtskon- form auszulegen, d.h. so, dass ein Widerspruch mit dem Vôlkerrecht nicht entsteht.» Für ein jüngeres Beispiel s. BGE 122 II 234, 239 (Schweizerischer Bund filr Naturschutz [SBN], Schweizer Heimatschutz [SHS], World WildIife Fund Schweiz [WWF], Dr. Ema- nuel Isler und Dr. Ambros Isler). Zum Prinzip der vôlkerrechtskonformen Auslegung s.

z.B. ThOMAS COTTIERIKRISTA NADAKAVUKAREN SCHEFER, The Relationship between World Trade Organization Law, National and Regional Law, Journal of International Economie Law 1998, 88 ft.

46 Frigerio (Anm. 45), 678.

47 Aus der umfangreichen Literatur, s. JEAN-FRANÇOIS AUBERT, L'autorité, en droit interne, des traités internationaux, ZSR 1962 J, 265-287; derselbe, La hiérarchie des règles, ZSR 1974 II, 193 ft.; BUNDESAMT FÜRJUsnz UND DIREIffiON FÜR VÔLKEIUlECHT, Verhaltnis zwi- schen Vôlkerrecht und Landesrecht im Rahmen der schweizerischen Rechtsordnung, Rechtliche Grundlagen und Konsequenzen des Vorrangs des Vôlkerrechts, VPB 53, Nr. 54, 1989, 393-436; ASTRID EPINEY, Das Primat des Vôlkerrechts ais Bestandteil des

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12 Th. CornER/M. HERTIG: Oas Vôlkerrech( in der neueo SV: Stellung und Auswirkungen

nerstaatlichen Geltung zu unterscheidende Frage der direkten Anwendbar- keit. Hierbei geht es um das Problem, unter welchen Bedingungen eine vol- kerrechtliche Norm direkt - d.h. ohne vorherige Umsetzung in innerstaatli- ches Recht - Grundlage eines Einzelfallentscheides bilden kann.

B. Die Redltslage unter der neuen Bundesverfassuog

Den bestehenden Unsicherheiten wurde im Verlanf der Verfassungsrevision Rechnung getragen, indem auf die im Rahmen des Reformpakets Volksrech- te vorgeschlagene Formulierung «Volkerrecht geht entgegenstehendem Lan- desrecht vor»48 zugunsten eines flexibJeren Wortlauts verzichtet wurde:

«Bund und Kantone beachten das Volkerrecht»49, lautet Art. 5 Abs.4 der neuen Bundesverfassung. Mit dieser Bestimmung stellt die Bundesverfassung keine eigentliche Kollisionsnorm auf. sondern überlasst es nach Auffassung des Bundesrates weiterhin Lehre und Praxis, Volkerrecht und Landesrecht aufeinander abzustimmen 50. Diese Verfassungslage ist im Hinblick auf eine komplexe und stark von den UmsUinden des Einzelfalles abbangigen Pro- blemlage sehr zu begrüssen. Das Verhaltnis von Volkerrechl und Landes-

Rechtsstaatsprinzips, ZB11994, 537-561; ANDRÉ GRISEL, A propos de la hiérarchie des normes juridiques, ZBl1987, 377 ff.; Yvo HANGARTNBR, Vôlkerrecht und schweizerisches Landesrecht, in: Festschrift Arnold Koller, Bern, Stuttgart, Wien 1993, 651 ft.; OLIVIER JACOT-GUILLARMOD, Fondcmentsjllridiques internationaux de la primauté du droit inter- national dans l'ordre juridique suisse, ZBJV 1984,227 fi.; derselbe, La primauté du droit international face à quelques principes directeurs de l'Etat fédéral suisse, ZSR 1985 1 383 ff.; KALIN (Anm. 37), 45 ft; MATHIAS KRAFFr, Observations sur les rapports entre le droit international et le droit suisse, à la lumière notamment de certains développements récents de la jurisprudence de la Cour européenne des droits de l'homme, in: Mélanges Georges Perrin, Lausanne 1984, 187-197; PIERRE LARDY, La force obligatoire du droit international en droit interne, Diss. Neuchâtel, Paris 1966; MüLLeRI'WILDHABER (Anm. 22),103 ff.; ERNST-ULRICH PETERSMANN, Die Verfassungsentscheidung fUr cine vôlkerrechtskonforme Rechtsordnung ais Strukturprinzip der Schweizer Bundesverfas- sung, AôR 115, 1990, 537 ff.; SCHINDLER (Anm. 38), 113 ff.; PAUL SIEGENTHALER, Der Staastsvcrtrag ais Streitgcgenstand, ZBJV 1984,201-226; THORER (Anm.6), RZ.13 ft.

bzw. 71 ff.

48 Art. 4 Abs. 4 Vorlage B. VE 95.

49 Unglücklich ist die Divergenz zwischen der deutschen Fassung einerseits und dcr fran- zôsischcn und italienischen Fassung andererseits, die zwingender formuliert sind (,<La confédération et les cantons respectent le droit international»/~La Confederazione e i Cantoni rispettano il diritlo internazionale». Hervorhebung durch die Autorcn). Gegen- Uber der im Reformpaket Volksrechte enthaltenen Version stellt aber auch diese Formu- lierung cine Abschwachung dar (Art. 4 Abs. 4 Vorlage B, VE 951autete: «Le droit inter- national est supérieur au droit interne.»/«ll dirino internazionale prevale sul diritto nazionale che gli fosse contrario.»

S<J Botschaft BV, BBI19971. 135.

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1),. CoTnERIM. HERTIG: Das Vôlkerrecht in der neuen av: SteIJung und AuswirJcungen 13

recht lasst sich nur beschrankt kodiftzieren. Es wird nun darum gehen, ausge- hend yom gegenwartigen Stand der Lehre sowie der richterlichen und politi- schen Praxis die Tragweite des Vorrangs des Vôlkerrechts sowie die Kriterien der direkten Anwendbarkeit volkerrechtlicher Normen im Rahmen der neuen Bundesverfassung zu klaren und wei ter zu entwickeln. Beide Fragen- kreise stellen zwar unterscbiedliche juristische Probleme dar, konnen aber die gleiche Wirlmng entfalten: Die Vemeinung der direklen Anwendbarkeit ei- ner volkerrechtlichen Norrn ist in der Praxis hliufig ein Millel zur Umgehung der Vorrangtrage5l Sie sind da ber gemeinsam zu bebandeln.

1. Der Vorrang des VOlkerrechts

Der Vorrang des Vôlkerrecbts ist gegenüber kantonalem, interkantonalem Recht und nicbt referendurnspflichtigem Bundesrecht allgemein anerkannt.

Strittig ist hingegen, wie ein Normenkonflikt zwischen VOIkerrecht einerseits und referendumspflichtigem Bundesrecht oder der Bunde"'erfassung ande- rerseits zu lôsen ist.

a) Volkerrecht und referendumspflichtiges Bundesrecht

Einigkeit besteht in der Lehre und Praxis dahingehend, dass Volkergewohn- heitsrecht, allgemeine Rechtsgrundsatze und zwingendes Vôlkerrecht Bun- desgesetzen und referendumspflichtigen allgemeinen Bundesbeschlilssen" in jedem Fall vorgehen. Anerkannt ist auch der Vorrang spaterer Staatsvertrage gegenilber früberen Bundesgesetzen. Anlass zu Diskussionen gibt aber die sogenannte Schubert-Praxis des Bundesgerichts", wonach spatere Bundesge- setze früherem VOIkervertragsrecht vorgehen, wenn der Bundesgesetzgeber eine Volkerrechtsverletzung bewusst in Kauf genommen hat". Wiihrend die einen diese Rechtsprechung aufgrund des Demokratie- und Gewallentei-

"

Vgl. ROBERT PATRY, Le Tribunal fédéral et le droit international, in: Mélanges Assista,

Oen! 1989. 528 f.

52 Der Einfachheit halber wird forlan nur von Bundesgesetzen gesprochen.

" BOE 99 lb 39; bestatigt in BOE 112 II 13. E. 8 (Wohnbau AG Giswil); BGE 1l6lV 262, 269 (X); BOE 117 lb 367, 370 (Eidgenôssische Steucrverwaitung); BOE 117 IV 124,128 (Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich); BGE 118 lb 277, 281 (CS); s. auch das Urteil Courlet des Eidgenôssisichen Versicherungsgerichts, BGE III V 201, 202-203; 119 V 175.

54 Das Bundesgericht hat seine frühere Rechtsprechung (BGE 491196 (Lepeschkin), BGE 59 II 337 [Steenworden]) aufgegeben, wonach Gesetze und Staatsvertrage glekhrangig seien und Normenkonflikte generell nach dem Priozip lex posterior derogat priori auf- zulësen seien. Hierzu KAUN (Anm. 37), 59 f.

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14 TH. COTIlEitIM. HunG: Oas Volkerrecht in der neueR BV: Stellung und Auswirkungen

lungsprinzips befurworten55> wird sie von anderen Autoren ais «bête noire des internationalistes» bezeichnet und unter Berufung auf das Rechtsstaatsprin- zip und den Vertrauensschutz der internationalen (Verlrags-)Partner abge- lehnl56. Das Bundesgerichl selbsl hal bislang wenig zur KIarung der Rechls- lage beigetragen. Vielmehr folgl seine jUngere Rechlsprechung, wie es Lu-

ZIUS WILDHABEK pragnant ausdrückt, einer «Taktik des <Durchwurstelns>

Aus der neueren Literatur, s. FRANCIS CAGIANUT, Die Bedeurung der Konvention zurn Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten fOr den Schweizer Richter, in: Vôl- kerrecht im Oienste des Menschen: Festscbrift für Hans Haug 1986, 53 f.; ANDR.É GRISEL, Traité de droit administratif, 2. Auflage, Lausanne 1988, 92; BLAISE KNAPP, Précis de droit administratif, 4. Auflage, Basel 1991, 60; YVETTE KOVACS, Oie Gesetzesdelegation im Steuerrecht, Zürich 1991,85 f.; PlERRE MOOR, Droit administratif, vol. l, Bero 1988, 60; PATRY (Anm. 51), 528 ff.; HANSJÔRG SElLER, Das vôlkerrechtswidrige Bundesgesetz;

Artikel L13 Absatz 3 BV im VerhlUtnis zu Vôlkerrecht, EG und EWR, SJZ 88, 1992, 377-387;derselbe, Noch einmaJ: Staatsvertrag und Bundesgesetz. Replik Bufden Diskus- sionsbeitrag von Astrid Epiney in ZBt 1994 537-561, ZBll995, 451--456; FELIX SeHosl, Die «Schubert-Praxis» des Bundesgerichts im Lichte der parlamentarischen Diskussion über das Abkommen über den europüischen Wirtschaftsraum, AJP 1993, 887 ft.; DANIEL THORER, lnternationales «Rule of Law» - innerstaatliche Demokratie, SZIER 1995, 472:

StEGENTHALER (Anm.47), 201-206; ROBERT ZIMMERMANN, Le contrôle préjudiciel en droit fédéral et dans les cantons suisses, Lausanne 1987, 92.

56 JEAN-FRANçms AU8ERT, Bundesstaatsrecht der Schweiz. Fassung von 1967, neubearbei- teter Nachtrag bis 1994, Bd. II. BaseVFrankfurt a.M. 1995,1020 (entgegen seiner frühe- reo Ansicbt [s. Traité de droit constitutionnel suisse, ParisINeuchâteI1967/1982, 483]).

EPINEY (Anm_ 47); diese/be, Ende oder Weîtcrführung der Schubert-Praxis?, AJP 1991, 634 t; JACOT-GUlLLARMOD (Anm. 47); derse/be, Le juge national face au droit européen, BasellFrankfurt a.MJBrüssel 1993,79, 108 ff., 143 f., 152; GRISEL (Anm. 47), 391-393;

A~TIlUR HAEFUGER, Die Hierarchie von Verfassungsnormen und ihre Funktion bcim Schutz der Menschenrechte, EuGRZ 1990, 480; HANS HUBER, Die verwaltungrechtliche Rechtsprechung des Bundesgerichts im Jahre 1973, ZBJV 1914, 492-493; KAuN (Anm. 37), 60-64; derselbe. Kolurnne: Schubert und der Rechtsstaat oder: Sind Bundes- gesetze massgeblicher ais Staatsvertrage?, ZSR 1993 173ft.; AUGUSTIN MACHEiRET, Les traités d'établissement et les législations nationales de police des étrangers, CDE 10, 1914,209-210; GIORGIO MALINVERNI, Mémoires de la Faculté de droit de Genève, Nr. 49, 1976,25-28; derselbe (Anm. 2), 64; JÔRG PAUL MÜLLER, Vôlkerrecht und schweizerische Rechtsordnung, in: Alois RikliniHans HauglChristoph Binswanger (Hrsg.), Handbuch der schweizerischen Aussenpolitik, Bem/Stuttgart 1975,224-221; duse/be, Wandel des Souveranitatsbegriffs im Lichte der Grundrechte - dargestellt am Beispiel von Einwir- kungen des internationalen Menschenrechtsschutzes auf die schweizcrische Rechts- ordnung, in: René Rhinow/Stephan BreÎlenmoser/Bemhard Ehrenzeller (Hrsg.), Fra- gen des internationalen und nationalen Menschenrechtsschutzes, Symposium zurn 60. Geburtstag von Luzius Wildhaber, BasellFrankfun a_M .• ZSR Beiheft NI. 25, 1997;

54 f.; PETER SALADIN, VôlkerrechtJiches jus cogens und schweizerisches Landesrecht, ZBJV 124bîs, 1988, 81 t; LuzlUs WU.DHABER, Bemerkungen zurn FaU Schubert betref- fend das Verhi:iltnis von Vôlkerrecht und Landesrecht. SJIR 30,1974,195-201.

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Th. CorrrERlM. HERTlG: Das Volkerrecht in der neuen BV: Stellung und Auswirkungen 15

(<<muddling through»)57. Wahrend es sich in einigen Entscheiden klar zum Vorrang des Vôlkerrechts bekennt und festhalt, Art. 114 Abs.3 und 114b;'

Abs. 3 aBV liesse sich nichts bezüglich des Verhliltnisses von Vôlkerrecht und Landesrecht entnehmen, kommt es in anderen Urteilen zum gegenteiligen Schluss und bestatigt die Schubert-Praxis in einigen Fallen, ohne indessen einlasslich zu prüfen, ob die Voraussetzungen der Schubert-Praxis (bewusste Inkaufnahme einer Vôlkerrechtsverletzung) in casu erfüllt sind58 . Auch wenn die praktische Bedeutung dieser Kontroverse nicht überbewertet werden soll- te", da sich das Verhiiltnis von Vôlkerrecht und Bundesgesetzen in vielen Fallen auf dem Wege der staatsvertragskonformen Auslegung klaren lasstlSO ,

und Entscheidungen, in denen das Bundesgericht einem Staatsvertrag zugun- sten eines Bundesgesetzes die Anwendung versagt hat, selten geblieben sind", handelt es sich gleichwohl um eine grundsatzliche Frage. Sie bedarf künftig der Kllirung und Klarstellung6'.

Der Vorrang des Gesetzes zeigt sich in der Praxis zumeist da, wo es sich um politisch heikle Falle handelt, in denen das Bundesgericht gegenüber dem Gesetzgeber Zurückhaltung übte. Deshalb wird die Schubert-Praxis im Sinne einer Political-question-Doktrin von einem Teil der Lehre auch befürwortet63 .

Diese Auffassung hat auch in die hangige Justizreforrn Eingang gefunden64,

allerdings in abgeschwachter Forrn: dem Bundesgericht soli künftig die Be-

57 LUZlUS WILDHABER, Diskussionsvotum, in: René Rhinow/Stephan Breitenmoser/Bern- hard Ehrenzeller, Fragen des internationalen und nationalen Menschenrechtsschutzes, Symposium zum 60. Geburtstag von Luzius Wildhaber, BaselfFrankfurt a.M., ZSR Bei- heft Nr. 25, 1997,93. In diesem Sinn auch Yvo HANGARTNER, Ende oder Weiterführung der Schubert-Praxis?, AJP 1997, 634.

58 S. BGE 120 II 384 ff., 387.

59 PATRY (Anm. 51),531; in diesem Sinn auch Yvo HANGARTNER, Bemerkungen zu BGE 117 lb 367, AlP 1993, 197: A.M. EPINEY (Anm. 56), 539, Amn. 10.

60 PATRY (Amn. 51), 531: BLAGGINI (Anm. 13),729.

61 PATRY (Anm. 51), 528, 531; BIAGGINI (Anrn.13), 729.

62 Diese hat nun das Bundesgericht in einem etwas seltsam anmutenden «obiter dictum zu einem obiter dictum)) in Aussicht gestellt, s. BGE 125 III 209, 218 (X).

63 KALIN (Anm. 37), 76 f.; ThÜRER (Anm. 6), Rz.15 und Anm. 35, bzw. 72, Anm. 35; in die- sem Sinn auch Wildhaber, der festhalt, dass dem Richter in der schweizerischen halbdi- rekten Demokratie zuviel zugemutet wird, wenn man von ihm die strikte Durchsetzung des Primats des Volkerrechts verlangt (s. LUZlUS WILDHABER, Kontrolle der auswartigen Gewalt, VVDStRL Nr. 56, 1997, 78 f.). Eine ahnliche Meinung vertritt der Bundesrat in der Botschaft ZUT Justizreform: «Zugunsten dieser Praxis [Schubert Praxis] 11:isst sich anführen, dass es kaum Aufgabe des Richters ist, korrigierend einzugreifen, wenn der Gesetzgeber bewusst V olkerrecht verletzt hat und damit bereit ist, die Konsequenzen des Rechtsbruchs zu tragen.)) (BB11997 1 514).

64 Zurn aktuellen Stand der Justizreform s. R. LAUTENSCHÜTZ, Land in Sicht für die Justiz- reform; Anpassungen bei den Volksrechten vorlaufig beerdigt, NZZ, 21. Mai 1999, 13.

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16 TH. COTl'JERIM, HERnc: Das Vôlkerrecht in der oeueo

av:

Stellung uod Auswirkungen fugnis eingeraumt werden. Bundesgesetze auf ihre Vôlkerrechtskonformitat ru prUfen. Es kônnte aber im konkreten FaU entscheiden, inwiefern das vOl- kerrechtswidrige Bundesgesetz g1eichwohl wei ter anzuwenden ist65 . Tm Ge- gensatz zur Schubert·Praxis wlirde das Bundesgericht a1so nicht dem Bundes- gesetz gegenüber dem Staatsvertrag den Vorrang einraumen, sondern haue

Yvo HANGARTNER, Ende oder Weiterführung der Schubert-Praxis, AJP 1997, 634; der- se/he. Diskussionsvotum, in: René Rhinow/Stephan BreitenmoserlBernhard Ehrenzel- 1er (Hrsg.), Fragen des intemationalen und nationalen Mensdtenrechtsschutzes, Sympo- sium zurn 60. Geburtstag von Luzjus Wildhaber, BaseUFrankfurt a.M .• ZSR Beiheft Nr.25, 1997,78; s. Art. 178 Abs. 1 und 3 des Entwurfs vom 20. Novernber 1996 cines Bundesbeschlusses über die Reform der Justiz, BBl19CJ7 1 641; s. die Botschaft des Bun- desrates, BBI 1997 1 513 f., 534 ff. Gemass An. 178 Abs. 1 priift das Bundesgericht «im Zusammenhang mit einem Anwendungsakt, ob eio Bundesgesetz oder eio al1gemein- verbindlicher Bundesbeschluss gegen verfassungsmassige Rechte oder gegen Vôlker- recht verstôssl» und entscheidet nach 178 Abs. 3, «inwieweit das Bundesgesetz oder der allgemeinverbindliche Bundesbeschluss anzuwenden ist». Der Entwurf der Verfas- sungskomrnissionen des Stlinderates yom 27. November 1997 (8811998 1 492 ff.) hat dieses System beibehalten; der Entwurf der Verfassungskommission des Nationalrates vom 21. November

lm

(BBll998 1433 ft.) gehl vom gleichen Grundsatzaus wie Bun- desrat und Standerat, sah jedoch einige Einschrlinkungen vor (s. Art. 178 Abs. 3bil lit. a bis cl. Wahrend der Slanderat dem Entwurf seiner Kommission gefolgt isl (Amtliches Bulletin der Bundesversammlung, 5.3.1998, 253), hat der Nationalrat zugunsten eines Minderheitsantrags gestimmt, welcher sich gegen eine Nonnenkontrolle von Bundesge- setzen ausspricht und hiermit den Status quo befürwortet (Amtliches Bulletin der Bun- desversammlung 1998,25.6.1998, 1472). Bezüglich der Kontrolle von Bundesgesetzen auf VôlkerrechtskonCormîtat konnten die Differenzen zwischen den beiden Kammem in der Foige im Sinne von Bundesrat und Standerat bereinigt werden. Uneinigkeiten bestanden aber noch bezüglich der Verfassungskontrolle von Bundesgesetzen. Wahrend der Stlinderat verfassungsm:tssige Rechte ais Prüfungsmassslab akzeptierte, wollte der Nationalrat - wie schon im Entwurf der Verfassungskomntission - die Kontrolle auf Grundrechtskonformitat beschranken (Arntliches Bulletin der Bundesversamrnlung.

1.10.1998.1022 (Standerat) und ehenda, 9.6.1999, 1021 (Nationalrat). Der SUinderat hat schlussendlich der nationalratlichen Version zugestimmt (Amtliches Bulletin Standerat, provisorische Fassung, 606 ff.). In der darauffolgenden Session schuf der Nationalrat jedoch eine neue Differenz zurn Standerat, indem er die Frage der ÛberprOfbarkeit von Bundesgesetzen aus der Justizrefonn ausklammerte. Ausschlaggebend waren BefUrch- tungen, dass diesel' Teil der Vorlage zu umstnUen sei und dadurch die gesamte Justizre- form gefàhrden konnte. Die Einigungskommission hat diese Variante übernommen und der Standerat hat die nationalratliche LOsung in der Foige akzeptiert (bei Redaktions- schluss war die provisorische Fassung des Amtlichen Bulletins noch nicht veroftentlicht, siehe deshalb NZZ Nr. 233 vom 7.10.1999, 17, «Modemisiertes Personalrecht verab- schiedet - Nationalrat demontiert Justizeeform» und NZZ Nr. 234 vom 8.10-1999, 13,

«Session der eidgenôssischen Rate - Zahnlose Justizreform - Nationalrat verabschiedet bissiges Korruptionsstrafrecht»). Das Schicksal der Verfassungsgerichtsbarkeit gegen- über Bundesgesetzen bleibt damit often. Die JustizreCorm hat aber sicherlich einen wesentlichen Inhalt und damit einiges an Wert verloren.

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Th. ConIER/M. HERTIG: Das Vôlkerrecht in der neuen SV: Stellung und Auswirkungen 17

die Môglichkeit, in schwierigen FaUen einen AppeUentscheid zu Ciillen und es dem Gesetzgeber zu überlassen, die Konsequcnzen aus der festgesteUten Vol- kerrechtswidrigkeit des Bundesgesetzes zu ziehen'". Unklar ist dabei, nach welchen Kriterien eine fortgesetzte Anwendung solcher Gesetze im Einzel- CaU zu beurteilen ist und wie die Rechtssicherheit fUr betroffene Bürger aus- serhalb des konkreten Verfahrens sichergestellt werden kann.

Unseres Erachtens muss die Frage im Lichte des neuen Leitsatzes Bund und Kanlone beach/en das Vb/kerrechl (Art. 5 Abs. 4 BV) angegangen wer- den. Diese Formulierung und auch ihre Genese sprechen fur ein differenzie- rendes Verhaltnis von Staatsvertrag und Gesctzesrecht. Die Verrneidung von Konflikten mit der volkerrechtlichen Ordnung und damit mit Rechten ande- rer Staaten sowie die Vertrauenswürdigkeit der Schweiz aIs Vertragspartnerin sprechen klar für den verfassungsrechtlichen Vorrang des Volkerrechts. Wer dies auf der Grundlage des Demokratieprinzips generell verneint, verkennt dass auch Staatsvertrage durch demokratÎsch konstituierte Behôrden verant- wortet werden und im Falle der Referendumspflichtigkeit nicht geringere Hilrden aIs ein Gesetz zu nehmen haben. Eine Ausnohme besteht diesbezilg- lich in den Fallen, wo ein dem Referendum entzogener Staatsvertrag Mate- rien regelt, die nach innerstaatlichen Kriterien im Gesetz geregelt werden müssten. Dieses Problem kann indessen besser mit der Verneinung der UTI-

mittelbaren Anwendung gelost werden, wie noch darzulegen sein wird. Ein Vorrang des Gesetzes muss daher anderweitig begrundet werden. Er liegt letztJich in der Figur der Vertragsverletzung, welche auch im Vôlkerrecht un- ter Inkaufnahme der Staatenverantwortlichkeit und ihren Folgen dem Staate realpolitisch und teilwcise auch rechtlich (wie namentlich in der WTO) aIs ein Exil zur Verfügung stchl. Von daher sind die Kriterien der bewusslen und nachweisbaren Abweichung und Inkauinahme seitens des Gesetzgebers im Sinne der Schubert-Praxis und einer Schutzklausel durchaus folgerichtig. Der Gesetzgeber hat das Vôlkerrecht zwar beachtet, aber es aus von ihm ais hoher eingestuften Interessen nicht geachtet. Er muss daCür die Verantwortung übemehmen. Aus dieser Überlegung folgt, dass solche KonsteUationen weder leichtfertig angenommen noch unterstellt werden dürfen. Vielmehr ist entge- gen heutiger Praxis des Bundesgerichts ein bewusstes, willentliches Abwei- chen in casu vom Staatsvertrag nachzuweisen.

66 Dieses Vorgehen befürwortet das Bundesamt für Justiz und die Vôlkerrechlsdirektion in ihrer gemeinsamen Stellungnahme (Anm.41), 433 ft. und cio Teil der Lehre; s..

AUBERT (Anm. 56), 1020; GIUSEL (Anm. 47) 392-393; THORER (Anm. 63); weitere Hin- weise sind zu finden in der eben erwahnten Stellungnahme des Bundesarntes fUr Justiz und der VOIkerrechtsdircktion, 413, Anm. 62.

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