Die natürliche Deduktion
Einführungskurs Logik, Universität Bern, Frühlingssemester 2008
handout zur Sitzung vom 1.4.08
Philipp Keller
Punkte vom letzten Kurs
1. Eine atomare aussagenlogische Interpretation weist jeder atomaren Formel einen Wahrheits- wert zu. Für jede atomare aussagenlogische Interpretation definieren wir eine aussagenlogische Interpretation, die allen Formeln der Sprache
philipp.keller@lettres.unige.ch
einen Wahrheitswert zuweist.
2. Eine solche aussagenlogische Interpretation entspricht einer ‘logischen Möglichkeit’ bzw. einer Zeile in einer Wahrheitswerttabelle.
3. Die semantischen Begriffe “Tautologie”,“Kontradiktion”,“Erfüllbarkeit” und “logische Folge- rung” können mittels des Begriffs “aussagenlogische Interpretation” definiert werden.
4. Eine Menge von Formeln ist erfüllbar gdw. wenn es eine Interpretation gibt, die alle Formeln dieser Menge wahr macht.
5. Ein syntaktischer Kalkül (ein axiomatischer Kalkül, ein Kalkül der Baummethode oder der natürlichen Deduktion) wird “korrekt” genannt gdw. alle seine Theoreme Tautologien sind.
6. Ein solcher Kalkül wird “vollständig” genannt gdw. sich alle Tautologien in ihm ableiten lassen.
7. Die Baummethode ist ein Konsistenztest: Sie erlaubt uns festzustellen, ob eine Menge von Sätzen konsistent ist. Ist die entsprechende Menge konsistent, erlaubt sie uns auch, eine Inter- pretation zu finden, die alle Sätze dieser Menge wahr macht.
8. Eine Formel
L
mit der Baummethode beweisen heisst zu zeigen, dass sich alle Zweige des Baumes für
p¬φφ schliessen.
9. Weil die Baummethode korrekt ist, erlaubt sie uns ebenfalls festzustellen, ob eine Formel q
eine Tautologie ist: ist eine Tautologie gdw. sich alle Zweige des Baumes für
φ
φ p¬φ schliessen.
10. Die Baummethode erlaubt es auch, einen Schluss auf seine Gültigkeit zu überprüfen: Wir über- prüfen dazu, ob die entsprechende Implikation eine Tautologie ist.
Annahmen
In einem axiomatischen Kalkül beweisen wir, indem wir die richtigen Substitutionsinstanzen von Axiomen bilden und dann die Schlussregeln in der richtigen Reihenfolge darauf anwenden. Ist unsere Schlussregel der Modus Ponens
q
, reduzieren wir dabei die Komplexität der Formeln.
Bei der Baummethode gehen wir umgekehrt vor: Indem wir eine Interpretation suchen, die die Aus- gangsformel wahr macht, lösen wir diese sukzessive in ihre Teile auf.
Die Schlussform derreductio ad absurdumentspricht keinem dieser Modelle, weil sie auf Annahmen basiert. In der natürlichen Sprache ist eine Annahme die Äusserung eines Satzes ohne assertorische Kraft (Frege würde sagen: ohne Behauptungsstrich). Die Methode der natürlichen Deduktion ist dadurch charakterisiert, dass wir in ihr Annahmen machen können.
Beispiel einerreductio:
1
MP
` p→ Prämisse
2
q
` q→ ¬ Prämisse
3
p
p `∗ Annahme
4
p
p `∗ q aus (1) und (3) mit ( )
5
MP
p `∗ ¬p aus (2) und (4) mit ( )
6
MP
` ¬p aus (3) und (5) mittels einerreductio
Beispiel eines konditionalen Beweises der Sequenz “p→q, p→(q→r),¬r` ¬ ”:
1
p
` p→ Prämisse
2
q
` p→(q→r Prämisse
3
)
` ¬ Prämisse
4
r
p `∗ Annahme
5
p
p `∗ q aus (1) und (4) mit ( )
6
MP
p `∗ q→r aus (2) und (4) mit ( )
7
MP
p `∗ r aus (5) und (6) mit ( )
8
MP
` p→r aus (4) und (7) mit ( )
9
KB
` ¬p aus (3) und (9) mit ( )
Mittels der natürlichen Deduktion beweisen wir nicht nur Theoreme (bspw. “
MT
` p∨ ¬ ”), sondern auch Sequenzen (bspw.“
p p→q, q→ ¬p` ¬ ”).
Einführungs- und Eliminationsregeln
p
` pφ→ ⊥q
` p¬φq ¬I ` p¬¬φq
` φ ¬E
` √
` φ
` pφ∧√q ∧I ` pφ∧√q
` φ ∧E ` pφ∧√q
` √ ∧E
` φ
` pφ∨√q ∨I ` √
` pφ∨√q ∨I
` p¬φq
` pφ∨√q
` √ ∨E φ `∗ φ
φ `∗ √
` pφ→√q →I
` φ
` pφ→√q
` √ →E
` p√→φq
` pφ→√q
` pφ↔√q ↔I ` pφ↔√q
` pφ→√q ↔E ` pφ↔√q
` p√→φq E
Die Regeln der natürlichen Deduktion
Die Annahme-Regel n
↔
φ `∗ Annahme
Modus ponens (modus ponendo ponens) m
φ
`pφ→√ .
. .
. . . n
q
` .
. .
. . . o
φ
`√ aus ( ) und ( ) mit (m n MP)
Modus tollens (modus tollendo tollens)
m `pφ→√
.. .
.. . n
q
`p¬√ ..
.
.. . o
q
`p¬φq aus (m) und ( ) mit (n ) Konditionaler Beweis
m
MT
φ `∗ Annahme
. ..
. .. n
φ
φ `∗
. . .
. . . o
√
`pφ→√q aus (m) und ( ) mit (n ) Einführung und Elimination der doppelten Negation
m
KB
`p¬¬φ .
..
. .. n
q
`φ aus ( ) mit (m )
m
DN
` ..
.
.. . n
φ
`p¬¬φq aus (m) mit ( ) Reductio ad absurdum
m
DN
φ `∗ Annahme
. ..
. .. n
φ
φ `∗
. ..
. .. o
√
φ `∗ p¬√
. ..
. .. p
q
`p¬φq aus (m),( ) und ( ) mit (n o RAA)
Einführung der Konjunktion
m `
.. .
.. . n
φ
` ..
.
.. . o
√
`pφ∧√q aus (m) und ( ) mit (n I) Elimination der Konjunktion
m
∧
`pφ∧√ .
..
. .. n
q
`φ aus ( ) mit (m E)
m
∧
`pφ∧√ ..
.
.. . n
q
`√ aus ( ) mit (m E)
Einführung der materialen Äquivalenz m
∧
`pφ→√ ..
.
.. . n
q
`p√→φ .
..
. .. o
q
`pφ↔√q aus (m) und ( ) mit (n I) Elimination der materialen Äquivalenz
m
↔
`pφ↔√ .
..
. .. n
q
`pφ→√q aus (m) mit ( E)
m
↔
`pφ↔√ ..
.
.. . n
q
`p√→φq aus (m) mit (↔E)
Einführung der Disjunktion
m `
.. .
.. . n
φ
`pφ∨√q aus (m) mit ( I) m
∨
` ..
.
.. . n
√
`pφ∨√q aus (m) mit ( I) Elimination der Disjunktion
m
∨
`pφ∨√ ..
.
.. . n
q
φ `∗ Annahme
.. .
.. . o
φ
φ `∗
.. .
.. . p
χ
√ `∗ Annahme
. ..
. .. q
√
√ `∗
. ..
. .. r
χ
`χ aus ( ),m ( ),n ( ),o ( ) und ( ) mit (p q E)
Einige Beispiele
1.
1
∨
p∧q ` p∧ Prämisse
2
q
p∧q ` p aus (1) mit ( E)
3
∧
p∧q ` q aus (1) mit ( E)
4
∧
p∧q ` q∧p aus (2) und (3) mit ( I)
2.
1
∧
p `∗ Annahme
2
p
p `∗ (1)
3
p
`p→p aus (1) und (2) mit (KB)
3.
1 p→q, q→r ` p→ Prämisse
2
q
p→q, q→r ` q→ Prämisse
3
r
p→q, q→r, p `∗ Annahme
4
p
p→q, q→r, p `∗ q aus (1) und (3) mit ( ) 5
MP p→q, q→r, p `∗ r aus (2) und (4) mit ( ) 6
MP p→q, q→r ` p→r aus (3) und (5) mit ( ) 4.
1
KB
p→ ¬q ` p→ ¬ Prämisse
2
q
p→ ¬q, p∧q `∗ p∧ Annahme
3
q
p→ ¬q, p∧q `∗ p aus (2) mit ( E)
4
∧
p→ ¬q, p∧q `∗ ¬q aus (1) und (3) mit ( )
5
MP
p→ ¬q, p∧q `∗ q aus (2) mit ( E)
6
∧
p→ ¬q ` ¬(p∧q) aus (2),(4) und (5) mit ( )
5.
1
RAA
¬(p→(p→q)) `∗ ¬(p→(p→q Annahme 2
))
¬(p→(p→q)), q `∗ Annahme
3
q
¬(p→(p→q)), q, p `∗ Annahme 4
p
¬(p→(p→q)), q, p, p `∗ Annahme 5
p
¬(p→(p→q)), q, p `∗ p→q aus (4) und (2) mit ( ) 6
KB
¬(p→(p→q)), q `∗ p→(p→q) aus (3) und (5) mit ( ) 7
KB
¬(p→(p→q)) `∗ ¬q aus (2),(1) und (6) mit ( ) 8
RAA
` ¬¬(p→(p→q)) aus (1),(2) und (7) mit ( ) 9
RAA
` p→(p→q) aus (8) mit ( ) 6.
1
DN
p∨q ` p∨ Prämisse
2
q
p∨q, p `∗ Annahme
3
p
p∨q, p `∗ q∨p aus (2) mit ( I)
4 ∨
p∨q, q `∗ Annahme
5
q
p∨q, q `∗ q∨p aus (4) mit ( I)
6 ∨
p∨q ` q∨p aus (1,2,3,4,5) mit ( E)
7.
1
∨
¬(¬p∧ ¬q) ` ¬(¬p∧ ¬q Prämisse
2
)
¬(¬p∧ ¬q),¬(p∨q) `∗ ¬(p∨q Annahme 3
)
¬(¬p∧ ¬q),¬(p∨q), p `∗ Annahme 4
p
¬(¬p∧ ¬q),¬(p∨q), p `∗ p∨q aus (3) mit ( I) 5
∨
¬(¬p∧ ¬q),¬(p∨q) `∗ ¬p aus (3),(2) und (4) mit ( ) 6
RAA
¬(¬p∧ ¬q),¬(p∨q), q `∗ Annahme 7
q
¬(¬p∧ ¬q),¬(p∨q), q `∗ p∨q aus (6) mit ( I) 8
∨
¬(¬p∧ ¬q),¬(p∨q) `∗ ¬q aus (6),(2) und (7) mit ( ) 9
RAA
¬(¬p∧ ¬q),¬(p∨q) `∗ ¬p∧ ¬q aus (5) und (8) mit ( I)
10 ∧
¬(¬p∧ ¬q) ` ¬¬(p∨q) aus (2),(1) und (9) mit ( ) 11
RAA
¬(¬p∧ ¬q) ` p∨q aus (10) mit (DN)
Zusammenfassung der Regeln
1. Annahme-Regel: Ich kann jede beliebige Annahme machen, wenn ich darüber Buch führe.
2. MP: Wenn ichpφ→√qund habe, darf ich daraus schliessen.
3.
φ √
: Wenn ich
MT pφ→√qundp¬√qhabe, darf ichp¬φ daraus schliessen.
4.
q : Wenn ich
KB angenommen habe und unter dieser Annahme auf geschlossen habe, darf ich auf
φ √
pφ→√ schliessen.
5.
q : Wenn ich
DN p¬¬φq habe, darf ich auf φschliessen; wenn ich φ habe, darf ich auf p¬¬φ schliessen.
6.
q : Wenn ich
RAA φangenommen habe und unter dieser Annahme sowohl auf√als auch aufp¬√ geschlossen habe, darf ich auf
p¬φ schliessen. q 7.
q I: Wenn ich
∧ φund√habe, darf ichpφ∧√ daraus schliessen.
8.
q E: Wenn ich
∧ pφ∧√qhabe, darf ich auf und auf schliessen.
9.
φ √
I: Wenn ich
∨ φhabe, darf ich aufpφ∨√qschliessen; wenn ich√habe, darf ich ebenfalls auf pφ∨√ schliessen.
10.
q E: Wenn ich
∨ pφ∨√qhabe und ich sowohl unter der Annahme von als auch unter der Annahme von auf geschlossen habe, darf ich auf schliessen.
11.
φ
√ χ χ
I: Wenn ich
↔ pφ→√qundp√→φqhabe, darf ich aufpφ↔√ schliessen.
12.
q E: Wenn ich
↔ pφ↔√qhabe, darf ich aufpφ→√qund aufp√→φ schliessen.
Eine Heuristik für die natürliche Deduktion
Nur zwei Regeln erlauben mir, mich einer Annahme zu entledigen, die nicht durch sie selbst eingeführt wurde: Im konditionalen Beweis
q
wird die Annahme zum Antecedens eines Konditionals, in der reductio wird sie negiert. Ein kleiner Fragekatalog:
1. Hats Formeln der Form KB RAA
pφ∧√ ? Wenn ja:(
q E).
2. Hats Formeln der Form
∧
φ,pφ→√ ? Wenn ja:(
q ).
3. Hats Formeln der Form MP
p¬√q,pφ→√ ? Wenn ja:(
q ).
4. Hat die gewünschte Konklusion die Form
MT pφ→√ ?
Wenn ja:Beweisen Sie
q
unter der Annahme und wenden Sie dann (
√ φ ) an.
5. Hat die gewünschte Konklusion die Form
pφ∧√ ? KB Wenn ja:Beweisen Sie
q und und wenden Sie dann (
φ √ I) an.
6. Hat die gewünschte Konklusion die Form ∧ p¬φ ?
Wenn ja:Beweisen Sie
q und
√ p¬√qunter der Annahmeφund wenden Sie dann ( ) an.
7. Ist die gewünschte Konklusion eine atomare Formel “
RAA
”?
Wenn ja:Beweisen Sie und
p
φ p¬√qunter der Annahme “¬p”. Wenden Sie ( ) und ( ) an.
8. Hat die gewünschte Konklusion die Form
RAA DN pφ∨√ ?Wenn jagibts drei Möglichkeiten:
(i) Beweisen Sie
q und wenden Sie (
φ I) an;
(ii) beweisen Sie
∨ und wenden Sie (
√ I) an; oder
(iii) leiten Sie aus
p¬(φ∨√) einen Widerspruch ab.∨ 9. Hats Formeln der Form
pφ∨√ ?q
Wenn ja:Beweisen Sie die gewünschte Konklusion sowohl unter der Annahme q
als auch unter der Annahme und wenden Sie dann (
φ
√ E) an.
10. Hats Formeln der Form
p¬(φ∨√) ? ∨ Wenn ja:Beweisen Sie entweder
q
oder und wenden Sie (
φ √ I) an, um einen Widerspruch zu erhalten. Wenden Sie dann
∨ an.
11. Um aus einer Formel der Form
RAAp¬(φ → √)qoder der Formp¬(φ∧√) einen Widerspruch abzuleiten, beweisen Sie
pφ→√qoderpφ∧√ . q 12. Um aus einer Formel der Form
pφ→√qeinen Widerspruch abzuleiten, beweisen Sieq , wenden Sie (
φ ) an und beweisen Sie dann einen Widerspruch zu
MP √.