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Der Bayes’sche Wahrscheinlichkeitsbegriff lässt sich zur Quantifizierung von Risiken nutzen. In die-sem Kapitel wird der Risikobegriff im Zusammenhang mit Wahrscheinlichkeiten diskutiert. Es werden verschiedene Methoden vorgestellt, mit denen sich Risiken modellieren und quantifizieren lassen: Proba-bilistische Szenarienanalysen, Baumdiagramme, Monte Carlo-Methoden, statistische Modellierung und Bayes’sche Netzwerke. Bei statistischen Modellen wird die Notwendigkeit von Homogenitätskonzep-ten herausgearbeitet. Als vielseitigem Werkzeug wird Einflussdiagrammen ein besonderes Augenmerk gewidmet.

3.1 Risiko-Definitionen 3.1.1 Allgemeine Definitionen

Eine einheitliche Definition des Begriffs Risiko existiert nicht. Zur Annäherung an den Begriff werden zunächst verschiedene Deutungen genannt. Die vielen Facetten beschreibt RiskNet (2008) so:

„Über den Begriff und die Definition des Risikos gibt es in der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur und Diskussion verschiedene Auffassungen. Die Definitionen reichen von ’Gefahr einer Fehlabweichung’ bis zur mathematischen Definition ’Risiko = Wahrscheinlichkeit x Ausmaß’.

Allgemeine Definition: Die Möglichkeit eines Schadens oder Verlustes als Konsequenz eines bestimmten Verhaltens oder Geschehens; dies bezieht sich auf Gefahrensituationen, in denen nachteilige Folgen eintreten können, aber nicht müssen. Ethymologisch kann man Risiko zum einen auf riza (griechisch = Wurzel, Basis) zurückverfolgen; siehe auch risc (arabisch

= Schicksal). Auf der anderen Seite kann Risiko auf ris(i)co (italienisch) zurückverfolgt werden, die Klippe, die es zu umschiffen gilt.“

Im Gegensatz zur obigen Definition kann Risiko aber auch positiv konnotiert sein. Beim Lottospiel steht der mögliche Gewinn im Vordergrund und nicht der recht sichere Verlust. Eine Unterteilung in Risiken

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für Ereignisse mit negativen Folgen und Chancen für Ereignisse mit positiven Folgen ist problematisch, wenn die Risiken der einen Seite die Chancen der anderen sind. In einer Privatwirtschaft ist dies häufig der Fall. Komplikationen lassen sich vermeiden, indem sowohl positive als auch negative Konsequenzen als Risiko zugelassen werden.

Einer Analyse von Risikodefinitionen in Aven und Renn (2009) zufolge lassen sich die dort betrachte-ten Definitionen in zwei Kategorien aufteilen: Risiko wird entweder mittels Wahrscheinlichkeibetrachte-ten und Erwartungswerten ausgedrückt oder aber durch Ereignisse/Konsequenzen und Unsicherheiten. Die dort entwickelte Definition lautet: Risiko verweist auf Unsicherheit über Konsequenzen (oder Ergebnisse) und deren Gewicht aus einer Aktivität bezogen auf etwas von menschlichem Wert.

Der heutige Risikobegriff hat sich damit deutlich von seinen Ursprüngen entfernt: Der klassische Risiko-begriff von Frank Knight (vgl. Knight (2002), entnommen aus Holton (2004)) grenzt die Begriffe Sicher-heit, Risiko und Unsicherheit voneinander ab. Risiko beinhaltet messbare UnsicherSicher-heit, also Wahrschein-lichkeit. Wahrscheinlichkeit als Unsicherheitsmaß ist dabei eine Systemeigenschaft, die zwar unbekannt, aber objektiv vorhanden ist. Meinungen, allgemeine Hypothesen besitzen diese Eigenschaft nicht und werden unter dem Begriff der Unsicherheit vom Risiko abgegrenzt.

Nach Bayes’scher Lehre ist Wahrscheinlichkeit allerdings ein persönliches Maß von Unsicherheit. Sie erlaubt die Anwendung des Wahrscheinlichkeitsbegriffs auch auf Meinungen. Vor allem ist Wahrschein-lichkeit aber keine Systemeigenschaft sondern ein geistiges Konstrukt. Die von Knight gewählte strenge Abgrenzung zwischen Risiko und Unsicherheit ist von diesem Standpunkt aus schwer haltbar.

Allen Risikokonzepten ist eine Unsicherheit darüber gemein, ob das jeweilige Ereignis tatsächlich ein-treten wird oder nicht. Gefahren, die unvermeidlich erscheinen, werden nicht als Risiko bezeichnet. So wird die Gefahr, durch Regen nass zu werden, durch die Erfindung des Regenschirms zu einem Risiko (Luhmann, 1990). Der Sprung aus einem Flugzeug ohne Fallschirm ist ein weiteres Beispiel: Da der Tod unvermeidlich erscheint, stellt er kein Risiko dar3(Holton, 2004). Dies deckt sich mit der Knight’schen Abgrenzung von Sicherheit und Risiko. Ein Mensch kann jedoch nie vollständig sicher sein. Die Ab-grenzung zwischen Risiko und Sicherheit ist damit theoretisch heikel (siehe dazu Earman, 1992) und folglich entbehrlich.

Holton (2004) arbeitet Betroffenheit als Merkmal von Risiko heraus. Ohne diese Eigenschaft wäre jegli-ches unsicheres Ereignisse ein Risiko. Ein Risiko muss jedoch Konsequenzen für den Menschen haben.

Holton zufolge ist Risiko eine Eigenschaft von Individuen, die ein Selbstbewusstsein voraussetzt: Ein Ri-siko muss wahrgenommen werden können. Dies lässt sich mit subjektiven Wahrscheinlichkeiten gut ver-einbaren, die ebenfalls ein Bewusstsein voraussetzen. Demnach können nach Holton aber nur Personen Träger von Risiken sein, nicht Organisationen. Er kommt allerdings zum Schluss, dass eine allgemeine und zugleich operationale Definition von Risiken nicht möglich sei.

Einen Kompromiss für einen allgemeinen und trotzdem praktikablen Risikobegriff liefert die genormte Risikodefinition der ISO (ISO, 2002):

Definition 1 (Risiko) Risiko ist die Kombination von Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses und seinen Auswirkungen.

3Das stimmt allerdings nicht: Es gibt Beispiele für Stürze aus mehreren Kilometern Höhe, die nicht tödlich endeten. Die Stewardess Vesna Vulovic überlebte angeblich einen Flugzeugabsturz aus 10 Kilometern Höhe, was aber als Geheimdienster-findung gilt (Welt Online vom 10. Januar 2009). Der Neuseeländer Michael Holmes überlebte einen Sturz aus 4 km Höhe mit defektem Fallschirm (FAZ vom 13. Februar 2007).

3.1.2 Operationale Herangehensweisen an Risiko

Der allgemeinen Risikodefinition steht eine operationale Herangehensweise gegenüber. Der Risikobe-griff wird dabei aus einer spezifischen Fragestellung heraus entwickelt. Dies führt allerdings zu wider-sprüchlichen Definitionen von Risiko (Aven, 2003): In traditionellen Ingenieursanwendungen wird Ri-siko als physikalische Eigenschaft gesehen, die analysiert und geschätzt wird. Bei Investitionsentschei-dungen wird Risiko mehr als ein subjektives Maß von Unsicherheit gesehen: Das Risiko ist Ausdruck für die Unsicherheit der Rendite. Es ist umso größer, je größer die Abweichung vom erwarteten Ergebnis ist und wird durch Streumaße wie Varianz und Standardabweichung gemessen.

Die folgenden Beispiele sollen dies ergänzen. Drei praktischen Herangehensweisen (nach Aven et al., 2004) steht eine entscheidungstheoretische (nach Berger, 1985) gegenüber.

Entscheidungstheorie Der Risikobegriff aus der statistischen Entscheidungstheorie beschreibt nach Berger (1985) den erwarteten Verlust in Abhängigkeit von einer Entscheidung unter Unsicherheit über den Zustand der Welt. Dieser Risikobegriff ist im Gegensatz zu den nachfolgenden eher abstrakt und setzt die Existenz einerNutzenfunktion (bzw. derem negativen Äquivalent, die Verlustfunktion) sowie einen rationalen nutzenmaximierenden Akteur voraus. Weil der Grenznutzen von Geld sinkt, entspricht der Wert der Verlust- bzw. Nutzenfunktion nicht dem Verlust bzw. Gewinn in Geldeinheiten.

Das Entscheidungsproblem besteht aus vier Komponenten:

• einer MengeΘvon möglichen Zuständen der Welt,

• einer Menge von möglichen EntscheidungenD,

• einer VerlustfunktionL(bzw. eine NutzenfunktionN =−L),

• einer Stichprobe mit StichprobenraumX.

Die relevanten Zustände der Welt werden über die Größeθ∈ Θparametrisiert. Die Entscheidung oder Handlungd∈Dwird nach einer Entscheidungsregelδ(~x)in Abhängigkeit von Daten~x∈ X getroffen.

Die Daten sind wiederum Realisationen eines Zufallsvektors mit Dichtefunktionp(~x|θ) (zur Vereinfa-chung werden alle Verteilungen in diesem Abschnitt als stetig angenommenen, andernfalls müssten bei diskreten Verteilungen die Integrale durch Summen ersetzt werden). Die Verlustfunktion L(θ, d) gibt den Verlust an, der beim Zustandθdurch die Entscheidungd=δ(~x)entstünde.

Das Risiko einer Entscheidungsregel wird definiert als erwarteter Verlust R(θ, δ) =E(L(θ, δ)) =

Z

X

L(θ, δ(~x)) p(~x|θ)dx.

Das sogenannte Bayes-Risiko unterscheidet sich hiervon dadurch, dass über die Daten hinausgehendes Wissen über den Zustand der Welt besteht, welches sich in einer Priori-Verteilung vonθmit Dichtefunk-tionp(θ)ausdrückt. Das Bayes-RisikoRBist damit bestimmt durch

RB(p(θ), δ) =Eθ(R(θ, δ)) = Z

Θ

R(θ, δ) p(θ)dθ.

Bayesianer wie Lindley (1994) lehnen die Verwendung des Bayes-Risikos ab! Nach dem Likelihoodprin-zip (alle wesentlichen Informationen der Daten stecken in der Likelihoodfunktion p(~x|θ), vgl. Berger (1985, S. 23ff)) darf nur die an den Daten ausgewertete Dichtefunktion (die Likelihoodfunktionp(~x|θ))

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berücksichtigt und keine Integration über den Stichprobenraum vorgenommen werden. Anstelle des Ri-sikos wird der posteriori erwartete Verlustρeiner Entscheidung oder Handlungdminimiert:

ρ(p(θ), d) = Z

Θ

L(θ, d) p(θ|~x)dθ.

Unfallrisiko Nach Aven et al. (2004) wird in Ingenieurswissenschaften Risiko üblicherweise als ei-ne Liste von Folgen mit ihren zugehörigen Wahrscheinlichkeiten betrachtet. Dies geschieht häufig in Verbindung mit Unfällen, beispielsweise beim Planen von Ölplattformen oder beim Brückenbau. Risi-ko steht hier in engem Zusammenhang mit Unfallstatistiken, die aus Daten der Vergangenheit geschätzt werden. Eine Berufung allein auf Häufigkeiten für hierbei oft in die Irre: Schwere Unfälle kommen normalerweise nur sehr selten vor. Es gibt daher nur wenig Daten über solche Vorkommnisse, was die Schätzung erschwert. Infolge von Unfällen getroffene risiko-reduzierende Maßnahmen sorgen zudem da-für, dass die Daten nicht homogen sind. Für die Wahrscheinlichkeit zukünftiger Unfallereignisse liefert die relative Häufigkeit innerhalb der Aufzeichnungsperiode daher keine adäquate Einschätzung. Hierzu ist eine Risikoanalyse nötig, die sich mit kausalen Zusammenhängen beschäftigt. Häufig werden hierfür Ereignis- oder Fehlerbäume verwendet.

Portfolio-Management In der Portfoliotheorie sind Risiko mit der Unsicherheit über den Wert von Wertpapierportfolien verbunden. Durch geschickte Zusammenstellung des Wertpapierportfolios soll das Risiko minimiert werden, welches meist in der Varianz oder Standardabweichung des Portfolio-Werts ge-messen wird. Das Standardmodell für die Analyse von Risiken ist das sogenannte CAPM-Modell (Capi-tal Asset Pricing Model). Unter Annahme eines vollkommenen Marktes wird ein repräsentatives Markt-portfolio gebildet, welches gleichmäßig alle gehandelten Wertpapiere im Verhältnis zu ihrem Marktwert enthält. Dieses Marktportfolio dient als Referenzportfolio. Bei der Betrachtung des Risikos unterschei-det die Theorie des CAPM zwischen systematischem und unsystematischem Risiko. Unsystematische Risiken sind Risiken wie Managementfehler, die durch Diversifikation über viele Titel vermieden bzw.

vernachlässigt werden können. Systematische Risiken sind nicht diversifizierbar. Als typische Beispiele für systematisches Risiko gelten Renditeänderungen durch „exogene Einflüsse“ wie Katastrophen, Ver-änderungen im politischen Umfeld oder VerVer-änderungen des Marktzinses. Für ein Portfolio aus vielen Titeln spielt bei einer richtigen Diversifizierung nur das systematische Risiko eine Rolle. Dabei gelten die sogenannten β-Faktoren als Risikomaß. Sie werden normalerweise durch Regressionsmodelle aus historischen Daten geschätzt (Quelle: Aven et al., 2004).

Unternehmensbewertung oder Projektplanung Unternehmen oder Projekte lassen sich über den Ka-pitalwert (net present value, NPV) bewerten. Das Risiko wird aus der Unsicherheit über diese Kennzahl abgeleitet. Der Kapitalwert berechnet sich aus den diskontierten Zahlungsströmen (Discounted Cash Flows, DCF). Dabei werden die zukünftigen ZahlungsströmeXtdes Unternehmens festgelegt und nach ihrem Zeitpunkt (t= 1, ..., T) mit dem Diskontfaktorrabgezinst:

NPV=

Ein positiver Kapitalwert spricht für die Investitionsentscheidung. Das Risiko kann auf zwei verschiede-nen Varianten eingepreist werden:

• Für die Zahlungsströme wird ihr Erwartungswert eingesetzt. Das Risiko, d.h. die Unsicherheit über die Abweichung vom Erwartungswert, muss dann durch den Diskontfaktor r erfasst wer-den. Dieses risikoangepassterwird üblicherweise nach dem CAPM-Ansatz (s.o. beim Portfolio-Management) aus historischen Daten von ähnlichen Unternehmungen bestimmt.

• Im zweiten Ansatz wird die Unsicherheit explizit über die Zahlungsströme ausgedrückt. Dies ge-schieht etwa durch Szenarienanalyse, wobei häufig drei Szenarien verwendet werden: Das pessi-mistischste, das optimistischste und das wahrscheinlichste. Eine andere Vorgehensweise entspricht der Bayes’schen Denkweise. Dabei werden die Zahlungsströme als Zufallsvariablen betrachtet oder aus Zufallsvariablen berechnet. Der Kapitalwert ist als Funktion von Zufallsvariablen dann wieder eine Zufallsvariable. Mit deren Wahrscheinlichkeitsverteilung wird das Risiko abgebildet oder durch Risikomaße gemessen. Bei diesem Vorgehen besteht Uneinigkeit über die Wahl des Diskontfaktors. Es finden sich sowohl Befürworter eines risikofreien als auch eines nach CAPM risikoangepassten Diskontfaktors. Dieses Problem wird üblicherweise ignoriert. Die Frage lautet dann: Wie hoch ist der Kapitalwert gegeben eine bestimmte Diskontrate? (Quelle: Aven et al., 2004)

3.2 Risikoanalysen

Eine Risikoanalyse versucht folgende Fragen zu beantworten (Bedford und Cooke, 2001):

• Was kann passieren?

• Wie wahrscheinlich wird dies passieren?

• Was sind die Konsequenzen, wenn dies eintritt?

Zusätzlich soll eine Risikoanalyse auch Handlungsoptionen bewerten. Praktiker stellen heraus, dass jede Risikoanalyse individuell an das jeweilige Problem angepasst werden muss (Vose, 2008). Zur Beantwor-tung der Fragen gibt es daher kein Patentrezept. Dennoch lassen sich einige allgemeingültige Aussagen zur Analyse von Risiken treffen.

3.2.1 Sechs Stufen der Behandlung von Risiken

Paté-Cornell (1996) arbeitet sechs Ebenen heraus, auf denen Risiken analysiert werden. Die probabilis-tische Risikoanalyse steht dabei für die umfassendste Analyse. Sie ist jedoch mit dem größten Aufwand verbunden. Für jeden der einfacheren Fälle gibt es allerdings Beispiele, in denen das Risiko unzureichend erfasst wird.

Die sechs Ebenen nach Paté-Cornell (1996) sind:

• Ebene 0 – Gefahrenermittlung und Identifizierung von Versagensarten (hazard detection and failu-re modes identification): Auf dieser Stufe wird lediglich festgestellt, ob oder auf welche Art eine Gefährdung besteht. Es wird nicht versucht, das Risiko zu quantifizieren.

• Ebene 1 – Annahme des schlimmstmöglichen Falls (worst case approach): Auf dieser Stufe wird untersucht, was in einem Katastrophenszenario – bei Eintreten des schlimmstmöglichen Falls – geschehen würde. Die Auswirkung wird durch den größtmöglichen Verlust quantifiziert, allerdings wird nicht die Wahrscheinlichkeit des Eintretens untersucht.

• Ebene 2 – quasi-schlimmstmögliche Fälle und plausible Obergrenzen (quasi-worst cases and plau-sible upper bounds): Diese Stufe widmet sich „plauplau-siblen oberen Schranken“. Hier wird der schlimmst-mögliche Fall unter der Einschränkung betrachtet, dass sein Eintreten noch realistisch erscheint.

Der Wahrscheinlichkeitsgedanke ist in diesem Ansatz rudimentär vorhanden.

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• Ebene 3 – beste Schätzungen und mittlere Werte (best estimates and central values): Diese Stufe liefert eine Schätzung für einen mittleren Wert (in der Regel der Erwartungswert oder Median) für die Funktion der Auswirkungen (z. B. die Verlustfunktion). Diese Vorgehensweise geht über die Fokussierung nur auf die schlimmstmöglichen Fälle hinaus und bezieht alle möglichen Fälle ein.

Dadurch wird eine realistischere Einschätzung der Folgen ermöglicht.

• Ebene 4 – probabilistische Risikoeinschätzung (probabilistic risk assessment, single risk curve):

Dies bedeutet die Anwendung der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Nicht mehr allein der mittle-re Wert wird präsentiert, sondern eine Wahrscheinlichkeitsverteilung über alle möglichen Werte.

Diese wird entweder durch klassische Schätzverfahren oder mit Bayes’schen Methoden bestimmt.

Die Analyse kulminiert in einer Risikokurve, also der Darstellung der Höhe des Verlusts gegen die Überschreitungswahrscheinlichkeit.

• Ebene 5 – probabilistische Risikoanalyse und mehrfache Risikokurven (probabilistic risk analysis, multiple risk curves): Auf dieser Stufe wird eine probabilistische Risikoeinschätzung durchgeführt und zugleich Unsicherheiten über fundamentale Hypothesen mit mehreren Kurven dargestellt. Die Kurven stehen dabei für die unterschiedlichen Einschätzungen von Experten und repräsentieren deren Uneinigkeit. Sie können entweder die von ihnen präferierten Modelle darstellen oder beim Bayes-Ansatz auf den von den Experten abgefragten Wahrscheinlichkeiten basieren.

Das in dieser Arbeit beschriebene Bayes’sche Risikomanagement ist auf Ebene 4 angesiedelt. Wür-den Sensitivitätsanalysen zu Wür-den unterstellten Wahrscheinlichkeiten betrieben, wäre ohne theoretischen Mehraufwand auch Ebene 5 abgedeckt. Mit Bayes’schen Methoden ist also eine vollständige, d.h. mög-lichst umfassende Risikoanalyse und -quantifizierung möglich.

3.2.2 Schematische Betrachtung einer Risikoanalyse

Eine Risikoanalyse zielt typischerweise neben dem Verständnis des Problems auch auf die Bewertung von Entscheidungen ab. Zur Auswahl einer optimalen Entscheidung bedarf es eines Entscheidungskrite-riums, wie des klassischen Maximierens des erwarteten Nutzens (vgl. S. 22). Weitere Entscheidungskri-terien können das Minimieren des maximalen Verlustes, das Ausschließen von bestimmten Ereignissen oder das Einhalten eines Grenzwerts sein. Unter theoretischen Gesichtspunkten ist der Gang über Nut-zenfunktionen am befriedigendsten, in der Regel aber unpraktikabel.

Die Entscheidungstheorie erlaubt, den Entscheidungsprozess in zwei Schritte zu teilen. Der erste Schritt besteht in der Einschätzung der Unsicherheiten durch Wahrscheinlichkeiten, welche durch Experten ge-macht werden kann. Im zweiten Schritt wird durch die Nutzenfunktion des Entscheidungsträgers spe-zifiziert und damit die optimale Entscheidung identifiziert. Die Abhängigkeit der Entscheidung von den Präferenzen kann durch eine Sensitivitätsanalyse untersucht werden, d.h durch Ausprobieren un-terschiedlicher Nutzenfunktionen. Häufig zeigen sich Entscheidungen robust gegenüber Abweichungen in der Nutzenfunktion (Bedford und Cooke, 2001).

In realen Anwendungen wird der zweite Schritt oft weggelassen, um die Schwierigkeiten bei der Ermitt-lung der Nutzenfunktion zu vermeiden (Bedford und Cooke, 2001): Die Nutzenfunktion wird durch den monetären Wert ersetzt. Dies wird auch hier der Fall sein.

Abb. 5 schematisiert die Abläufe einer Risikoanalyse. Die Abbildung kann nach Aven (2003, S. 48ff) wie folgt übersetzt werden: „Ein Team von Risikoanalysten untersucht ein System unter Fokussierung auf die zukünftige Performance, welche mit einem PerformancemaßY gemessen wird. Diese Zielgrö-ße hängt von EinflussgröZielgrö-ßen, den sogenannten Treibern ab. Zu den TreibernX = (X1, ..., Xn) liegen Beobachtungen vor. Basierend auf dem Verständnis von der Welt werden ein oder mehrere Modelle for-muliert, welche das GesamtperformancemaßY mit den TreibernXverknüpfen. Die Analysten drücken

Abbildung 5: Aufbau einer Risikoanalyse. Quelle: Aven (2003).

die Unsicherheiten über die Treiber durch Wahrscheinlichkeitsverteilungen aus, notwendigerweise häu-fig mit Vereinfachungen. Mit Hilfe der Wahrscheinlichkeitsrechnung wird entsprechend dem Modell die Wahrscheinlichkeitsverteilung vonY berechnet und damit eine Vorhersage fürY erstellt.“

Anders ausgedrückt: Eine Zielgröße dient als Entscheidungsgröße. Sie ist aufgrund der Abhängigkeiten von den Einflussgrößen (z. B. durch Ursache-Wirkung-Beziehungen) eine mathematische Funktion der Treibervariablen. Wenn die einzelnen Einflussgrößen mit Unsicherheit behaftet sind, schlägt sich diese Unsicherheit auf die berechnete Zielgröße nieder. Haben die Einflussgrößen eine Wahrscheinlichkeitsver-teilung, so hat auch die Zielgröße eine Wahrscheinlichkeitsverteilung (vgl. Abb. 6). Die durch die Treiber verursachten Risiken werden durch die Wahrscheinlichkeitsverteilung der Entscheidungsgröße simultan erfasst. Die Wahrscheinlichkeitsverteilung dient dann zur Ableitung von Risikomaßen (Erwartungswert, Standardabweichung, Value at Risk, ...) oder direkt zum Treffen von Entscheidungen (Maximierung des erwarteten Nutzens). Das in Abb. 6 gezeigte Schema dient auch als Grundlage der sogenannten Monte Carlo-Methode (vgl. S. 29).

Bei der Festlegung der Wahrscheinlichkeiten müssen Abhängigkeiten zwischen den Treibern beachtet werden. Beispielsweise muss bei der Kühlung eines Kraftwerks nicht nur die Flusswassertemperatur, sondern auch die Menge an verfügbarem Wasser betrachtet werden. Beide Größen sind korreliert, da ein trockener, heißer Sommer sowohl für eine hohe Verdunstung als auch für eine starke Erwärmung sorgt.

Die Abhängigkeit wird dann entweder auf gemeinsame Ursachen zurückgeführt (in diesem Beispiel das Wetter) oder durch eine gemeinsame Wahrscheinlichkeitsverteilung unter Verwendung von Kovarianzen, Copulas oder anderen Abhängigkeitsbeziehungen modelliert. Statt der univariaten Wahrscheinlichkeits-verteilungen der einzelnen Treiber wird daher diegemeinsameWahrscheinlichkeitsverteilungaller Ein-flussgrößen benötigt. Dies geschieht etwa durch Zurückführen auf bedingte Unabhängigkeit (vgl. S. 2) und Diagrammtechniken. Diese Strukturierung von Risiken wird am Ende dieses Kapitels beschrieben (vgl. S. 34).

Gemäß des Bayes’schen Wahrscheinlichkeitsbegriffs ist es grundsätzlich möglich, ein Risiko allein mit Hilfe der auf S. 11 beschriebenen Expertenbefragung ohne ein explizites Modell zu quantifizieren. Al-lerdings stellen sich hierbei zwei Probleme:

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Abbildung 6: Unsicherheiten übertragen sich auf eine Entscheidungsgröße.

• Der Bayes’sche Wahrscheinlichkeitsbegriff ist normativer und nicht deskriptiver Natur: Personen sollen subjektive Wahrscheinlichkeiten gemäß der vorgestellten Regeln verwenden, wenn sie sich im Sinne der Nutzentheorie widerspruchsfrei verhalten wollen. Dies bedeutet nicht, dass Personen sich tatsächlich in der Lage sehen, diese Wahrscheinlichkeiten bei komplexen Problemen angeben und befriedigend begründen zu können.

• Wahrscheinlichkeiten können nur an einzelnen Personen erhoben werden. Bei einem Team vonm ExpertenE1, . . . , Em, die jeweils über relevante InformationsmengenI1, . . . , Im verfügen, kön-nen daher nur die Wahrscheinlichkeiten P(Y|I1), . . . , P(Y|Im) erhoben werden und nicht die gewünschte WahrscheinlichkeitP(Y|I =I1∪. . .∪Im). Es folgt daher das auf S. 16 beschriebene Aggregationsproblem. Durch Modellierung wird dieses Problem umgangen, indem das Risiko in Teilprobleme zerlegt und diese den geeigneten Experten zugewiesen werden.

Die Kunst der Risikoanalyse besteht daher darin, komplexe Probleme in Teilprobleme zu zerlegen, diese separat zu analysieren und anschließend wieder zusammenzuführen. Falls Daten vorliegen und verarbei-tet werden sollen, bieten sich dafür statistische Modelle an. Der Prozess der statistischen Modellierung wird mit seinen Voraussetzungen auf S. 30 diskutiert. Ohne Daten müssen die Wahrscheinlichkeiten allein mit Hilfe der Techniken von S. 15ff ermittelt werden, also im Expertengespräch oder mit einer anderen Methode zum Hervorlocken von Wahrscheinlichkeiten. Das Zusammenspiel dieser Wahrschein-lichkeiten im gewählten Modell regelt dann die Wahrscheinlichkeitsmathematik.

3.2.3 Grenzen von Risikoanalysen

Der quantitativen Risikoanalyse sind enge Grenzen bei der Berücksichtigung von Unsicherheit gesetzt.

Die Welt ist zu komplex, um sämtliche Möglichkeiten probabilistisch erfassen zu können. Bei zu restrik-tiven Annahmen werden die Ergebnisse nicht belastbar sein. Eine detaillierte Auseinandersetzung birgt aber die Gefahr von Verzettelung und Intransparenz. Die hohe Kunst einer Risikoanalyse besteht daher darin, ein Modell zu finden, welches so einfach wie möglich, aber so komplex wie nötig ist („Einsteins Ökonomieprinzip“). Dazu ist es normalerweise notwendig, mit einem groben Modell zu beginnen und es sukzessive zu erweitern. Durch Sensitivitätsanalysen sollte dabei untersucht werden, inwieweit die Verfeinerung des Modells noch Einfluss auf die Modellergebnisse hat. Die Modellierung gestaltet sich hierdurch als ein iterativer Prozess.

Die Einschränkung auf einen Teil der Unsicherheiten geschieht durch einschränkende Annahmen und

Die Einschränkung auf einen Teil der Unsicherheiten geschieht durch einschränkende Annahmen und

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