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Arbeitskreis 3: Das Kind als Rechtssubjekt im zivilrechtlichen Kindesschutz

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Arbeitskreis 3: Das Kind als Rechtssubjekt im zivilrechtlichen Kindesschutz

COTTIER, Michelle, HÄFELI, Christoph

COTTIER, Michelle, HÄFELI, Christoph. Arbeitskreis 3: Das Kind als Rechtssubjekt im zivilrechtlichen Kindesschutz. In: Schwenzer, Ingeborg/Büchler, Andrea. Vierte Schweizer Familienrecht§Tage . Berne : Stämpfli, 2008. p. 109-118

Available at:

http://archive-ouverte.unige.ch/unige:75278

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Arbeitskreis 3:

Das Kind ais Rechtssubjekt im zivilrechtlichen Kindesschutz

Michelle Cottier, Dr. iur., MA, Lehrbeauftragte, Universitii.t Basel, Basel

Christoph Hii.feli. lic.iur., dipl. Sozialarbeiter/Supervisor, Profèssor an der Hoch- schule Luzern, Luzern

Stichworter: Partizipation des Kindes, Anhorung des Kindes, Vertretung des Kindes, Selbstbestimmungsrecht des Kindes, zivilrechtlicher Kindesschutz, Vor- mundschaftsbehorden.

Inhaltsverzeichnis I. Einleitung

II. These 1: Genügende Rechtsgrundlagen?

III. These 2: Vollzugsdefizit

TV. These 3: Vielfaltige Hintergründe V. Postulate

1. Einleitung

109 110 112 114 116

Tn den letzten Jahren hat sich im Kindesrecht die Sichtweise auf <las Kind ge- wandelt: Es soli stiirker ais Subjekt mit eigenen Verfahrens- und Selbstbestim- mungsrechten wahrgenommen werden und nicht als blosses Objekt von staatlichen Schutzbemühungen. Diese Forderung richtet sich auch an alle Akteure des zivil- rechtlichen Kindesschutzes, insbesondere Behûrden, Mandatstragerinnen und -trager und Institutionen der ausserfamiliaren Platzierung.

lm Rahmen des Arbeitskreises 3 wurden mit den Teilnehmenden die rechtli- chen Grundlagen und die Umsetzung der Rechte des Kindes in der Kindesschutz- praxis ergründet. Beginnend mit der Feststellung, dass die rechtlichen Grundlagen dem Kind die ihm zustehende Stellung als Rechtssubjekt gewabrleisten (These 1), wurden Mange! auf der Ebene des Vollzugs der Verfabrens- und Selbstbestim- mungsrechte des Kindes und die môglichen Gründe dafür diskutiert (Thesen 2 und 3). Abschliessende Postulate ôffneten die Perspektive auf wünschbare Verbesse- rungen in der Kindesschutzpraxis der Zukunft.

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Michelle Cottier/ Christoph Hafeli

II. These 1: Genügende Rechtsgrundlagen?

These l: Das Kind wird vom Gesetzgeber ais Rechtssubjekt wahrgenommen und die geltenden Rechtsgrundlagen riiumen dem Kind (weitgehend) die ihm zukommende Rechtsstellung ein.

Anlass zur optimistischen Einschiitzung der rechtlichen Stellung des Kindes in der Schweiz geben insbesondere jüngere Entwicklungen, die auf die Ratifikation der UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK) zurückgehen. Diese hat eincn wichti- gen Beitrag zur starkeren Wahmehmung des Kindes als Rechtssubjekt mit sicb gebracht. So garantiert Art. 12 UN-KRK das Recht des Kindes, seine Meinung zu iiussem und damit gehôrt zu werden (Abs. 1 ), und das Anhôrungs- und Ve1tre- tungsrecht in Gerichts-oder Verwaltungsverfabren (Abs. 2). Dieses Partizipations- recht wird ais Kemstück der UN-Kinderrechtskonvention betrachtet. Damit habe sich der Fokus verschoben von der Frage, welche Entscheidungen Kinder nicht fâllen kônnen hin zur Frage, wie Kinder partizipieren kônnen und welche Ent- scheidungen sie selbst füllen kônnen. 1

Die UN-Kinderrechtskonvention hat auch in der Schweiz eine vermehrte Fo- kussierung auf die Partizipationsmôglichkeiten des Kindes in rechtlichen Verfah- ren mit sich gebracht und im Bereich des Kindesrechts zu verschiedenen Gesetzes- iinderungen geführt. So wurde im Rahmen der Revision des Scheidungsrechts im Jahr 2000 die Anhôrung des Kindes im Scheidungsverfahren (Art. 144 ZGB) wie auch im Kindesscbutzverfahren explizit gesetzlich geregelt (Art. 314 Ziff. 1 ZGB).

Art. 12 UN-KRK hat darüber hinaus fur aile kindbezogenen Verfahren Bedeutung, bandelt es sich <loch laut Bundesgericht um einen direkt anwendbaren Rechtssatz, der dem Kind unabhiingig von einer gesetzlichen Regelung ein Recht auf Anbô- rung in allen Verfahren, die es unmittelbar berühren, vermittelt.2

ln der Diskussion im Rahmen des Arbeitskreises wurde aber auch deutlich, dass begründete Zweifel an der Einschiitzung bestehen, dass die bestehende gesetz- liche Verankerung der Partizipationsrechte des Kindes bereits genügt. Das in ver- schiedenen Untersuchungen festgesteilte Vollzugsdefizit im Bereich der Anhô- rungs- und Vertretungsrechte (vgl. unten These 2) kônnte niimlich auch damit zusammenhiingen, dass die geltenden Normen zu wenig bestimmt sind. Dies ist besonders zutreffend für das Recht des Kindes auf eine unabhiingige Vertretung im Kindesschutzverfahren. Zwar verpflichtet Art. 392 Ziff. 2 ZGB die Vormund- schaftsbehôrden, dem Kind einen Verfahrensbeistand beizugeben, wenn zwischen dem Kind und den Eltern ais gesetzlichen Vertretem des Kindes ein lnteressenkon- flikt besteht. ln sehr vielen Kindesschutzverfabren muss denn auch von einem solchen Tnteressenkonflikt ausgegangen werden, der zum Beispiel in einem Eltem-

VAN BUEREN, The international law on the rights of the child, Dordrecht 1995, 137.

2 BGE 124 TTT 90, 92; 12411361, 368.

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Das Kind ais Rechtssubjekt im zivilrechtlichen Kindesschutz

konflikt um das Kind oder in einem Autonomiekonflikt zwischen Kind und Eltem begründet sein kann. 3 In der Praxis werden jedoch in Kindesschutzverfahren kaum unabhangige Kindesvertretungen eingesetzt. In der Lehre wird deshalb schon lange eine klarere gesetzliche Regelung verlangt.4 Der Standerat hat sich überzeugen lassen und eine Bestimmung zur Vertretung des Kindes im Kindesschutzverfahren nach dem Vorbild der Verfahrensbeistandschaft fur das Kind im Scbeidungsver- fahren (Art. 146 ZGB) in die laufende Revision des Vormundschaftsrechts einge- fügt.5 Bereits verabschiedet wurden zudem gewichtige Verbesserungen im Bereicb der Verfahren nach Haager Kindesentführungsübereinkommen: Mit dem neuen Btmdesgesetz über internationale Kindesentführung (BG-KKE)6 wird die Einset- zung eîner eigenen Kindesvertretung îm gerîchtlîcben Rückführungsverfahren obligatorisch vorgeschrieben (Art. 9 Abs. 3 BG-KKE).7

Neben den Partizipationsrechten ist auch die Gewahrleistung von Selbstbe- stimmungsrechten des Kindes entscheidend für seine Subjektstellung. Das Schwei- zer Recht eri:iffnet dem gri:isseren Kind, das die recbtlichen Anfordemngen der so genannten Urteilsfiihîgkeit erfüllt, eînen bedeutenden Bereicb der Selbstbestim- mung. Lange vor der Ratifikation der UN-Kinderrechtskonvention vermittelte das Zivilgesetzbuch von 1907/12 den urteilsfiihigen Unmündîgen das Recht, ohne Zustimmung der Eltem Rechte auszuüben, die ihnen um ihrer Personlichkeit wil- len zustehen (Art. 19 Abs. 2 ZGB). Diese Bestimrnung wurde mit der Totalrevision der Bundesverfassung im Jahr 2000 in den Verfassungsrang gehoben (Art. 11 Abs. 2 BV). Die Frage der Selbstbestimmung ist insbesondere im Kontext von medizinischen Behandlungen von grosser Relevanz. So sind urteilsfahige Unmün- dige zustandig fur die Einwilligung in medizinische Behandlungen, eine Zustim- mung der Eltem oder einer eventuell für das Kind eingesetzten Beîsfandin îst nîcht notwendig.8 lm Bereich der Verfahrensrechte des Kindes ist Art. 19 Abs. 2 ZGB

3 Vgl. COTTIER, Verfahrensvertretung des Kindes im Familienrecht der Schweiz: aktuelle Rechts- lage und Reformbedarf, in: BLUMICOTI!ER/MJGL!AZZA, Anwalt des Kindes. Ein europiiischer Vergleich zum Recht des Kindes auf eigene Vertretung in behürdlichen und gerichtlichen Verfahren (Fachtagung vom 15. November 2007), Bern 2008, 126, 140 ff.

4 Vgl. HEGNAUER, Der Anwalt des Kindes,

zvw

1994, 181, 187; BlDERBOST, (Fn. 11), 460 ff.;

FamK.omm Scheidung/SCHWE!GHAUSER, Art. 146 ZGB, N 14; BLUM/COTTIER, Beistand fur Kinder: Die Schweiz im Hintertreffen, pliidoyer 5/06, 28 ff.

5 Amt!Bull. SR 2007, 829, 842. Die Rechtskommission des Nationalrats hat am 25. April 2008 dem Vorschlag des Stiinderats zugestimmt.

6 BBI 2008, 33 ff., SR 211.222.32.

7 Zudem kann gemiiss Art. 6 Abs. 2 BG-KKE das zustiindige Gericht auf Antrag der Zentralcn Behôrde oder einer der Parteien die Vertretung des Kindes auch bereits zum Zeitpunkt anordnen, zu dem das Rückführungsgesuch bei der Zentralen Behôrde eingegangen, aber das Gesuch beim Gericht noch nicht eingereicht worden ist.

8 Vgl. für eine vertiefte Auseinandersetzung MICHEL, Zwischen Autonomie und fürsorglicher Fremdbcstinunung: Partizipationsrcchte von Kindem und Jugendlichen im Bereich medizini-

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Michelle Cottier/ Christoph Hafeli

insofem von Bedeutung, ais laut der bundesgerichtlichen Rechtsprechung urteils- fühige Minderjahrige im Bereich der Rechte, die ihnen um ihrer Personlichkeit zustehen, selbstandig oder durch die Vertreterin ihrer Wahl handeln, und insbe- sondere selbstandig Beschwerde gegen Entscheide betreffend Obhut oder Besuchs- recht führen konnen.9

Zusammenfassend lasst sich festhalten, dass das geltende Recht dem Kind weit re.ichende Partizipations- und Selbstbestimmungsrechte verleiht, die <lem kinderrechtlichen Postulat der Anerkennung seiner Subjektstellung durchaus ge- recht wcrden. Fraglich erscheint aber, ob die Bestimmtheit der bestehenden Nor- men genügt, um insbesondere die Akteure des zivilrechtlichen Kindesschutzes zu verpflichten, den Rechten des Kindes in ihrer taglichen Praxis Nachachtung zu verschaffen. lm Rahrnen der nachfolgenden Thesen soli diesem vermuteten Voll- zugsdefizit nachgegangen werden.

III. These 2: Vollzugsdefizit

These 2: Es herrscht, wie im Kindesschutz allgemein, auch in Bezug auf die Wahrnehmung des Kindes als Rechtssubjekt ein Vollzugsdefizit

bei den Administrativbehorden (Vormundschafsbehorden) bei den Gerichten aller Jnstanzen

bei den Mandatstriigerinnen und Mandatstriigern von Kindesschutzmass- nahmen.

Dieses Vollzugsdefizit manifestiert sich in verschiedener Hinsicht:

Die anordnenden Instanzen, in der grossen Mehrzahl der Falle (administrati- ve) Vormundschaftsbeh6rden, schopfen die Moglichkeiten des lnstrumentariums nur unvollstandig aus. Ein Blick in die Statistik der Konferenz der kantonalen Vormundschaftsbehorden zeigt, dass von den am 31. Dezember 2006 gesamt- schweizerisch bestehenden 40878 Kindesschutzmassnahmen 2247 l oder 55% auf Beistandschaften nach Art. 308 ZGB entfallen. 10 Die Statistik differenziert leider nicht nach den drei in Art. 308 ZGB moglichen, unterschiedlich massgeschneider- ten, dem Einzelfall optimal angepassten Haupt- und zahlreichen Untervarianten11 dieser so beliebten Erziehungsbeistandschaft. Aufgrund von Erfahrungen im Rah- men von langjahrigen Weiterbildungsveranstaltungen für vormundschaftliche Or-

scher Heilbehandlungen, FamPra.ch 2008, 243 ff.; vgl. nun auch OGer LU, 3.12.2007, FamPra.ch 2008, 445 ff.; BGer, 2.4.2008, 2C_5/2008 (zur Publikation vorgcschen).

9 Vgl. BGer, 5P.41/2006, 17.2.2006, E 1.3 (betreffend Obhut); BGE 120 la 369, 371 (betreffend zwangsweise Durchsetzung eines Besuchsrechts).

10 VBK Statistik, ZVW 2007, 339.

11 Vgl. dazu ausführlich BrDERBOST, Die Erziehungsbeistandschaft (Art. 308 ZGB), Freiburg 1996, namentlich 221-226; HAFELI, Wegleitung fur vonnundschaftliche Organe, 4. Aufl., Zürich 2005, 137 ff.

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Das Kind ais Rechtssubjekt im zivilrechtlichen Kindesschutz

gane und in zahlreichen Rechts- und Organisationsberatungen von Behürden und Sozialdiensten bestehen jedoch deutliche Hinweise, dass die Mehrzahl dieser Bei- standschaften solche nach Art. 308 Abs. 1 ZGB mit dem ,,Pauschalauftrag", die Eltern in ihrer Sorge um das Kind mit Rat und Tat zu unterstützen, sind. Diese elternzentrierte Formulierung triigt tendenziell dazu bei, das Kind ais Objekt elter- licher Erziehungsbemühungen zu betrachten. Die erstinstanzlichen Gerichte ord- nen wohl am haufigsten Beistandschaften nach Art. 308 Abs. 2 ZGB zur Überwa- chung des personlichen Verkehrs an. Die Besuchsrechtskonflikte, die zur Anord- nung einer solchen Beistandschaft führen, sind in der grossen Mehrzahl der Falle Paarkonflikte, in denen das Kind nur allzu leicht zum ,,Pfand" degradiert und als Objekt im elterlichen Streit instrumentalisiert wird. Dies umso mehr ais auch dem urteilsfâhigen Kind nach wie vor kein Selbstbestimmungsrecht in der Gestaltung seiner Beziehungen zum Eltemteil, mit dem es nicht zusammen lebt, zuerkannt wird. Die Beistandschaft nach Art. 308 Abs. 2 ZGB mit dem offenen Katalog von môglichen Aufgaben liesse es sehr wohl zu, das Kind stiirker ais Subjekt ins Zent- rum zu rücken.

Mandatstragerinnen und Mandatstriiger sind oft relativ ,,hilflos" im Umgang mit dem allgemeinen Auftrag, die Eltem in ihrer Erziehungsaufgabe zu unterstüt- zen und beklagen sich über die fehlenden Kompetenzen.

Es gibt mehrere Indikatoren für eine absolut ungenügende Wahrnehmung des Kindes ais Rechtssubjekt:

Acht Jahre nach lnkrafttreten des revidierten Scheidungsrechts, das in Art. 144 Abs. 2 ZGB und in Art. 314 Ziff. l ZGB Gerichte und Vormundschafts- behêirden anweist, Kinder vor Anordnungen, die sie betreffen und vor dem Erlass von Kindesschutzmassnahrnen anzuhêiren, beachten Gerichte und Vor- mundschaftsbehôrden diese Bestimmung nach wie vor nur in sehr lückenhafter Weise.12 Nach jahrelangen Kontroversen und entsprechender Rechtsun- sicherheit bezüglich Mindestalter, in dem das Kind angeh6rt werden soll, bat das Bundesgericht in einem wegweisenden Entscheid die Schwelle im Sinn einer Richtlinie auf den Zeitpunkt des vollendeten sechsten Altersjahres festgelegt.13 In einer Reihe von weiteren Urteilen hat sich das Bundesgericht mit den verschiedenen Aspekten der Kindesanhôrung auseinandergesetzt und auch klargestellt, welche wichtigen Gründe rechtfertigen, von einer Anhôrung

12 ANDREA BüCHLER und HEIDI SIMON! haben in ihrer Studie ,,Kinder und Scheidung. Der Einfluss der Rechtspraxis auf familiale Übergiinge" in einer Analyse von 567 Scheidungsakten aus den Kantonen ZH, BS, BL aus den Jahren 2002 und 2003 festgestellt, dass nur gerade jedes zehnte Kind angehort wird. Zur Praxis der Anhorung durch die Vonnundschaftsbehorde vgl.

COTIIER, Subjekt oder Objekt? Die Partizipation von Kindem in Jugendstraf- und zivil- rechtlichen Kindesschutzverfahren, Bern 2006, 72 ff.

13 BGE 131 Ill 553, E. 1.2.3.

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Michelle Cottier/ Christoph Hiifeli

abzusehen.14 Das wissenschaftliche Schrifttum hat sich ebenfalls eingehend mit der Anhôrung befasst.15

Noch schlimmer ist es um die Vertretung des Kindes in eherechtlichen Verfahren bestellt. Art. 146 ZGB beliisst zwar den Gerichten einen grossen Ermessensspielraum bei der Anordnung einer Beistandschaft. Dennoch wird der Wille des Gesetzgebers nicht wirklich emst genommen, wenn im Jahre 2006 bei ca. 10'000 Scbeidungen mit ca. 16'000 betroffenen Kindem gesamtschweizerisch lediglich 174 Kindesvertretungen angeordnet wurden.16 Eine grundlegende Auseinandersetzung mit dem Institut der Kindesvertretung im Scheidungsverfahren erfolgte bereits vor 10 Jahren.17 lm Miirz 2008 hat an der Hocbschule Luzem Soziale Arbeit ein CAS (Certificate of Advanced Studies) von 24 Tagen zum Thema Kindesvertretung begonnen. Erfreu- licherweise haben sich 30 Sozialarbeiter/innen und Recbtsanwiiltinnen/Rechts- anwiilte für diesen Pilotkurs eingeschrieben.

Ein weiteres dokumentiertes Merkmal des zivilrechtlichen Kindesschutzes ist die Tatsache, dass die zivilrechtlichen Kindesschutzorgane im Gegensatz zu den Akteuren der Jugendstrafrechtsptlege dazu neigen, mit Eltem und anderen erwachsenen Bezugspersonen von K.indem und Jugendlichen zu interagieren und Kinder und Jugendliche ais direkte Tnteraktionspartner zu vemach- liissigen.18

fV. These 3: Vielfiiltige Hintergründe

These 3: Die Gründe für das festgestellte Vollzugsdefizit sind vie/faltig. Die allmiihliche Verbesserung der Situation erfordert Massnahmen auf verschie- denen Ebenen.

Es herrscht ein ausgesprochenes Spannungsfeld zwischen der Verpflich- tung des Staates, die Kinderrechte zu wahren und der tief verankerten Überzeugung und rechtlich abgesicherten Maxime, dass primiir die Eltern für eine gedeihliche Entwicklung des Kindes verantwortlich sind und dass der Staat sich nicht ohne Not, d.h. ohne Vorliegen entsprechend gesetzlich verankerter Voraussetzungen und unter Beachtung der Subsidiaritfü und

14 Letztmals in BOE 133 Lli 553 (Urteil 5C.316/2006 vom 5. Juli 2007); vgl. dazu BIDERBOST, ,,Anhôrung um der Anhôrung willen"?, Juslctter 31. Miirz 2008.

15 Vgl. namentlich ScHûn, Die Anhônmg des Kindes im Scheidungsverfahren untcr besonderer Berücksichtigung des psychologischen Aspekts, Zürich 2002.

16 Bundesamt für Statistik; VBK Statistik, ZYW 6/2007, 337.

17 Vgl. SCHWEIGHAUSER, Die Vertretung der Kindesinteresscn im Scheidungsverfahren - Anwalt des Kindes, Diss. Basel/Genf/Münchcn 1998.

18 Vgl. den Vergleich bei COHIER (Fn.12), VI, 6, 155 ff.

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Das Kind als Rechtssubjekt im zivilrechtlichen Kindesschutz

des Verhaltnismiissigkeitsprinzips in die Privatsphiire der Familie ein- mischt.19

Abgesehcn davon dürfte auch das Verhiiltnis zwischen Erwachsenen und Kindem in unserer Gesellschaft zu diesem Vollzugsschwierigkeiten bei- tragen: ,,Das Verstèindnis der Kindheit ais eine eigenstèindige Lebenspha- se, die fiir die Entf'altung der Personlichkeit von grosser Tragweite ist, und das Postulat, dass diese allen Kindern ungeachtet des Geschlechtes und der Herkunft moglich sein soli, ist im individuel/en und kollektiven Be- wusstsein der Erwachsenen noch ungeniigend verankert. Das Verhèiltnis zwischen Kindern und Erwachsenen ist gepriigt durch tiefgreifende Ambi- valenzen ". 20

Diese Sicht von Kindheit findet auch im Verstiindnis des zivilrechtlichen Kindesschutzes mit den beiden zentralen Begriffen Kindeswoh/ und Ge- jàhrdung seinen Niedcrschlag. ln Lehre, Rechtsprechung und in der zivil- rechtlichen Kindesschutzpraxis werden diese Begriffe einseitig ,,eltern- zentriert" ausgelegt, und das Kind wird als Objekt der Fürsorge betrachtet und es wird seine Rolle ais eigenstiindiges Rechtssubjekt vemachliissigt.21 Dies scheint auch aus dem folgenden Befund einer Aktenanalyse im Rah- men eines Nationalfondsprojektes der Hochschule Luzem Soziale Arbeit und der Universitiit Genfhervorzugehen:

In 160 Dossiers von zivilrechtlichen Kindesschutzmassnahmen der Deutschschweiz und Westschweiz wurden die folgenden ,,klassischen"

Gefâhrdungslagen ais Hauptgrund für die Anordnung von Kindesschutz- massnahmen identifiziert:

Erwachsenenkonflikte 71 %

Vernachliissigung 15%

Korperliche Misshandlung 6%

Autonomiekonflikte von Jugendlichen

(Auseinandersetzung mit den Eltem in Pubertiit/Adoleszenz) 5%.22 Auch bei den Kindesschutzorganen (Kindesschutzmassnahmen anordnen- de Gerichte und vormundschaftliche Behorden sowie Mandatstriigerinnen

19 Art. 8 EMR.K, Art. 5 UN-KRK, Art. 13 BV. Die Schweiz hat bei der Ratifikation der Kinder- rechtskonvention in Bezug auf Art. 5 UN-KRK sogar cinen Vorbehalt mit folgendem Wortlaut angebracht: ,,Die schweizerische Gcsetzebung über die elterliehe Sorge bleibt vorbehalten" (AS 1998, 2053). Dieser Yorbehalt wurde allerdings mit Wirkung auf den 8. April 2004 zu- rüekgezogcn (AS 2004, 3877).

20 EHRENZELLER, St. Galler Kornrn. zu Art. 11 BV.

21 Ygl. die Belege bei COTTfER (Fn. 12), passim.

22 HAFELlfSTETTLER/VOLL, Zivilreehtlicher Kindesschutz - Normen, Prozesse, Resultate, NFP 52 Kindheit, Jugend und Generationcnverhaltnisse, Sehlussberieht zu Handen des SNF, 2007 (Publikation in Yorbcreitung).

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Michelle Cottier/ Christoph Hiifeli

und Mandatstrager) lassen sich Gründe fur dieses Vollzugsdefizit finden:

Es fehlt insbesondere den Miliz- und Laienbehërden, aber z.T. auch den Professionellen der Sozialarbeit, die mit der Führung von Kindesschutz- mandaten beauftragt sind, an genügenden entwicklungspsychologischen und anthropologischen Kenntnissen sowie an fundierten Kenntnissen über Kinderrechte. Die meisten Akteure verfugen über ein ungenügendes me- thodisches Rüstzeug für eine alters- und entwicklungsgerechte Gestaltung des Interaktionsgeschehens mit Kindern. Den professionellen Mandatstra- gerinnen und Mandatstragern von Kindesschutzmassnahmen fehlt zudem haufig auch die erforderliche Zeit, um Kinder und Jugendliche in adaqua- ter Weise in ihre Aktivitiiten einzubeziehen.

V. Postulate

Zum Ende des Arbeitskreises wurde eine Reihe von Postulaten zur Diskussion gestellt, die zur Überwindung des Vollzugsdefizits irn Bereich der Kinder- rechte beitragen kënnten.

Ver.fahren und Vollzug im Kindesschutzrecht tragen dazu bei, dass Kinder zu selbstbestimmten Menschen heranwachsen: Das erste Postulat legt allen Akteuren des Kindesschutzes nahe, die Entwicklung der betroffenen Kin- der und Jugendlichen zu selbstbestimmten Menschen zu einem ihrer Leit- linien zu erheben. Diese Orientierung an der Selbstbestimmung steht in ei- nem Spannungsverhiiltnis zum oben erwahnten Bild des geführdeten, zu schützenden Kindes, das dem Kindesschutzrecht zugrunde liegt, und muss deshalb immer wieder gegen die Tendenz, das Kind zum Objekt zu ma- chen, verteidigt werden. Zudem sind Kinder auf ihrem Weg zu einem selbstbestimmten Leben gleichzeitig immer auch abhangig von erwachse- nen Bezugspersonen, es besteht also eine Spannung zwischen Selbstbe- stirnmung und Verwiesenheit.23

Die Umsetzung der Kinderrechte erjolgt altersgerecht: Das zweite Postulat soli die Akteure des Kindesschutzes auffordem, sich Gedanken dazu zu machen, wie Partizipation fur Kinder verschiedener Altersgruppen ausse- hen kônnte. Die Richtlinien des Bundesgerichtes, das die Anhôrung bei ur- teilsunfühigen Kindem nur ais Mittel der Sachverhaltsfeststellung betrach- tet und erst dem urteilsfàhigen Kind die Anhônmg ais persônliches Mit- wirkungsrecht zugesteht, sind insofem noch unbefriedigend.24 Auch bei

23 Vgl. SCHULZE, Das advokatorische Dilemma der Kindesinteressenvertretung - cin dreidimen- sionales Handlungsmodell, in: BLUM/COTTIER/MIGLIAZZA, (Fn. 3), 85 ff.

24 Vgl. auch BUCHER, Besprechung von BGcr, UrteiJ vom 13.2.2007, SP.3/2007 (BOE 133 III 146), AJP 2007, 521, 527.

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Das Kind als Rechtssubjekt im zivilrechtlichen Kindesschutz

JUngcrcn Kindem bat Partizipation einen Bezug zur Persèinlichkeit und kann einen positiven Einfluss auf die Entwicklung haben. Die Herausfor- derung an die Praxis besteht aber darin, das Kind altersgerecht (und den individucllen Fahigkeiten entsprechend) einzubeziehen und dabei die Grenze zur Überforderung des Kindes nicht zu überschreiten.

- Die Umsetzung der Kinderrechte wird in jeder Behorde institution el/ ver- ankert (z.B. in Richtlinien) und regelmiissig übe1priift: Das dritte Postulat empfiehlt, dass Behèirden für die Verankerung der Partizipationsrechte des Kindes auf der institutionellen Ebene sorgen, z.B. im Rahmen von intern bekannt gemachten Richtlinien. Diese sollten zum Beispiel definieren, in welcben Momenten des Kindesschutzverfahrens mit dem Kind alleine oder mit den Eltcm das Gesprach geführt werden sollte und zu welchen Gespra- chen das Kind anwesend sein muss (z.B. ,,Standortbestimmungen" in einer Institution). Sie sollten Details wie die Einladung des Kindes zum Ge- sprach,25 die Gesprachsführung und die Protokollführung regeln und fest- legen, wann und wie das Kind über den Lauf des Verfahrens informiert wird. Eine regelmassige Überprüfung irn Rahmen eines ,,Partizipations- monitorings" sollte sicherstellen, dass die Richtlinien umgesetzt werden.

Alle Akteure des Kindesschutzes erhalten eine angemessene rechtliche und psychologische Ausbildung: Das vierte Postulat geht von der oben ge- machten Feststellung aus, dass wahrscheinlich auch die ungenügende Ausbildung insbesondere der Laienbehèirden fur den oftmals fehlenden Berücksichtigung der Stellung des Kindes ais Rechtssubjekt verantwort- lich ist. Entsprechend sollten alle Akteure des Kindesschutzes in Bezug auf rechtlicbe und entwicklungspsychologische Aspekte der Partizipations- rechte des Kindes eine angemessene Ausbildung erhalten.

- Interdiszipliniir zusammengesetzte Familiengerichte sind zustiindigfiir aile kindes-, ehe- und partnerschafisrechtlichen Veifahren sowie fiir den ge- samten Kindes- und Erwachsenenschutz: Das fünfte Postulat verlasst die Ebene der Praxis und richtet sich an die Politik. Diese ist aufgefordert, für eine noch weiter gebende Professionalisierung nicht nur im Bereich des zivilrechtlichen Kindesschutzes sondem im gesamten Familienrecbt zu sorgen. Die im Rahmen der Revision des Vonnundschaftsrechts (neu Kin- des- und Erwacbsenenschutzrecht) vorgesehene Vorschrift an die Kantone,

25 Die Forschung zeigt, dass die Einladungsform für die Wahmehmung von Anhéirungsrechten durch das Kind entscheidend ist: Kinder verzichten am wenigsten haufig auf die Anhéirung, wenn sie mit der Angabe eincs bestimmten Termins dazu eingeladen werden und erst anlasslich dicscs Tennins auf die Méiglichkcit des Verzichts aufmerksam gemacht werden. Sehr haufig verzichtcn Kinder aber, wenn der Einladung ein Forrnular beigegeben wird, auf dem der Verzicht auf die Anhéirung schriftlich erfolgen kann, vgl. SCHÜlï (Fn. 15), 75 ff.

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Michelle Cottier/ Christoph Hiifelj

professionelle Fachbehürden einzusetzen,26 bringt insofem eine gewisse Verbesserung, gebt aber noch zu wenig weit. Gerade in kleineren Kanto- nen konnen nur interdiszipliniir zusammengesetzte, professionelle Famili- engerichte, die für aile kindes-, ehe-und partnerschaftsrechtlichen Verfah- ren wie auch für den gesamten Kindes-und Erwachsenenschutz zustiindig sind,27 die notwendigen Fachkompetenzen sicherstellen und bündeln, die für die Losung komplexer Farnilienkonflikte notwendig sind.

Zusammenfassung: In den letzten Jahren hat sich im Kindesrecht die Sichtweise auf das Kind veriindert: Es soli stiirker ais Subjekt mit eigenen Verfahrens- und Selbstbestimmungsrechten wahrgenommen werden und nicht ais blosses Objekt staatlicher Schutzbemühungen. Anhand der These, dass die rechtlichen Grund- lagen dem Kind die ihm zustehende Stellung ais Rechtssubjekt gewii.hrleisten, werden im vorliegenden Beitrag die Mange/ auf der Ebene des Vollzugs der Verfàhrens- und Selbstbestimmungsrechte des Kindes und die moglichen Gründe dafii.r diskutiert. Darüber hinaus werden verschiedene wünschbare Verbesserun- gen in der Kindesschutzpraxis aiifgezeigt.

26 Vgl. Botschafl zur Ànderung des Schweizcrischen Zivilgesetzbuchcs (Erwachsenenschulz, Per- sonenrecht und Kindesrccht) vom 28. Juni 2006, BBI 2006, 700 l ff.

27 Vgl. SCHWENZER, Brauch! die Schweiz Familiengerichte?, in: VETTRRLI (Hrsg.), Auf <lem Weg zum Familiengericht, Bern 2004, 89, 102 f.; MEIER, Compétences matérielles du juge matrimonial et des autorités de tutelle - Considérations théoriques et quelques cas pratiques,

zvw 2007' 109 ff.

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