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Lou Andreas-Salomé als Dichterin

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Academic year: 2021

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HAL Id: hal-02959589

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Submitted on 13 Oct 2020

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Lou Andreas-Salomé als Dichterin

Britta Benert

To cite this version:

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Lou Andreas-Salomé

Im Zwischenland

Fünf Geschichten aus dem Seelenleben

halbwüchsiger Mädchen

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Werke und Briefe von Lou Andreas-Salomé

in Einzelbänden Band 8 (Literarisches Werk Band 4) Herausgegeben in Zusammenarbeit

mit dem Lou Andreas-Salomé Archiv, Göttingen.

Ungekürzte Ausgabe nach der Erstpublikation als Novellen-sammlung 1902.

© 2013 MedienEdition Welsch

D-83373 Taching am See, Tachenseestr. 6, +49-(0)8681-471 852 info@medienedition.de, www.medienedition.de

Alle Rechte vorbehalten. ISBNs

978-3-937211-29-9 (Buch)

978-3-937211-30-6 (PDF-E-Book) 978-3-937211-31-4 (epub-E-Book) Cover-Design: Anne Wehland, Füssen

Cover-Foto: Lou Andreas-Salomés Nichten Ljubow und Ina, etwa 1905

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Inhalt Zu Lou Andreas-Salomé 2 Zur Herausgeberin 2 Editorische Notiz 6 Im Zwischenland 7 Im Zwischenland 9 Vaters Kind 89

Eine erste Erfahrung 153

Die Schwester 215

Wolga 276

Materialien 341

Frieda von Bülow: Neue Bücher (1902) 343 Eduard Platzhoff-Lejeune: Im Zwischenland (1902) 348 Dr. P. E.: Im Zwischenland (1902) 351 Karl Walcker: Notizen (1903) 353 Hermine von Hug-Hellmuth: Vom wahren Wesen

der Kinderseele (1914) 355 Siglen und Abkürzungen 367 Verzeichnis der Erstdrucke/Erläuterungen 369

Nachwort 407

Zeittafel 452

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Lou Andreas-Salomé als Dichterin1 I.

1902, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Novellenbandes »Im Zwischenland« im renommierten Cotta-Verlag, gilt Lou An-dreas-Salomé als eine erfolgreiche und anerkannte Schriftstelle-rin. Noch in Berlin wohnhaft, wo sie seit bald zwei Jahrzehnten lebt, wird sie wenig später ihrem Mann Friedrich Carl Andreas, den sie 1887 zur allgemeinen Überraschung geheiratet hatte, nach Göttingen folgen. 1902 liegt die Trennung von ihrem Ge-liebten, dem jungen Dichter Rainer Maria Rilke, gut ein Jahr zu-rück; »Loufried«, wie sie als Liebespaar ihr gemeinsam gemiete-tes Bauernhäuschen in Wolfratshausen getauft hatten, wird demnächst der Name ihrer endgültigen Bleibe am Göttinger Hainberg werden. 1902 ist Lou Andreas-Salomé weiterhin – und für viele Jahre noch – eine stetig Reisende. Paris hatte sie 1896 für mehrere Monate besucht; München, Wien, ihre Geburtsstadt St. Petersburg, gehören zu den regelmäßigen Anlaufpunkten. Russland hat die Schriftstellerin um die Jahrhundertwende, be-gleitet von Rilke, über längere Wochen bereist, wobei ihr der zweite russische Aufenthalt im Sommer 1900 zu einem spirituel-len Erlebnis wurde, das ihr, nach eigener Einschätzung, erst wirklich erlaubte, zu sich selbst zu finden.2

Wenn die Reisefreudigkeit Lou Andreas-Salomés auf ihre ge-hobene soziale Herkunft verweist, für die Mobilität traditionell charakteristisch ist, so spiegelt ihre Lebensweise gleichfalls die

1 Das Nachwort übernimmt bzw. ergänzt Thesen, die ich in einer

französischsprachigen Studie zu »Im Zwischenland« ausgeführt habe (Benert 2011).

2 Vgl. das Vorwort von Stéphane Michaud zu dem von ihm edierten Tagebuch

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neuen Möglichkeiten und Erfahrungen, die die Modernisierung generell mit sich bringt. Die Welt, in die Lou Andreas-Salomé geboren wird, ist auf rasante Weise näher zusammengerückt, Grenzen verschieben sich, das Eigene und das Fremde erhalten einen neuen Stellenwert. Entsprechend ist vor diesem Hinter-grund gesellschaftlicher Umwertungen einer der Briefe zu deu-ten, den Lou Andreas-Salomé einundzwanzigjährig von Rom aus an ihren Mentor Hendrik Gillot, Pastor in St. Petersburg, richtet. Ärgerlich und enttäuscht, dass gerade er ihre Pläne, mit denen sie ihren Freiheits- und Wissensdrang auszuleben ge-denkt, missbilligend zurückweist, formuliert sie:

»Nun schreiben Sie zwar auch: ein solches volles Sichhinge-ben an rein geistige Endziele hätten Sie immer nur als ›Übergang‹ für mich gemeint. Ja, was nennen Sie ›Über-gang‹? Wenn dahinter andere Endziele stehen sollen, sol-che, für die man das Herrlichste und Schwersterrungene auf Erden aufgeben muss, nämlich die Freiheit, dann will ich immer im Übergang stecken bleiben, denn das geb ich nicht dran. Glücklicher als ich jetzt bin, kann man bestimmt nicht werden, denn der frisch-fromm-fröhliche Krieg, der nun wohl losgehn wird, schreckt mich ja nicht, im Gegentheil, der soll nur losgehn. Wir wollen doch sehn, ob nicht die al-lermeisten sogenannten ›unübersteiglichen Schranken‹ die die Welt zieht, sich als harmlose Kreidestriche herausstel-len!« (L 78)

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Charakters gleichfalls als Echo auf ästhetische Forderungen des Zeitalters um 1900 verstehen. Dazu gehört die kämpferische Komponente, die sowohl die persönliche Position der Schreibe-rin als auch die programmatischen Rufe nach Umwandlung und Erneuerung, wie sie ab 1880 laut werden, kennzeichnet. Sie bringt die Überzeugung zum Ausdruck, die neue Zeit brauche auch eine neue Literatur. Dazu gehört unbedingt auch die Idee des Übergangs, ein Schlüsselbegriff bei Lou Andreas-Salomé, wie auch innerhalb der Moderne, gemäß ihres zeitgenössischen Verständnisses.

Die Rede vom Übergang verweist auf das Empfinden, einer Schwellensituation anzugehören, zwischen Tradition und Ver-langen nach Neuem – und dies zu einer Zeit, die sich tatsächlich durch besondere Formvarietät und Innovationswillen kenn-zeichnet, aber auch Unsicherheit, Wanken und Widersprüch-lichkeit beinhaltet.

Dass zu Lebzeiten Lou Andreas-Salomés ihr erzählerisches Werk eindeutig als repräsentativ für die literarische Moderne und ihre Charakteristika anerkannt wurde, davon zeugt Soer-gels Literaturgeschichte von 1911: Wenn hier Lou Andreas-Salo-més Vorliebe für Übergänge betont wird (»Im Übergang stellt Lou Andreas-Salomé gern die Menschen dar, im Übergang von Land zu Land, im Übergang der Lebensanschauung der alten und der neuen Zeit […] Im Übergang von sinnlicher zu geisti-ger Liebe […]«), dann handelt es sich um eine Vorliebe, die ebenso als ästhetische Option und Beitrag zu deuten ist, denn, so führt Soergel an, die Dichterin »leite […] mit ihrem leisen fei-nen Stile über […] von den Herrschaftsjahren Zolas zu den Herrschaftsjahren Nietzsches« (Soergel 1911, 315, 316).

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Anlie-gen zu lesen. Das ist ein Signal dafür, dass die gewählte Meta-pher (»Im Zwischenland«) in einer Art mise en abyme Schlüssel-begriffe der frühen Moderne beinhaltet: nämlich den der Ambi-guität und der Suche, wie eben auch den des Überganges. Eine kontextualisierte Lektüre von »Im Zwischenland« könnte so einen prägnanten Beweis dafür darstellen, dass Lou Andreas-Salomé tatsächlich als eine vollgültige Dichterin anzusehen ist, die mit ihrem schriftstellerischen Werk einen Beitrag zur He-rausbildung der Moderne und ihrer spezifischen Fragestellun-gen geleistet hat.

II.

Endgültig schriftstellerisch angekommen war Lou Andreas-Sa-lomé wohl seit ihrem Erfolgsbuch »Ruth« aus dem Jahr 1895; je-denfalls ist der junge Rilke, nachdem er sich 1897 brieflich an Lou Andreas-Salomé gewendet hat, stolz, seiner Mutter mittei-len zu können, die »berühmte Schriftstellerin« kennengelernt zu haben (Michaud 2000, 323).

Noch unter einem Pseudonym, hatte Lou Andreas-Salomé 1885 ihr Erstlingswerk »Im Kampf um Gott« herausgebracht – ein brillianter Beginn. Begrüßt von führenden Persönlichkeiten der literarischen Moderne wie den Brüdern Hart und Fritz Mauthner hatte Lou Andreas-Salomé damit ausreichend Aner-kennung erhalten (Michaud 2000b, 86), um von nun ab dezidiert jenem Ziel nachzugehen, das sie schon vor ihrer Ankunft 1881 zu Studienzwecken in Zürich vor Augen hat, nämlich als Schriftstellerin ihr Leben zu leben.3

3 Dies ist insbesondere zwei Briefen zu entnehmen, die die junge Lou von Salomé

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Eine weitere Publikation Lou Andreas-Salomés ist »Friedrich Nietzsche in seinen Werken« aus dem Jahr 18944. Sie fußt auf

ih-rer persönlichen Bekanntschaft mit dem Philosophen, die die posthume Rezeption von Lou Andreas-Salomés schöpferischer Identität deutlich behinderte.

Die Schriftstellerin ist nach ihrem Tod für lange Zeit praktisch ausschließlich in ihrer Beziehung zu Nietzsche, Rilke und Freud wahrgenommen worden, mehr Objekt als Subjekt. Aus zeitge-nössischer Sicht hingegen trug das Buch über Nietzsche ebenso wie das zwei Jahre zuvor veröffentlichte über Ibsen5

entschie-den dazu bei, ihr einen Platz in der literarischen Szene ihrer Zeit zu sichern. In beiden Fällen, mit ihrem Nietzsche- ebenso wie mit ihrem Ibsen-Buch, hatte sie ein feines Gespür für die heraus-ragende Bedeutung der beiden damals noch unbekannten Geis-tesgrößen aufgezeigt und in beiden Fällen leistete sie zudem Pi-onierarbeit, die damals vielfach anerkannt war.

Es folgt der schon erwähnte Roman »Ruth« (1895), der mit über zehn Auflagen zu ihrem meist gelesenen Buch avanciert6.

»Im Zwischenland« erscheint, nachdem sie in den Jahren 1898 bis 1901 in fast jährlichem Rhythmus die Romane und Erzählun-gen »Aus fremder Seele«, »Fenitschka«, »Eine Ausschweifung«, »Ma« sowie den Novellenzyklus »Menschenkinder« herausge-bracht hatte.

Zeitlich nah aufgrund ihrer Entstehungszeit stehen der Veröf-fentlichung des »Zwischenlandes« auch die beiden Romane »Das Haus« und »Ródinka«, die allerdings erst in den

zwanzi-4 Erschienen bei Carl Konegen in Wien. Wie so oft hatte Lou Andreas-Salomé Teile

dieses Buches in Zeitschriften vorabgedruckt (vgl. AuE 2).

5 »Henrik Ibsens Frauen-Gestalten«, Berlin, Hugo Bloch, 1892; neu herausgegeben

von Cornelia Pechota 2012.

6 Siehe das Nachwort von Michaela Wiesner-Bangard in der Neuauflage des

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ger Jahren erscheinen.7 Mit Fertigstellung dieser drei Werke –

»Im Zwischenland«, »Das Haus«, »Ródinka« – endet Lou An-dreas-Salomés intensives und regelmäßiges Schaffen im erzäh-lerischen Bereich. Doch gibt sie auch nach ihrer Begegnung mit Freud 1911 ihre belletristische Betätigung niemals völlig auf8. III.

Die gesellschaftlichen Umwälzungen, die die Modernisierung mit sich brachte, schaffen völlig neue Bedingungen auf dem lite-rarischen Markt. Wer sich geschickt verhält, das heißt Strategie-vermögen zeigt, kann dank des drucktechnischen Fortschritts und den ökonomischen Folgen der Reichsgründung mit Schrift-stellerei sein Brot verdienen9. Zurzeit von Lou Andreas-Salomés

Geburt lag die durchschnittliche Auflagenhöhe noch bei 700 bis 800 Exemplaren, die größtenteils über Leihbibliotheken zur Ver-fügung standen. Erst nach der Jahrhundertwende beginnen die Auflagenhöhen rapide zu steigen: So erscheint z. B. Heinrich

7 »Ródinka«, das Anna Freud gewidmet ist (»An Anna Freud, ihr zu erzählen von

dem, was ich am tiefsten geliebt habe«), ist dem »Zwischenland« auch inhaltlich verbunden, denn der Roman lässt Musja und ihre Brüder Boris und Michael wie-deraufleben.

8 Zu erwähnen ist hier insbesondere ihr letztes großes Erzählwerk, die Trilogie

»Jutta«, deren erster Teil unter dem Titel »Geschwister« 1921 und deren zweiter Teil 1981 in gekürzter Form erschien. Die Trilogie ist zurzeit allein in französi-scher Übersetzung zugänglich (»Jutta«, 2000), eine vollständige bzw. korrigierte deutsche Ausgabe ist in Vorbereitung. Siehe auch die lesenswerte Studie von Ro-mana Weiershausen, die gleichfalls über das Beispiel von »Jutta« die schriftstel-lerische Leistung Lou Andreas-Salomés nach ihrer Begegnung mit Freud unter-streicht (Weiershausen 2008, 318–330). Zum literarischen Spätwerk zählen außer-dem die jeweils 1922 erschienen Texte »Der Teufel und seine Großmutter« sowie »Die Stunde ohne Gott und andere Kindergeschichten« (beide bei Eugen Diede-richs), ferner das szenische Spiel »Die Tarnkappe« (1981, hg. von Ernst Pfeiffer) sowie die Erzählung »Am Krötenteich«, ein bislang unveröffentlichter Text aus den dreißiger Jahren. (Sämtliche genannten Werke sind zur Neupublikation ge-plant in der MedienEditon Welsch.)

9 Siehe Ernst Fischer: »Der literarische Markt und die Schriftsteller«, 1980, 1–666,

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Manns »Professor Unrat« 1905 bereits mit einer Auflagenhöhe von 10.000 Exemplaren10. Vor diesen Zahlen und auch im

Ver-gleich zu den schon erwähnten Auflagen ihres Romans »Ruth« ist der Erfolg von »Im Zwischenland« entschieden bescheidener: Auch wenn der Novellenband gleich in seinem Erscheinungs-jahr 1902 wiederaufgelegt wird, bleibt es bei insgesamt vier Auf-lagen, die dritte erscheint 1911, die letzte 1925. Dass Lou An-dreas-Salomé ihre Titelnovelle 1912 separat als Roman auf den Markt bringt (Leipzig, Bonnier, Schriftenreihe Bonniers gebun-dene Bücher, Band 21) ist sicherlich als Versuch der Schriftstelle-rin zu deuten, etwas mehr auf ihre Kosten zu kommen; Romane verkaufen sich eben auch damals am besten, besser jedenfalls als Dramen und Poesie.

Lou Andreas-Salomé hat wohl ebenso wie andere Schriftstel-ler erfahren, dass, wer von seinem Schreiben leben will, vielfach einer schlechten finanziellen Situation ausgesetzt ist – das bringt die Kommerzialisierung mit sich. Die Korrespondenz, die Lou Andreas-Salomé (bzw. ihr Mann, der ihr hier helfend zu Seite steht) mit ihrem Verlagshaus Cotta führt, verweist auf ihr Be-mühen, von ihrem Schreiben zu leben11.

In Folge der neuen Bedingungen auf dem Buchmarkt kommt es zu der Gründung von Organisationen, deren Zielsetzung es war, sich dem finanziellen und rechtlichen Schutz des Schrift-stellers im literarischen Betrieb zu widmen12.

Es ist anzunehmen, dass Lou Andreas-Salomé dem »Schutz-verbund deutscher Schriftsteller« früh beitritt, womöglich schon

10 Die Ausführungen stützen sich auf Russell A. Berman (1982, 69–85, hier 70). 11 Was auch die Frage nach Vorschüssen beinhaltet, wie Briefen aus den Jahren

1895 und 1896 an das Verlagshaus Cotta, die im Marbacher Literaturarchiv erhal-ten sind, zu entnehmen ist.

12 Folgende Vereine wurden gegründet: Kartelle lyrischer Autoren, 1902; Verein

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kurz nach dessen Gründung im Jahr 190913. Mitglied konnte ein

jeder werden, der haupt- oder nebenberuflich als Schriftsteller tätig war, wobei ganz besonders darauf geachtet wurde, Dilet-tanten keinen Zutritt zu gewähren: Im Gegensatz zu anderen Schriftstellerverbünden richtete sich der Verein ausschließlich an Berufsschriftsteller. Dieser Grundsatz, nicht-professionellen Autoren die Mitgliedschaft zu verweigern, ging mit einem auf-wendigen Aufnahmemodus einher. Wenn diese beiden Merk-male »dem SDS eine Aura des Exklusiven [verliehen] und zwei-felsohne seine Attraktivität« steigerten (Fischer 1980, 126), so er-scheint Lou Andreas-Salomés schriftstellerische Identität durch diese Mitgliedschaft in einem vielschichtigeren Licht als oftmals angenommen.

Der Begriff des Dilettantismus spielt entsprechend bei Lou Andreas-Salomé in doppelter Hinsicht eine Rolle, biografisch wie erzählerisch. Beide Ebenen sind von Interesse, weil sie auf das Salomé'sche Verständnis vom Künstler verweisen.

Ihre (faktische) Mitgliedschaft in dem führend exklusiven Verein für Berufsschriftsteller scheint auf den ersten Blick dem Bild zu widersprechen, das Lou Andreas-Salomé von ihrer

13 In Fischers Studie ist Lou Andreas-Salomés Mitgliedschaft bei der Beschreibung

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schriftstellerischen Tätigkeit zeichnet, indem sie deren intim-pri-vaten, d.h. dilettanten Charakter hervorhob:

»[….] was ich aufschrieb, nur oder fast nur um des Vor-gangs selber, um des Prozesses willen wichtig war und ir-gendwie lebensnotwendig blieb. In einem Banksafe be-wahrte ich meine Manuskript-Bibliothek auf und entnahm ihr lediglich aus dem ›unedelsten‹ Motiv, nämlich aus schmählichen Geldgründen – und oft wie ungern! – ein ver-käufliches Stück« (L 172).

Diese Passage wurde in der posthumen Kritik vielfach herange-zogen, um Lou Andreas-Salomés geringe Wertschätzung ihres schriftstellerischen Werkes hervorzuheben14. Doch geschah dies

unter Missachtung des im wilhelminischen Bildungsbürgertum vorherrschenden Bildes des Schriftstellers, das, als Gegenreak-tion auf die neuen Marktbedingungen und das neue Abhängig-keitsverhältnis zwischen Verlag und Autor, die reine Schaffens-lust und nicht die ökonomische Realität betont haben wollte. Vor diesem Hintergrund lägen die Dinge dann tatsächlich ge-genteilig: Insofern Lou Andreas-Salomé ihre Schaffenslust (den »Vorgang des Schreibens«, der ihr »irgendwie lebensnotwen-dig« sei) betont, unterstreicht sie ihre (wahre) Dichterseele, die Pekuniäres, dieses »unedelste Motiv«, verschmäht. Ob es sich nun bei diesem Zitat um eine Reminiszenz des wilhelminischen Künstlerverständnisses handelt oder um »Selbststilisierung« (Clauss 1999, 54) – oder, nicht ohne Paradox, ein bisschen von

14 Vgl. die Biographie von Angela Livingstone, die sehr genau die bis Ende der

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beidem: Ohne Zweifel war es Lou Andreas-Salomé auch am Ende ihres Lebens wichtig, ihre professionelle Identität als Ro-man- und Novellen-Schriftstellerin – die Tatsache, dass sie das Schriftstellern beruflich, geldverdienend betrieb – nicht in den Vordergrund zu rücken15.

Die Frage nach dem Warum dieser Darstellung führt zu Lou Andreas-Salomés Umgang mit weiblichem Schriftstellertum. Zu Beginn des Jahres 1899 hatten Lou Andreas-Salomé und ihre engste Vertraute und Schriftstellerkollegin Frieda von Bülow öf-fentlich ihre Meinungsverschiedenheit zum Thema ausgetragen: Beide veröffentlichten in »Der Zukunft«, wobei es Lou Andreas-Salomé ist, die mit ihrem Artikel »Ketzereien gegen die mo-derne Frau«, zu den Auseinandersetzungen ihrer Freundin Frieda von Bülow, die einen Monat zuvor erschienen waren (»Männerurtheil über Frauendichtung«16) Stellung nimmt.

Einen Monat darauf, im März 1899, bringt die »Neue Deutsche Rundschau«, Lou Andreas-Salomés Essay »Der Mensch als Weib«17 heraus. Die Schrift lässt die Frauenrechtlerin Hedwig

Dohm reagieren: Ihren Artikel »Reaktion in der Frauenbewe-gung«, den »Die Zukunft« noch 1899 abdruckt18, wird sie im

Jahr der Veröffentlichung des »Zwischenlandes« in ihr Buch »Die Antifeministen. Ein Buch der Verteidigung«19 aufnehmen.

»Bei jeder von ihnen« – Laura Marholm, Ellen Key und Lou

An-15 In Gertrud Bäumers Porträt aus dem Jahre 1939 schließt die Betonung von Lou

Andreas-Salomés Dilettantismus die Wertschätzung ihres literarischen Schaffens noch keineswegs aus: »[…] schlechthin kein Mensch, der Bücher geschrieben hat, tat es mehr aus reinem inneren Bedürfnis, aus ›Liebhaberei im besten Sinne‹ und weniger als sie, um in irgendeinem äußeren oder geistigen Sinn davon zu leben« (Bäumer 1939, 469-506; hier 491; Hervorhebung BB).

16 Die Zukunft 7 (1898/99), Heft 26, 26–29.

17 Neue Deutsche Rundschau (Freie Bühne), 10 (1899), 225–243. 18 Die Zukunft 7 (1898/99), Heft 29, 279–291.

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dreas-Salomé – hatte Hedwig Dohm in ihrer Darstellung in der »Zukunft« geschrieben, »finden wir Sätze, zum Haarsträuben für eine Emanzipirte, und wieder andere Sätze, die als stärkste Argumente für die Frauenemanzipation gelten könnten«20.

Hed-wig Dohm hebt somit die Ambivalenz als entscheidendes Merkmal der drei Schriftstellerinnen hervor. Bemerkenswert ist, dass Dohm diese Ambivalenz in der Buchfassung nur in Bezug auf Lou Andreas-Salomé bestehen lässt: Die starke Überarbei-tung zu Marholm und Key der Buchfassung verfolgt das Ziel, die Eindeutigkeit des »Antifeminismus« dieser beiden Autorin-nen darzulegen, Zweideutigkeit bestehe nur an der Oberfläche. Dohms Stellungnahme zu Lou Andreas-Salomé bleibt also über die Jahre hin unverändert, das heißt auch 1902 ist es noch Am-bivalenz, die ihrer Meinung nach die Schriftstellerkollegin am besten charakterisiert. Dohm beginnt entsprechend das 7. Kapi-tel (»Frau Lou«) ihres Buches:

»Betrübt las ich ihre Schrift ›Der Mensch als Weib‹. Frau Lou (ihr voller, zu langer Name frißt zu viel Manuskript) Antifrauenrechtlerin! Aus dieser Schrift heraus spricht sie zu uns wie durch zarte Schleier oder wie aus einer gewissen Entfernung: und je mehr Das, was sie sagt, anzuzweifeln ist, um so subtiler tastet sie daran. Auf weichen Sohlen gleitet sie, fast schwebend, selbst über schlüpfrigen Boden; und in der Tonart von Flöte und Harfe rührt sie leise und vornehm an die heikelsten Dinge auf dem Gebiet des Geschlechtsle-bens. Ganz Nacktes hüllt sie in schimmernden Nebeldunst. Singendes und Klingendes sagt sie, sich im Kreise Wiegen-des, Schwingendes. Es ist, als blickte sie seitwärts unter lan-gen Wimpern hervor, nicht geradeaus. Etwas mystisch Se-herisches ist auch in ihrer Art. Aber nicht wie die Spiritisten

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materialisiert sie Geister, umgekehrt: recht Materielles spiri-tisiert sie ins Mystische hinein. Weit über die Wirklichkeit hinaus fliegt ihre Psyche. Meinem suchenden Auge ver-schwebt sie leicht« (zitiert nach Gutenbergprojekt, entspre-chende Passage in der Zeitschriftenfassung, geringfügig ge-ändert, Die Zukunft, 280).

Unfassbarkeit – ein Dazwischen – ist hier beschrieben, ohne dass jedoch Dohm soweit gehen würde, in dieser Haltung eine Kritik an versimplifizierenden Kategorisierungen zu sehen21.

Ein weiterer Blick auf die zeitgenössische Rezeption Lou An-dreas-Salomés könnte die Hypothese stützen, ihre ambivalente Haltung zum Themenkreis Frau und Kunst, als bewusst einge-setzte Strategie zu deuten, mit der sich Lou Andreas-Salomé in der äußerst konkurrenzbeladenen und misogynen Situation der Jahrhundertwende einen Platz in der literarischen Welt hat si-chern können: Ein taktisch motiviertes Bemühen, sich klar von den vielen »Gelegenheitspoetinnen« (Fischer 1980, 131)22, und

damit vom weiblichen Dilettantismus, abzusetzen, also nicht

21 Dies ist Romana Weiershausens schon erwähnter Studie zu entnehmen, in der

die ambivalente Position Lou Andreas-Salomés innerhalb des Geschlechterdis-kurses unterstrichen wird.

22 »Gerade unter den Frauen war ja der schriftstellerische Dilettantismus stark

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mit Kunstlosigkeit verwechselt zu werden. Wie schon hervorge-hoben ist Lou Andreas-Salomé diese Herausforderung gelun-gen, denn sie war anerkannt, weitgehend unangegriffen in ihrer schriftstellerischen Legitimität. Die rekurrente Bezeichnung Lou Andreas-Salomés als Dichterin, wie sie innerhalb der zeitgenös-sischen Besprechungen des Salomé'schen Werkes aufzufinden ist – auch in Dohms Schriften, die über den Begriff die Ausfüh-rungen Lou Andreas-Salomés versucht ad absurdum zu führen23

–, zeugen von dieser Anerkennung. Den Auftakt gibt die 1896 erstmals gelieferte Gesamtschau zu ihrem Werk; die Bezeich-nung »Dichterin« hält sich, bis es mit ihrem Tod 1937 um Lou Andreas-Salomé – und das spricht für sie – sehr still wird24.

Wichtig ist, die doppelte Anerkennung zu erfassen, die der heute veralterte Begriff beinhaltet. Wie Stéphane Michaud zu recht betont hat, verweist der Begriff darauf, dass sie als Künst-lerin anerkannt wurde; das heißt in ihrer Fähigkeit, selbständig literarisch zu schaffen (Michaud 2000b, 175). Damit geht außer-dem der Versuch einher, eine Grenzziehung zu unternehmen, im Sinne einer Abgrenzung Lou Andreas-Salomés von anderen weiblichen Schriftellerinnen. Auch für Lou Andreas-Salomé ver-läuft diese vorherrschend positiv ablaufende Abgrenzung, nach zeittypischem Diskurs, gemäß einer wahrhaftig »obsessive[n]

23 »Bei Gott, wenn diese lieben und hochbegabten Dichterinnen [Andreas-Salomé,

Key, Marholm] so sehr gegen die Berufsthätigkeit der Frau und ihre Konkurrenz mit dem Mann eifern: warum bleiben sie denn nicht selbst im Rahmen der Weib-lichkeit, fern jeder Berufsthätigkeit, warum produziren sie denn Fallobst und ähnliches Zeug«, schreibt Dohm ihre Ausführungen schließend (Die Zukunft 1899, 290). Freilich vereinfacht Dohm Lou Andreas-Salomés Aussagen bzw. stellt sie auf eine ausschließlich sozial-materielle Ebene, eine Warte von der aus Lou so »eindeutig« nicht schrieb. Der Begriff »Fallobst« ist aus Lou Andreas-Salomés Es-say »Der Mensch als Weib« übernommen.

24 Siehe die Studie »Ein Weib als Dichterin« von Ernst Brausewetter (Brausewetter

1898). Weitere Rezensionen, in denen Lou Andreas-Salomé explizit als Dichterin bezeichnet ist, sind, in chronologischer Abfolge, jene von: F. v. Bülow

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Verwendung der Zuschreibung von ›männlich‹ und ›weiblich‹« (Clauss 1999, 48)25.

Kommen wir zur Textebene. Durch Themenwahl und Perso-nenkonstellation findet sich in der Titelnovelle »Im Zwischen-land« diese marktbedingt völlig neue Situation des Schriftstel-lers skizziert. So erinnern Boris erst so innig-heißer Wunsch, ein russischer Dichter zu werden, und die Tatsache, dass der Junge bei nächstbester Gelegenheit – und zu Musjas größtem Erstau-nen – dem Schriftstellertraum unbeherzt den Rücken kehrt, um eher eine Karriere als Landwirt oder Forschungsreisender anzu-visieren, an die zeittypische Problematik, die den Berufsschrift-steller dem GelegenheitsschriftBerufsschrift-steller gegenüberstellt. Im Kon-text der sich herausbildenden modernen Literaturindustrie ist es nicht nur als rein kindlich-naiv zu bewerten, wenn Boris sich zu erklären lassen gedenkt, wie er zum Dichter werden könne, also auf ein einfach anwendbares Rezept aus ist. Diese Vorstellung spiegelt auch einen neuen »Schreibhunger«, der, ähnlich der Le-serevolution am Ende des 18. Jahrhunderts, zur Zeit der Veröf-fentlichung des »Zwischenlandes« weite Teile des Bürgertums erfasst hatte26, jener sozialen Schicht, der auch Boris angehört.

Die in der Novelle mehrfach erwähnte Zeitung unterstützt diese Lesart, mit der Boris als Figur des potenziell schreibenden Dilet-tanten nachgegangen ist. Zum einen, weil es Zeitungen waren, die über Preisausschreiben, Schreibwettbewerbe, Einräumen von Veröffentlichungsmöglichkeiten die Idee förderten und ver-breiteten, Schreiben sei ein von jedermann erlernbares Hand-werk. Darüber hinaus geht unser Text so weit, den direkten

Zu-25 Selbstredend ist der »Zeitdiskurs der Typisierungen« in männlich und weiblich

geschlechterübergreifend, Nina Mardon-Holzamer stützt entsprechend ihre Lob-rede auf Lou Andreas-Salomés Werk, wie auch Anselma Heine, in ihrem Beitrag anläßlich Lou Andreas-Salomés 50. Geburtstags (Heine 1911), auf die Hervorhe-bung ihres »männlich geschulten Verstande[s]«.

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sammenhang zwischen Schriftstellertum und dem Zeitschriften-wesen herauszustellen, denn das Porträt des vergötterten Ignatieff hatten die Kinder sich aus einer Zeitung ausgeschnit-ten. Sehr symbolisch für die unabdingbare Verflechtung von Schriftstellertum und den neuen Marktbedingungen der Mo-derne ist das vermerkte Durchschimmern der schwarzen Druckbuchstaben der Rückseite auf das Dichtergesicht: Im Fall Ignatieff macht sich das Dichterbild nun recht schmutzig aus entsprechend seiner sozialen Misere und offensichtlichen Unzu-länglichkeit sich in der modernen Großstadt mit ihren neuen Er-wartungen zurechtzufinden. Er entspricht nicht dem

Ge-schmack der Zeit, damit zur Armut verurteilt, wird der vergöt-terte Poet schließlich als Betrüger eingesperrt. Es bleibt Musja, die trotz ihrer Weiblichkeit, der ja um die Jahrhundertwende der Dilettantismus ganz besonders anhängt, diejenige ist, die als dem Dichter am nächsten stehende dargestellt wird.

Wenn der sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelnde Zeitschriftenmarkt hin zum Massenmarkt es den Autoren erstmals ermöglichte, mit literarischem Schreiben ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, dann jedoch lediglich insofern diese auch in der Lage waren, sich den besonderen, modernen Begebenheiten anzupassen: Nur solche Autoren, wie Andreas Graf anmerkt, die den Markt mit seinen komplexen Bewegun-gen einzuschätzen wussten, konnten damit rechnen, ihre Arbei-ten adäquat unterzubringen (Graf 2003, 8). Mit über 200 Beiträ-gen in unterschiedlichen ausschließlich renommierten Zeit-schriften gehört Lou Andreas-Salomé ohne Zweifel zu

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russischspra-chige Beiträge der Autorin in der führenden Zeitschrift der Avantgarde, dem »Severni vestnik«, erscheinen27.

Wie für die Mehrzahl ihrer belletristischen Texte hatte Lou Andreas-Salomé auch vier der fünf Texte, die den Novellenband »Im Zwischenland« formen, vorab veröffentlicht. Jeweils verteilt auf mehrere Nummern erscheinen die Novellen sämtlich im Lauf des Jahres 1901 in vier verschiedenen Zeitschriften: »Die Romanwelt. Zeitschrift für die erzählende Litteratur aller Völ-ker«, »Deutsche Roman-Bibliothek«, »Vom Fels zum Meer« und »Velhagen & Klasings Monatshefte«. Um was für Zeitschriften handelt es sich dabei?

Der Frage nachgehen könnte auf die positive Wertschätzung, die Lou Andreas-Salomé ihren eigenenTexte entgegenbrachte, verweisen: So hat Lou Andreas-Salomé nicht »irgendwo« publi-ziert, sondern ihre Novellen erschienen sämtlich in den wohl re-nommiertesten Literaturzeitschriften ihrer Zeit. Die 1894 ge-gründete »Romanwelt«, in der »Die Schwester« vorabgedruckt wurde, wies einen vergleichsweise hohen Verkaufspreis auf, mit dem der gehobene Anspruch der Zeitschrift unterstrichen werde sollte. Die Wahl der Autoren (z. B. Dostojewski, Harte, Kipling) zeugen von der modernen Profilierung der »Roman-welt« und entsprechen, insbesondere was Dostojewski betrifft, dem ästhetischen Bezugsrahmen Lou Andreas-Salomés – »Die Schwester« erscheint übrigens parallel mit einer Novelle Mau-passants, was Lou Andreas-Salomé gefallen haben dürfte, da

27 Während ihre Gabe für effizientes »Networking« bereits zu Lebzeiten

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der französische Autor für sie gleichfallsVorbild war. Genau wie »Die Romanwelt« zählt auch die »Deutsche Roman-Bibliothek«, in der »Wolga« erschien, zu den reinen »Romanzeitschriften«, die sich also ausschließlich der Veröffentlichung von Prosatex-ten widmete. Neben dieser exklusiv literarischen Orientierung erfolgte eine zusätzliche Differenzierung von den diversen Fa-milien- und Unterhaltungszeitschriften dadurch, dass wenige bzw. gar keine Illustrationen aufgenommen wurden. »Vaters Kind« und »Im Zwischenland« erschienen hingegen jeweils in einer der vielzähligen Illustrierten, letztere in der wohl erfolg-reichsten dieses Typus, den 1891 gegründeten »Velhagen & Klasings Monatshefte[n]«. Die von Wilhelm Spemann ins Leben gerufene Zeitschrift »Vom Fels zum Meer« war, nach eigenen Aussagen der Herausgebers »amerikanischen Revuen nachge-bildet, durch und durch illustriert, Bellestristik, Naturwissen-schaft, Kunst, Militär, Geschichte etc. in belebter Form für die ganze Familie« (zitiert nach Berbig 2000, 308). Beide Revuen hat-ten wie auch die reinen Romanzeitschrifhat-ten ein kultiviertes Pub-likum als Zielgruppe, sie hatten demnach einen gehobenen An-spruch.

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denen sie sich vertieft auseinandergesetzt hat – zur literarischen Figur stilisiert worden ist.

Keine der vier Vorabveröffentlichungen ist unverändert in die Buchfassung übergegangen.

Beschränken wir uns im Folgenden auf die Namensänderun-gen, die in drei der Fassungen vorgenommen wurden.28 Es ist

wohl belanglos, wenn eine Figur nun nicht mehr Martin, son-dern Richard heißt (»Vaters Kind«), jedoch gewinnt die Umbe-nennung in der Titelnovelle an Bedeutung, denn hier geht diese mit der Einführung der französischen Herkunft der Figur des Großvaters resp. Gottvaters einher, der General Matthiessen wird zum General Ducamps. Sicherlich kann dieser Namens-wechsel als Akzentuierung des Autobiographischen verstanden werden – Ducamps lässt mit seiner französischen Herkunft an das ebenfalls französische Salomé denken – doch sollte auch da-bei nicht das kosmopolitische, mehrsprachige Setting vergessen werden, das mit dieser Änderung hervorgehoben wird. Es er-laubt, auf weitere Elemente des Textes ein neues Licht zu setzen.

In der Novelle »Wolga« trägt der Namenswechsel wesentlich zu der (recht radikalen) Neuorientierung des Textes bei, wie sie sich von der heute kitschig anmutenden Zeitschriftenversion zur Buchversion beobachten lässt. So verweist zwar die sech-zehnjährige Ljubow mit dem Namen, den sie in der Buchversion trägt, durchaus eindeutig auf das Thema der Novelle (Ljubow bedeutet Liebe auf russisch), doch ohne dass diese evidente Be-nennung triviale Deutungsmuster zuließe. Vielmehr zeichnet sich »Wolga«, wie dies für die theoretischen Überlegungen zum gleichen Thema charakteristisch ist – denken wir an »Der Mensch als Weib« (1899) –, durch ihre hohe Ambiguität aus. Die Zeitschriftenversion hingegen wirkt tendenziell

vereinfachen-28 Auf diese, wie auch auf weitere Änderungen, ist in den Erläuterungen

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der, teils geradezu platt: Wenn Olga aus der »Deutschen Ro-man-Bibliothek« in eine kindhafte Naturnähe gebracht wird (mit der Anspielung auf den Fluss »Wolga« ) und dann daraus herausgerissen wird, um der neuerlebten Isolation – dem Lie-beserwachen – zuerst mit Ängsten zu begegnen, findet sie schließlich zu neuer All-Einigkeit in der Verbindung mit Val-devenen. Die isolierte Olga, Braut- und Mutterschaft akzeptie-rend, nähert sich so erneut der (W)Olga, d.h dem »All«, indem sie durch den Mann das verlorene »W« wiederfindet: Ein Happy-End scheint umrissen.

Auf wessen Initiative ging nun aber die Namensänderung zu-rück? Auf die der Redaktion der »Deutschen Roman-Biblio-thek«? Oder war die Namensgebung von Lou Andreas-Salomé selbst initiert? Und: Von welchem Urtext muss eigentlich ausge-gangen werden, der Zeitschriftenversion oder der Buchver-sion29?

Feststeht, dass das Veröffentlichen von Prosa in den Familien-blättern mit einer hohen Honorarzahlung verbunden war und dass nur, wer sich an die Spielregeln hielt, d.h. speziell die Fa-milienblattmoral durch Vermeidung von Erotischem und Politi-schem respektierte, eine Chance hatte, seinen Text unterzubrin-gen und somit bezahlt zu werden (vgl. Graf 2003, 32ff). Insbe-sondere das vierte, abschließende Kapitel der »Wolga«-Novelle ist hier anzuführen, da es starke Abweichungen zwischen den Fassungen gibt: Begnügt sich die Buchversion mit der einmali-gen Anspielung auf einen Kuss (IZw, »Wolga«, S. 337), so ist der

29 Denn tatsächlich könnte es ja durchaus sein, dass die Novellen der Buchversion,

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Zeitschriftentext wesentlich beredter, wie folgende Passage, ein Beispiel unter vielen, veranschaulicht:

»Da stürzte Valdevenen noch einmal herein, stieß den Riegel vor die Thür, und die ihm entgegeneilende Olga in seine Arme nehmend, bedeckte er zum erstenmal ihr Gesicht mit Küssen. Das Bangen, sie schon so bald wieder zu verlieren, zerbrach seine zurückhaltende Zartheit; im Moment des Abschiedes brach die Leidenschaft rückhaltslos durch, und die paar Minu-ten, in denen sie einander kaum noch wenige Worte zustam-meln konnten, geleiteten Olga von der morgenkühlen Küste des neuen Landes, das sie aufgenommen, tief hinein in dessen Inne-res, bis dorthin, wo eine heißere Sonne schon Mittag steht…«30.

Unerträglich schwülstig? Was aber war die zeitgenössische Einschätzung und wie diese deuten? Verweist womöglich das Olga-/Valdevenen-Paar auf einen die Moral herausfordernden Diskurs, auf den sich das Familienblatt nicht ohne Wagemut hatte einlassen können? Oder handelt es sich bei der Zeitschrif-tenversion um das Ergebnis eines Kompromisses?

Die Zeitschriften sahen sich einem Balanceakt ausgesetzt, der einerseits die Entwicklungen der modernen literarischen Öffent-lichkeit berücksichtigte und der andererseits die Wünsche der traditionellen Leser und Kritiker befriedigen musste. In diesem Zwiespalt könnte Lou Andreas-Salomé die Novelle auf beide Lesegeschmäcker hin, den konservativeren wie den kühneren, zugeschneidert haben31.

30 »Wolga«, Deutsche Roman-Bibliothek, 706

31 Siehe Chantal Gahlinger, die zu dieser Frage überzeugend herausgearbeitet hat,

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Eine ebensolche Form der Ambivalenz lässt sich auch im Hang zum Heimatlichen, genauer zum Heimatroman nachwei-sen – eine mehrdeutige Gattung »par excellence« zwischen Ge-sellschaftskritik und roman rose32. Diese Tendenz kommt in der

Zeitschriftenversion, im Gegensatz zur Buchfassung explizit zum Ausdruck. Ein Zitat aus Jakob Christoph Heers 1898 bei Cotta erschienenen Erfolgsbuch »An heiligen Wassern« zeigt dies klar auf33. Der Anblick Olgas bei ihrer ersten Begegnung

er-innert Valdevenen an Heers Protagonistin Binia, aus dessen Ro-man er wortwörtlich zitiert: »ein Mädchen, wie von Tauben zu-sammengetragen«34. Die entsprechende Stelle ist hingegen in

der Buchversion durch den Zusammenschnitt so gut wie unver-ständlich. Ohne den Bezug zu den Heerschen Tauben, ist Lju-bows Antwort poetisch-obskur: »Ihr Vorname ist russisch?« be-merkte Valdenen deutsch zu ihr sprechend. Sie nickte. »Das ist er zwar, er ist mir aber auch nur so angeflogen«. (IZw, »Wolga«, S. 296)

Dass Lou Andreas-Salomé – und dies wohl verstärkt mit ih-rer Buchversion – eine Ästhetik der Ambivalenz, des Dazwi-schens verteidigt, die sich gegen eindeutige Kategorisierung und Festlegungen ausspricht, hat Theodor Heuß schon hervor-gehoben: »unmöglich erscheint es«, so bemerkt der spätere Bun-despräsident 1908, aus Lou Andreas-Salomés Werk, »ein Kunst-prinzip abzuziehen« (Heuß 1908, 9). Damit liegt die Stärke der fünf Novellen gerade in dieser Unfassbarkeit, Uneindeutigkeit, die es zum Beispiel verbietet, Ljubows Schicksal klar darzule-gen. Lebensmöglichkeiten sind skizziert, Bewegungen beschrie-ben, Beziehungen umrissen, niemals aber geht es darum

Identi-32 Zum Genre Heimatroman: Sigrid Schmid-Bortenschlager (1988: 235-248). 33 Heers Buch gehört zu einem der auflagenstärksten Bücher (letzte Ausgabe im

Salzwasser Verlag, 2011). Das Buch wurde mehrmals verfilmt, letztens von Alfred Werdenmann, 2006.

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tät festzuschreiben. Vielmehr soll ein Dazwischen, ein Zwi-schenland, sollen Übergänge umrissen werden: »was Lou Andreas gibt, ist nicht das Porträt einer Seele, sondern deren Spannung zur Welt, zu einer anderen Seele […] nicht Mensch und Seele in ihrem Sonderleben, sondern in ihren Bedingtheiten und Beziehungen zu andern werden von der Dichterin erfasst« (Heuß 1908, 12).

IV.

Das Interesse Lou Andreas-Salomés für das Zusammenspiel von Identität und Alterität spiegelt sich im Thema der Adoleszenz, diesem um 1900 vielseitig besprochenem Lebensabschnitt, den die westliche Welt im Zuge des Modernisierungsprozesses für sich entdeckt hat (Neubauer 1992, Gutjahr 1997, Benert 2011).

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Mit ihrer Fokussierung auf die Jugendthematik schreibt sich Lou Andreas-Salomé so in eine der zentralen Metaphern ihrer Zeit, die für die Suche nach ästhetischer Erneuerung steht, hin-ein: gleich Tonio Kröger sind Hans Heilner, Törless, Hanno Buddenbrook sämtlich als Künstler gezeichnet, womit die jun-gen Helden das befreiende Potenzial der Kunst verkörpern bzw. darauf verweisen36.

Lou Andreas-Salomé führt eine Variation durch die Femini-sierung des Themas ein. So müssen die jugendlichen Protago-nistinnen, die Lou Andreas-Salomé schafft, in Verbindung mit der Künstlerproblematik um 1900 angegangen werden: Musja, Lisa, Mascha und Dascha ohne auf eine (eindeutige) Künstler-identität festgelegt werden zu können – Lou Andreas-Salomé schreibt gegen Festlegungen – sind dem Künstlerischen ver-wandte Seelen, die in sich die Möglichkeit haben, keine »armen Menschen« (»Eine erste Erfahrung«, S. 212) zu werden, sondern künstlerisch zu leben.

Dies »kann« zeittypisch mit Mutterschaft gleichgesetzt wer-den – sämtliche unsere Heldinnen sind mit Mutterschaft in Ver-bindung gebracht –, schließt jedoch andere Formen des künstle-rischen Schaffens nicht aus. So stellt die Lektüre von Rilkes Ge-dicht, mit der »Die Schwester« einsetzt, nicht nur einen

befreienden Akt dar, über den Mascha und Dascha ihrer tristen Situation entkommen, sondern diese Lektüre ist gleichwohl als kreativer Akt zu deuten: die Geschichte der/des jungen Mäd-chen(s) Mascha/Dascha verstanden als Neudichtung des

Rilke-36 In diesem Sinne interpretiert Rilke 1902 Thomas Manns Figur des adoleszenten

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Gedichts. Insofern ist »Die Schwester« auch die literarische Ex-plikation von Lou Andreas-Salomés poetologischen Ausführun-gen:

»Denn reden kann das Werk nur zu Dem, der gleich ihm disponiert ist und in dessen Seele ähnliche Erinnerungen anklingen. Kommt Jemand mit dem besten Willen heran, ist jedoch durch Geistesart, Erlebnisse, Urteilsweisen, Tempe-ramentsgründe oder hundert Anderes seelisch nicht darauf eingestellt, so könnte es mit Engelszungen zu ihm reden und bliebe ihm doch stumm; findet sich aber Jemand, der aus den selben Ursachen besonders stark disponiert dafür ist, so verhält er sich fortwährend nachschaffend, ergän-zend, ohne es selbst zu ahnen, und preist, was er selber … fast erschaffen hätte […]. Wie Leben nur durch bereits vor-handenes Leben weitererzeugt wird und durch nichts An-deres herstellbar und gewinnbar ist, so ›lebt‹ das Kunst-werk, wird gleichsam immer wieder neu weitererzeugt, le-diglich durch den Kontakt Dessen, der ihm homogenes Leben entgegenbringt« (»Vom Kunstaffekt«, AuE 3.2, 360 f). Mascha/Dascha haben durch ihre Lektüre dem Gedicht Ril-kes dieses neue Leben verschafft, inkarniert in der Neuschrei-bung »Die Schwester«.

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»Zwischen-land« stellt, als einen der Schlüsselmomente des Salomé'schen Beitrags zu Moderne zu identifizieren37.

Beispielhaft für diese Lektüre am Kern vorbei ist jene Eduard Sprangers (1882–1963), der in seinem Erfolgsbuch »Psychologie des Jugendalters« von 1924, Lou Andreas-Salomés Novellen-band als Veranschaulichung seiner konservativen Pädagogik-theorien verstanden haben wollte und damit letztlich das Sa-lomé'sche »Zwischenland« zu einem bloßen Dokumentartext herabstufte. Spranger, der bald darauf nach Berlin berufen wurde, hatte sich kurz vor Kriegsausbruch 1914 an Lou An-dreas-Salomé gewandt, um sie für eine pädagogische Zeitschrift zu gewinnen (Michaud 2000b, 245). Lou Andreas-Salomé muss rasch erkannt haben, dass die Erziehungsvorstellungen des Pä-dagogen und späteren Anhänger der nationalsozialistischen Ideologie mit ihrem Verständnis in keinerlei Einklang zu brin-gen sein würde. Jedenfalls kommt es zu keiner Zusammenarbeit und jeglicher Kontakt bricht ab. Der hohe Grad an hartnäckiger Fehleinschätzung ist Sprangers eindeutiger Vorliebe für die No-velle »Vaters Kind« abzulesen (Spranger 1924, 53). Offensicht-lich hatte Spranger in der Salomé'schen Figur des Vaters kein störendes Spiegelbild erkannt, obgleich gerade in diesem Text Lou Andreas-Salomés sehr kritische Haltung gegenüber triviali-sierendem Psychologismus und Pädagogismus eine hervorste-chende Ausarbeitung findet. In »Vaters Kind« kommt am deut-lichsten die potenziell gewaltgeladene, pathologische, sadisti-sche Dimension heraus, die Lou Andreas-Salomé mit der Idee

37 Dem Porträt, das Gertrud Bäumer zeichnet, ist die Notorität Lou

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von Erziehung in Verbindung bringt. Spranger, als entschieden-der Gegner Freuds, übersieht auch38, dass Lou Andreas-Salomé

gerade mit diesem Text die Grundlage für ihr Verständnis der Freudschen Theorien aufzeigt. Lou Andreas-Salomés Überle-gungen zur Erziehung lassen sich eingängig an deren Gegen-überstellung mit dem Begriff der Erfahrung festmachen. Beson-ders ausgearbeitet ist der Antagonismus Erziehung vs. Erfah-rung in »Vaters Kind«, wenn sich dem von ästhetischen Werten durchdrungenen Empfinden Rias, der Utilitarismus der Institu-tion Schule als Gefängnis darstellt:

»[Ria] öffnete die kleine Tapetentür, und fast flüchtend schlich sie sich hinüber in die leeren Klassenräume, – wei-ter, immer weiwei-ter, bis sie den letzten, einen großen, nahezu saalartigen Raum erreicht hatte. Hier in den Klassen war lange niemand gewesen. Staub lag auf den Pulten, Staub machte das Glas der vorhanglosen Fenster trüb. Trotz der Wärme des Tages fror man fast in der eingeschlossenen Luft. Totenstill war es hier oben. Ganz dumpf nur scholl vom Hof unten irgendein eintöniges Geräusch in kurzen Zwischenräumen herauf, – und jetzt surrte aufgescheucht eine große Fliege geängstigt an den Scheiben, im vergebli-chen Bemühen in den Sommer draußen hinauszugelangen […]. Diese Räume sahen am ehesten wirklich noch aus wie eine Reihe von Gefängnissen […]« (IZw, »Vaters Kind«, S. 144)

38 In »Psychologie des Jugendalters« rechnet Spranger auf mehreren Seiten mit der,

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Dass Musja dem russischen Dichter begegnen konnte und damit Erfahrungen hat sammeln können, muss sie den Erziehungs-vorstellungen ihres Großvaters danken, der im Gegensatz zur hartherzigen Gesprächspartnerin, die an den Kindern »strenger herumarbeiten« und ihre »Seelen erschüttern« will, um sie auf den rechten Weg zu bringen, seiner Enkelin Freiraum gewährt und Vertrauen schenkt. Musjas Erfahrung ist dennoch gleich Li-sas »Erste[r] Erfahrung«, von Heimlichkeit umgeben, denn beide Mädchen brechen heimlich auf, erfahren außerhalb ihres Petersburger Hauses (ihres Heims) die Ambivalenz des Lebens – sein Unheimliches –, um an dieser Erfahrung reich, sich Kunst nähern zu können. Diese »Schule des Lebens«, die Musja und Lisa erfahren, liegt jenseits der Institution Schule, sei es weil Weihnachtsferien diese neuen Möglichkeiten schaffen, sei es weil sich gegen die Schule entschlossen wird (Lisa schwänzt den Schulunterricht und befiehlt dem Kutscher, einen anderen Weg einzuschlagen). »Vielleicht kann man das Wichtigste auch so nicht erfahren, – nicht so von anderen Menschen«, hatte Mascha noch ihrer Schwester entgegen gehalten (IZw, »Die Schwester«, S. 238, Hervorhebung BB), die enthusiastisch-naiv träumte, ein Fortbildungsinstitut zu eröffnen, um ein »Vorbild« zu sein: »[….] man zeigt den anderen, wie gelebt werden soll, wie es mit dem Leben bestellt ist« (IZw, »Die Schwester«, S. 238).

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obgleich die Ljubow vom Alter her entfernteste, die ihr am nächsten steht (»[…] Hinter [Lisa] und ihrer Cousine [Anna] aber schaute Musja hervor, die Busenfreundin, die liebe Musja, die immer zu allem bereit war, die so gern mitgereist wäre in das weite, weite Land hinaus« (IZw, »Wolga«, S. 335). Dass Musja und Boris in der Zeitungsversion ein von der Buchver-sion abweichendes Alter aufweisen – in »Vom Fels zum Meer« ist Musja zwölf und ihr Bruder dreizehnjährig, also um ein Jahr älter – verweist auf diese Willkür in der Altersverteilung, die Lou Andreas-Salomé also bewusst paradoxal verknüpft mit ih-rer gleichzeitigen präzisen Vermerkung. Diese Handhabung er-innert an Freud, für den die »Altersphase« Adoleszenz als sol-che nicht existiert, sondern der bekanntlich auf die frühe Kind-heit fokussiert. Vergleichbar damit ist in »Im Zwischenland« die Tatsache, dass es Rias Vater ist, der Pädagoge, der auf die kör-perliche Entwicklung der jungen Mädchen fixiert ist (vgl. IZw, »Vaters Kind«, S. 9639), sie »einteilt«, überzeugt davon, es gäbe

einen »Lebensabschnitt«, der unwiderbringlich kommen müsse »am Ausgang der Kindheit« und zwar zwanghaft begleitet von Schmerz (IZw, »Vaters Kind«, S. 149). Wie der Pädagoge über-haupt alles im Leben versucht zu ordnen und zu kontrollieren, und dabei das Eigentliche im Leben verfehlt. Da ist seine Toch-ter Ria sehr viel feiner gezeichnet, wenn diese überlegt, dass sie zwar sich ein Kind nicht mehr zu nennen lassen brauche, wenn sie auch noch keine Erwachsene sei, »sondern sozusagen nur ein gewesenes Kind« (IZw, »Vaters Kind«, S. 123). Das Pendant zu dieser Formulierung befindet sich nach dem tragischen Bruch mit dem Vater, wenn Ria sich sagt, dass sie nun »gleichsam eine

39 Wobei der Novellenband die Idee von sexuell Deplaziertem einschließt (siehe die

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andere geworden sei, – eine Erwachsenere« (IZw, »Vaters Kind«, S. 149). Zu dieser Sympathieverteilung zugunsten Rias Weltverständnis passt es schön, dass der launige fünfzehnjäh-rige Michael der Titelnovelle zum Sprachrohr versimplifizieren-der Zuordnungen wird:

»Ja, lieber Himmel, was sind sie denn nun eigentlich?! rief Michael sehr laut […]. Kinder sinds nicht, Erwachsene sinds ja auch nicht – in der Klemme sind sie dazwischen! Rechts wohnen alle Erwachsene, links alle Kinder, und ihr – ihr wohnt wohl nirgends oder so in einem Zwischenland, einem Nirgendwo« (IZw, »Im Zwischenland«, S. 53). Nur eine so naive Figur wie Michael kann der Täuschung erlie-gen, dass das tiefempfundende Gefühl der Verunsicherung und der Verlorenheit in der Pubertät mit dem Erwachsenensein ab-geschlossen sei, anstelle sie als Schlüsselmomente der menschli-chen Conditio überhaupt zu erkennen sowie als Movens künstle-rischen Schaffens.

Von Fehldeutung spricht auch Frieda von Bülow, wenngleich aus einer anderen Warte heraus, wenn sie kurz nach Veröffent-lichung des Zwischenland-Bands anmerkt, dass das schriftstel-lerische Werk Lou Andreas-Salomés Gefahr laufe, missverständ-lich aufgefasst zu werden, im Sinne einer unberechtigt verein-fachenden Lesart. Die Schriftstellerkollegin und engste

Vertraute Lou Andreas-Salomés, deren Vermutung durch die Einschätzung eines Eduard Spranger ihre Bestätigung finden wird, schreibt:

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Weiter betont Bülow Lou Andreas-Salomés stilistisches Enga-gement sowie ihre Freude am Detail:

»Man muss die Bücher der Lou Andreas wieder und wieder lesen, um die ganze Fülle seiner Züge zu erfassen. Da ist kein leeres Zufallswort, kein Satz, der ebensogut hätte an anderer Stelle stehen können, keine anscheinend noch so geringfügige Einzelheit, die nicht eine ganz bestimmte Bedeutung hätte« (von Bülow 1902/03, 474–475).

Eines dieser Details besteht in der mehrfachen Erwähnung des Eiffelturms innerhalb der Titelnovelle. Diesem Inbegriff der Modernisierung und ihrer technischen Glanzleistungen wurde bekanntlich seine moderne Ästhetik – das heißt seine Monstruo-sität – im Sinn einer Auferstehung des Babelturms im Stahlge-wand zum Vorwurf gemacht40. Der Eiffelturm wird tatsächlich

noch vor seiner Fertigstellung paradigmatisch für die Kunst-Diskussion am Ende des 19. Jahrhunderts herangezogen. In Tschechows Stück »Die Möwe« (1898) beispielsweise werden mit Referenz auf den Eiffelturm, zwei Kunstauffassungen einan-der entgegengesetzt, jene, einan-deren Zeit abgelaufen sei, inkarniert durch die Schauspielmutter, sowie die Suche nach einer neuen Ästhetik (»Neue Formen sind vonnöten«), die der Sohn Trepl-jow verteidigt:

»[Meine Mutter] liebt das Theater und sie bildet sich ein, sie diene damit der Menschheit und der heiligen Kunst, meiner Ansicht nach aber ist das ganze Theater der Gegenwart nur Routine, nichts als ein Vorurteil. Wenn der Vorhang aufgeht und bei abendlicher Beleuchtung in einem Zimmer mit drei Wänden diese großen Talente, diese Priester der heiligen Kunst uns darstellen, wie Menschen essen, trinken, lieben,

40 Siehe die »Protestation des Artistes«, vom 14. Februar 1887, die u.a. der von Lou

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gehen und ihre Kleider tragen; wenn sie aus abgeschmack-ten Bildern und Phrasen eine Moral hervorzuangeln be-müht sind, – eine bescheidene Moral, leicht verständlich, nützlich im Hausgebrauch; wenn in tausend Varianten mir immerzu ein und dasselbe dargebracht wird, ein und das-selbe, immer nur ein und dasdas-selbe, dann fliehe ich und fliehe Hals über Kopf wie Maupassant vor dem Eiffelturm floh, der ihm mit seiner Geschmacklosigkeit auf das Hirn drückte« (»Die Möwe«, 1. Akt)

Wenn das »Möwengefieder«, das die beiden Schwestern Mascha und Dascha jeweils an ihren »eitlen« Tagen anlegen bereits mehrfach und zu Recht mit Tschechows Stück in Verbindung gebracht worden ist, wird mit dieser Anspielung gleichfalls deutlich, dass es in diesen »im kindlichen Ton vorgetragenen, einfachen Geschichten« um eine Reflexion der Künstler-Proble-matik geht sowie um die Frage, auf welche Weise in einer völlig veränderten Welt geschrieben werden könnte. Was natürlich noch durch das vorangestellte Rilke-Gedicht, wo doch Rilke für Lou Andreas-Salomé als Chiffre für Künstlertum und ästheti-sche Reflexion überhaupt steht, noch besonders hervorgehoben wird41. Entsprechend bildet die Sprachproblematik eines der

re-kurrenten Themen, die den gesamten Novellenband durchzieht: Kein Dialog, der nicht ein Missverständnis nach sich ziehen würde, sowie auch der Bruch zwischen Ria und ihrem Vater in »Vaters Kind« auf die Unfähigkeit, sich sprachlich zu verstehen zurückzuführen ist, womit das ehemals »wortlose Einverständ-nis« (IZw, »Vaters Kind«, S. 126), wie die Mutter nicht ohne Neidgefühle die Beziehung zwischen ihrer Tochter und ihrem

41 Zu Rilke als Künstlerfigur im Salomé'schen Werk sowie zu den »Literarischen

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Mann beschreibt, sich gleichfalls als Illusion entpuppt. Sprachli-che Unzulänglichkeit ist, was die längeren Szenen der Titelno-velle beschreibt: zwischen Boris und Musja, zwischen Musja und Ignatieff und zwischen Musja und Kirillowna, während letztere Figur in ihrer warmen Mütterlichkeit und gleichzeitigen sozialen Not direkt einem Käthe-Kollwitz-Porträt entsprungen sein könnte. So wie die scheinbar nebensächlichen Momente (der Kauf der Eiffelturmreproduktion im Papierladen, das Ge-spräch zwischen der Hebamme und Musja), ein szenisches Schreiben und Umgang mit Sprache aufzeigen, die stark an Maurice Maeterlincks Ästhetik erinnern. Lou Andreas-Salomés »Zwischenland« illustriert die Krise der Sprache literarisch, in-dem diese auch bei unserer Autorin nicht mehr als Werkzeug des zwischenmenschlichen Verstehens (Humboldt) erscheint, sondern vielmehr zu dessen eigentlichem Hindernis wird. Spra-che ist nun gleich Äther, wie es Lou Andreas-Salomés enger Vertrauter Fritz Mauthner in seiner ab 1901 erschienenen Sprachphilosophie schreibt, das zwischen den Menschen

schwebe, um sie »de facto« von einander zu trennen. So befindet sich der Mensch doch stets wie in einem Dazwischen sprachli-cher Unzulänglichkeit42. Auch werden die Worte in ihrer

Will-kürlichkeit bloßgestellt, so in vermeintlich banalen Situationen, wenn der Diener Matwej zum Abendtee ruft, obschon es sich für Boris und Mussja doch nur um Milch handelt (IZw, »Im Zwi-schenland«, S. 68). Da ist die Szene bei Tisch, die die Schwestern Mascha und Dascha mit ihren Gasteltern zeichnet, in

scheinba-42 »Seitdem man gelernt hat«, schreibt Fritz Mauthner in einem »Zwischen den

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rem Gespräch zu viert, wenn tatsächlich niemand irgendwen über die Worte erreicht, um damit gleichfalls eingänglich Maut-hners »Propos« literarisch darzustellen (IZw, »Die Schwester«, S. 230). Ja, Frieda von Bülow liegt wohl mit ihrer Analyse rich-tig, wenn sie von scheinbarer Einfachheit spricht – denn tatsäch-lich ist es der sprachtatsäch-lich-metaphysische »Wirbel« des »Chan-dos«-Briefes, gleichfalls 1902 veröffentlicht, der über dem Sa-lomé'schen Novellenband liegt. Auch er lädt dazu ein, Lou Andreas-Salomés Texte immer wieder aufs Neue zu lesen.

V.

Und doch hat »Im Zwischenland« nicht an dem relativen Revi-val teilgehabt, das dem Salomé'schen erzählerischen Werk im Laufe der achtziger Jahre zuteil wurde, als es zur Neu- bzw. Wiederveröffentlichung von »Amor. Jutta. Die Tarnkappe. Drei Dichtungen« (1981), »Fenitschka. Eine Ausschweifung «(1983), »Ródinka« (1985), »Das Haus« (1987) kam. »Im Zwischenland« ist, wie bereits festgehalten, seit 1925 nicht wieder verlegt wor-den. Die vorliegende Neuausgabe erfolgt 111 Jahre nach dem erstmaligen Erscheinen des »Zwischenlandes« in Buchform 1902.

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Die stiefmütterliche Behandlung des Salomé'schen Erzählwer-kes, die sich erneut in einer kürzlich erschienenen Literaturge-schichte bestätigt findet43, erinnert an die problematische

Aner-kennung aktueller Literaturen, die bekanntlich schon in deren Benennungsschwierigkeit zum Ausdruck kommt (»Ausländerli-teratur«, »Migrationsli(»Ausländerli-teratur«, »Migrantenli(»Ausländerli-teratur«, »Literatur der Fremde«, »interkulturelle Literatur«, … ?44). Wobei sich

fol-gende Entsprechung ergibt: hier »die Leier vom Leben zwi-schen zwei Stühlen«, den »der junge Migrant in Wut« (Feridun Zaimoglu) darzustellen habe, dort die Leier von »der Frau«, im Zwiespalt verfangen zwischen Selbsterfüllung im Beruf oder Selbstaufgabe an Mann und Kind – in beiden Fällen wird einer Zuordnung in die eigentliche, »große« Literatur und ihren zwingend komplexen Zusammenspielen entgegengewirkt.

Spinnen wir diese epochenübergreifende Parallele ein biss-chen weiter, erscheint sie doch geradezu unumgehbar auch durch die wörtliche Übereinstimmung, die sich zwischen dem Salomé'schen Titel »Im Zwischenland« auftut und der Semantik aktueller interkultureller Fragestellungen mit ihrer gängigen räumlichen Metaphorik des Dazwischen und seiner Derivate (Schmitz-Emans 2002, Gutjahr 2010, 30).

Mit Lou Andreas-Salomés Migrationsbiographie zusammen-hängend, die die Autorin selbst auch gerne unterstrich, indem sie sich als Russin verstanden haben wollte, ist die Tatsache,

43 Die 2008 bei Metzler erschienene »Deutsche Literaturgeschichte« stellt in ihrem

Kapitel »Die literarische Moderne (1890–1920)« das erzählerische Werk Lou An-dreas-Salomés wie folgt dar: »[bereits] in ihren literarischen Texten war es ihr im-mer wieder um psychologische Probleme gegangen, vor allem um die Entschei-dung zwischen Beruf und Familie als Konflikt im Leben von Frauen«. Zitiert werden »Eine Ausschweifung«, »Ma«, »Das Haus« – nicht »Im Zwischenland« – und verweist, darauf dass Lou Andreas-Salomé in ihren späteren Texten »eine immer intensiver werdenden Mütterlichkeitskult« betreibe (»Deutsche Literatur-geschichte« 2008, 362).

(39)

dass auf ihr Deutsch – im Sinne von sprachlicher Kompetenz – eingegangen worden ist, wie dies in ähnlicher Weise bei vielen heutigen Autoren der Fall ist: »Als ein seltener Vorzug aber he-rausgehoben sei das vortreffliche Deutsch der Verfasserin; es giebt manchen berühmten Mann, der davon lernen könnte« (En-gel 1898/99, 391). Eine Besprechung zum »Zwischenland« endet mit einem Hinweis auf Rechtschreibfehler: »Die Orthographie der Verfasserin wird auch nicht nach jedermanns Geschmack sein; oder soll der neue Duden Bukett, Büfett, Minarett, Papillo-ten, Tee gebieten?« (Platzhoff-Lejeune 1903, 1584)

Der »neue Duden« (gemeint ist Konrad Duden, »Orthographi-sches Wörterbuch der deutschen Sprache für Deutschland, Ös-terreich und die Schweiz gültigen amtlichen Regeln«, Leipzig, Wien, Bibliographisches Institut) war 1902 erschienen, zeitgleich mit der Rechtschreibreform, die ab Januar 1903 verbindlich wurde. Aber die kritische Anmerkung des Journalisten verliert nicht nur durch diese Chronologie an Halt, sondern vor allem durch die Tatsache, dass sämtliche als zweifelhaft aufgeführten Begriffe der neuen Rechtschreibnorm von 1902 voll und ganz entsprechen. Die in der Rezension aufgeführte Liste hätte übri-gens durch die Begriffe »Sammetmöbeln« (IZw, S. 19) und »Renntierbraten« (IZw, S. 60) erweitert werden können, denn ersterer ist in dieser Variation heute noch möglich (wenn auch veraltet), während letzterer tatsächlich das doppelte n, wenn-gleich zurzeit der Salomé'schen Niederschrift noch gültig45,

in-zwischen tatsächlich verloren hat – Rechtschreibreformen ge-stern wie heute liefern offensichtlich Grund bzw. den Vorwand zu Streitigkeiten. Klar ist, dass Anmerkungen zur Rechtschrei-bung – tadelnd oder lobend ist dabei einerlei – bei einem als grundweg deutsch identifizierten Autoren kaum aufzufinden

45 Der Duden von 1902 (Leipzig und Wien, Bibliographisches Institut, 7. Auflage)

(40)

sind. Die Folge dieser Ausgrenzung ist, dass sprachliche Beson-derheiten beurteilt auf der Folie grammatikalischer Norm damit tendenziell Gefahr laufen, als poetisch ausdrucksstark nicht wahrgenommen zu werden46.

Auf textimmanenter Ebene weisen insbesondere Boris' Ver-langen nach russischer Zugehörigkeit, Maschas und Daschas Gefühl des Weggeschleppten aus ihrem Dora- und Marie-Da-sein sowie Ljubows Bindung an die deutsche Muttersprache darauf hin, dass die Frage der sprachlichen Identität bei Lou Andreas-Salomé problematisiert ist, wie das auch vielfach der Fall ist bei »interkulturellen Autoren« der Jetztzeit. Beide Lite-raturen, gestrige wie heutige, laden dazu ein, der Frage der Be-ziehung zwischen dem Individuum und seiner bzw. seinen Sprache(n) nachzugehen, also auf das Problemfeld sprachlicher Alterität zu fokussieren.

Lou Andreas-Salomés Verwendung von Begriffen, die heute laut Wahrig zur Bildungssprache zählen, sei hier erwähnt, denn sie verweisen auf die Relativität zwischen Eigenem und Frem-den: »ostentativ« schweigt Mademoiselle Marie zu Michaels Un-höflichkeiten47, während Musja nicht gescheut hatte, diese als

»Sakrilegium« einzustufen (IZw, S. 13), wenig später sieht es aus als »mokiere« sich der ältere Bruder über die Weihnachtsvorbe-reitungen (IZw, S. 20); »Subordination«, »Ovation« sind Aus-drücke, die in »Vaters Kind« fallen (IZw, »Vaters Kind«, S. 89 bzw. S. 103); es ist »maliziös« wie Anna ihre Cousine in »Eine erste Erfahrung« stichelt, welche an anderer Stelle »frappiert« ist von den Reden der durch sie idealisierten Frau Alexanders (IZw, »Eine erste Erfahrung«, S. 194); »resolut« klappt Dascha

46 Vgl. hierzu den Sammelband »Literatur ohne Grenzen« (Amodeo u.a. 2009, 13–

18).

47 IZw, S. 13; »ostentativ« ist auch in »Eine erste Erfahrung« gebraucht: »›Das

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den Rilke'schen Gedichtsband zu, »indigniert« bemerkt sie zu ihrer Schwester, diese werde immerfort rot, und schließlich weist das herbstliche »Blattbukett«, Dekor der verpassten Au-sprache zwischen Mascha und Dascha im Taurischen Garten, gleichfalls eine französische Herkunft auf (»Die Schwester«, S. 141, S. 231 bzw. S. 243). Das Rückgreifen auf Französisches – sei es über ganze Sätze wie teilweise bei der wörtlicher Rede Mademoiselle Maries der Fall, sei es über Fremdwörter – ist zu Lou Andreas-Salomés Zeit ohne Zweifel üblicher, bzw. wurde als weniger fremd/befremdend empfunden als heute48.

Ein-leuchtend erscheint erst einmal auch, diese Wortwahl mit einem realistischen Anliegen in Zusammenhang zu bringen, verweisen doch die französische Sprache sowie dem Französischen ent-lehnte Begriffe auf den Kosmopolismus St. Petersburgs und auf die reale (wenngleich auch stets relative) Zweisprachigkeit wie sie die gehobene russische Gesellschaft des 19. Jahrhunderts all-gemein kennzeichnet. Berühmtes Beispiel ist hier die Ouvertüre des Tolstoi'schen Romans »Krieg und Frieden«, die zweispra-chig ansetzt, indem das dominierende Französisch mit russi-schen Begriffen durchsetzt ist. Bemerkenswert ist jedoch, dass es Lou Andreas-Salomé wohl nicht vorherrschend um ein getreues Darstellen geht. Sondern setzt sie die Realität sprachlicher Va-riationen gezielt sinnstiftend ein. Die »Pelz-Szene« in »Eine erste Erfahrung«, die das Abkommen – den Pakt – zwischen Alexan-der (»Im Pelz«) und Lisa darstellt, könnte dieses Spiel mit sprachlicher Alterität illustrieren: So ist anzunehmen, dass wenn der Frauenheld, statt Lisa seinen »Anwalt« zu nennen, sie lie-ber als »Schutzengerl« (»Eine erste Erfahrung«, S. 166) verstan-den haben will, der Text über diese regionale Einfärbung vor al-lem auf Lou Andreas-Salomés Schriftstellerkollegen und Freund

48 Dafür spricht auch, dass sämtliche eben genannte Begriffe im Duden von 1902

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Sacher-Masoch und sein Erfolgsbuch »Venus im Pelz« (1869) anspielt, und weniger das Österreicherische von realistischer Relevanz ist. Für diese Akzentuierung spricht ebenfalls die Art und Weise wie in gleicher Novelle das Befremdende über die Fremdsprache ausgearbeitet ist: Weil Lisa das Wort »acquisi-tion« fremd ist, ist es ihr unmöglich das aufgefangene Gespräch in seiner Eindeutigkeit zu begreifen, sie stößt sich an der frem-den Sprache (»Eine erste Erfahrung«, S. 185). Es ist die für das junge Mädchen fremde Sprache, die sie ins Wanken bringt und verunsichert, ja, die Befremdung gleichermaßen inkarniert und symbolisiert.

Auch die Sprache der russischen Figuren, ohne auf das Russi-sche de facto zurückzugreifen, ist auffallend, insofern diese sich deutlich von denen der übrigen unterscheiden. Tatsächlich ver-weisen die Reden des russischen Dichters (»Im Zwischenland«), des Zöglings Andrejs (»Vaters Kind«), die russischen Ge-sprächspartner in »Die Schwester« sowie die der Matuschka und ihres Kapitänsbruders (»Wolga«) auf eine Form von Misch-sprachigkeit, im Sinne eines Schreibens zwischen den Sprachen (russisch/deutsch), die die Figuren von den anderen abgrenzt, in ein Anderes situiert. Auch diese Reden tragen dazu bei, über die andere Sprache, Befremdung zu erzeugen.

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»Ab 1900 kommt eine intensive Emotion auf, verbunden mit dem Neuentdecken des Russlands ihrer Kindheit, dementspre-chend ist die russische Sprache der Inbegriff einer ursprüngli-chen Allumfasstheit, einer primitiven Weisheit […]. Im Gegen-satz zu Wedekind, für den alle Sprachen im universellen Babel der Lüge gleichwertig sind, alle drücken die Brutalität der sexu-ellen Begierde aus, glaubt Lou Andreas-Salomé an die Sprache der Authentizität, nämlich an jene, mit der Russland zu seinen Kindern spricht« (Michaud 2002, 193, Übersetzung BB).

Lou Andreas-Salomé ist also weit entfernt von dem Gedan-ken, aus Mehrsprachigkeit ein neues ästhetisches Programm ab-zuleiten – diese Idee wird Apollinaire in seinem Manifest »L'an-titradition futuriste« entwickeln, in dem die Parallelstellung zwischen Eiffelturm und Babelturm wieder zu finden ist, gut zehn Jahre nach der Veröffentlichung des Salomé'schen »Zwi-schenland«. Anders als bei den avant-gardistischen Bewegun-gen ist Mehrsprachigkeit bei Lou Andreas-Salomé »eher« nega-tiv besetzt, da ihrem Traum der All-Einigkeit entgegengesetzt. So zumindest stellt sich uns der polyglotte Valdevenen dar, tra-gisch Reisender, zerstückelt und heimatlos; so erscheint uns Lisa in ihrem Unverständnis gegenüber der fremden Welt, die sich nach der Hochzeit auftut, die sich in ihrer Sprache nicht fassen lässt, deren fremde Sprache sie nicht spricht.

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Zwischenland« in die Ästhetik um 1900 klar eingeschrieben. Sprachliche Identität, Zugehörigkeit und Ursprung – das sind aktuelle Fragestellungen ihrer Zeit, die Lou Andreas-Salomé in ihrem »Zwischenland« anspricht und die mit dazu einladen, sich ihren Novellen heute erneut zuzuwenden.

Britta Benert

Literatur

Von Lou Andreas-Salomé

Zu den erwähnten selbständigen Schriften siehe die Siglenliste. »Der Mensch als Weib«, in: Neue Deutsche Rundschau, 10

(1899), 225–243 (siehe auch AuE 2)

»Ketzereien gegen die moderne Frau«, in: Die Zukunft, 26 (1899), 237–240 (siehe auch AuE 3.2)

»Vom Kunstaffekt«, in: Die Zukunft 27 (1899), 366–372 (siehe auch AuE 3.2)

»Jutta. Récit«, hg. und übersetzt von Stéphane Michaud. Paris 2000

»Am Krötenteich« (unveröffentlicht)

Sekundärliteratur

Amodeo, Immacolata/Hörner, Heidrun/Kiemle, Christiane (Hg.): »Literatur ohne Grenzen. Interkulturelle Gegenwartsli-teratur in Deutschland – Porträts und Positionen«. Sulzbach/ Taunus 2009

Baedeker, Karl: »Baedekers Russland«, 1888, 2. Auflage

Bäumer, Gertrud: »Lou Andreas-Salomé«. In dies. »Gestalt und Wandel. Frauenbildnisse«. Berlin 1939, 469–506

(45)

An-dreas-Salomé. Bruxelles 2011 (»Nouvelle poétique compara-tiste«, n° 26)

Berbig, Roland: »Theodor Fontane im literarischen Leben: Zei-tungen und Zeitschriften, Verlage und Vereine«. Berlin/New York 2000

Berman, Russell A.: »Literarische Öffentlichkeit«, in: »Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte«. Hg. von Albert Glaser, Bd. 8 (»Jahrhundertwende. Vom Naturalismus zum Expressionis-mus 1880-1918«, hg. von Frank Trommler), Reinbek bei Ham-burg 1982, 69–85

Brausewetter, Ernst: »Ein Weib als Dichterin«, in: Das Magazin für Literatur, 67. Jahrgang, Nr. 34 und 35, 27. August und 3. September 1898, Spalte 801-805 und 823–827

Bülow, Frieda von: »Männerurtheil über Frauendichtung«, in: Die Zukunft, 1898/99, Heft 26, 7, 26-29

Bülow, Frieda von: »Neue Bücher« [Rezension zu »Im Zwi-schenland«], in: Vom Fels zum Meer, 1902/03, 474–475 (siehe den Abdruck in diesem Band)

Clauss, Eva-Maria: »Die Muse als Autorin. Zur Karriere von Lou Andreas-Salomé«, in: »Deutschsprachige Schrifttellerinnen des Fin de Siècle«. Hg. von Karin Tebben, Darmstadt 1999, 48–70 »Die literarische Moderne (1890-1920)«, in: Deutsche Literatur-geschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart 2008

Dohm, Hedwig: »Reaktion in der Frauenbewegung«, in: Die Zu-kunft, 1899, Heft 29, 279–291

Dohm, Hedwig: »Die Antifeministen. Ein Buch der Verteidi-gung«, Berlin 1902.

(46)

Engel, Eduard: Rezension zu »Fenitschka«, in: Das Literarische Echo. 1898–1899, 1, 391

Fischer, Ernst: »Der Schutzverband deutscher Schriftsteller (1909-1933) (mit Register)«, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens; Band XXI: Lieferung I, Februar 1980, Frankfurt am Main 1980, 1–666

Gahlinger, Chantal: »Der Weg zur weiblichen Autonomie. Zur Psychologie der Selbstwerdung im literarischen Werk von Lou Andreas-Salomé«. Bern 2001

Graf, Andreas: »Die Ursprünge der modernen Medienindustrie: Familien- und Unterhaltungszeitschriften der Kaiserzeit (1870-1918)«. Hier zitiert nach der überarbeiteten online-Fas-sung. Der Beitrag ist erstmals erschienen in: »Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert«, hg. von Georg Jäger. Bd. 1: Das Kaiserreich 1871–1918. Teil 2. Frank-furt am Main, 2003, 409–522

Grimm, Jacob und Wilhelm: »Deutsches Wörterbuch«, 1860 Gutjahr, Ortrud: »Jugend als Epochenthema um 1900«, in:

»Frei-burger Literaturpsychologische Gespräche. Jahrbuch für Lite-ratur und Psychoanalyse«. Hg. von Johannes Cremerius et al., Bd. 16: »Adoleszenz«, 1997, 117–147

Gutjahr, Ortrud: »Interkulturalität als Forschungsparadigma der Literaturwissenschaft. Von den Theoriedebatten zur Analyse kultureller Tiefensemantiken«, in »Zwischen Provokation und Usurpation. Interkulturalität als (un)vollendetes Projekt der Literatur- und Sprachwissenschaften«, hg.von Dieter Heimbö-ckel et al., München 2010, 17–39

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