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The metaphor of life as an artwork arises from an aesthetic perspective on the crea-tive force of human freedom. This does not at all entail the bracketing of moral and cognitive aspects. They do, however, lose their exclusive claim to validity. The artist of life (Lebenskünstler) does not play out against each other the human abilities to be sensually and intellectually driven. Instead, in a competition with each other, she spurns on their productivity so as to achieve an existence that is successful as a whole.

In Western culture, models for such holistic self-realisation are the Biblical creator god (Schelling); the search for meaning of mythological gods such as Dionysus and Sisyphus (Nietzsche, Camus); and the playful self-creation of the artist (Schiller).

Die Metapher der künstlerischen Selbstproduktion ist schon alt. Unabhän-gig davon, ob mehr der handwerkliche, der ethische oder der ästhetische As-pekt bei der Ausführung des individuellen Lebensentwurfs im Vordergrund stand, galt die Selbstgestaltung als ein Privileg mündiger Menschen, die im-stande sind, eigene Ziele zu verfolgen und mittels dieser Ziele sich selbst zu verwirklichen. Als Gegenbild fungierte der Sklave, der seine Lebensform nicht selbst wählen konnte und im Dienst eines Herrn lebenslang dessen An-ordnungen zu befolgen hatte. Dem Sklaven qua Fremdbestimmtem war es verwehrt, mit seinen Fähigkeiten zu experimentieren, um sein Potential aus-zuloten. Damit war er unter den Menschen am weitesten entfernt von der göttlichen Lebensform. Die Götter Griechenlands konnten sich beliebig ver-wandeln, in einen Menschen oder auch in ein Tier oder eine Pflanze, um auf diese Weise ein angestrebtes Ziel zügig zu erreichen.

Die freien Bürger, angesiedelt zwischen den Göttern und den Sklaven, versuchten die Götter nachzuahmen, doch waren ihren Anstrengungen Gren-zen gesetzt. Gebunden an ihre biologisch vorgegebenen Körper, konnten sie diese nicht willkürlich verändern oder gar in andere Körper schlüpfen. Im-merhin vermochten sie an ihrem äußeren Erscheinungsbild und an ihren kör-perlichen Ausdrucksformen zu arbeiten – nach Maßgabe eines Idealbildes, das sie entsprechend ihren Vorstellungen vom Göttlichen für sich entwickel-ten und in sich hinein zu bilden trachteentwickel-ten. Die Seele übernahm die Aufgabe, den Körper nach ihren Vorstellungen zu formen, jedenfalls während der Zeit-spanne, in der sie zu einem irdischen Dasein gezwungen war und sich als Vernunftinstanz zu bewähren hatte, um nach dem Tod des Körpers auf die

Inseln der Seligen zum Uranos oberhalb des Himmels gelangen zu können, wo sie sich materiell unbeschwert ganz ihren geistigen Interessen hingeben durfte. Davon berichtet jedenfalls Platon im Schlussmythos der Politeia.1

So lange die Götter als Vorbild für die Sterblichen dienten, konnten diese die künstlerische Selbstgestaltung ihres Lebens am Beispiel der göttlichen ausrichten. Erst das Bilderverbot, mit dem der jüdische Gott belegt wurde, blendete den körperlichen Aspekt der individuellen Lebensformung aus und rückte das Körperlose, rein Geistige als das Nachzuahmende in den Blick.

Die mit der Verachtung alles Materiellen verbundene Abwertung, ja Verab-scheuung der Leibgebundenheit des Menschen führte dazu, dass die Vernunft zum alleinigen Leitfaden für die Lebensführung erhoben wurde, während mit den emotionalen und den affektiven Antriebskräften auch Phantasie und Vorstellungsvermögen ins Abseits gestellt wurden. Bestand Lebenskunst in der Antike darin, das wilde, ungebärdige Ross – wie es Platon im Phaidros- Mythos schildert2 – durch den Lenker so in das Gespann zu integrieren, dass es das Richtung gebende Seelen-Ross nicht ausbremst, sondern sich von die-sem in seinem Vorwärtsdrang unterstützen lässt, wurde in der jüdisch-christ-lichen Tradition die körperliche Lebenslust mitsamt den diese fördernden Genussmitteln weitgehend unterdrückt, um zu verhindern, dass physische Anreize den geistigen Interessen in die Quere kommen.

Dies änderte sich allerdings mit der Gestalt des Gottmenschen. Durch Je-sus bekam der Körper wieder Gewicht und wurde einbezogen in die Lebens-führung, auch wenn am Ende der geistig-seelische Anteil über das leidende Fleisch triumphiert und der verklärte Körper zum Immateriell-Göttlichen zu-rückkehrt. Dieser Sieg wurde philosophisch nicht ästhetisch, sondern ethisch gedeutet als Sieg des Guten über das Böse. Friedrich Wilhelm Joseph Schel-ling ging sogar so weit zu behaupten, dass bereits der Gott des Alten Testa-ments, wie er in der Genesis als schaffender Urkünstler schlechthin beschrie-ben wird, nicht von Ewigkeit her gleichsam fertig war, sondern im Vollzug der Schöpfung sich allererst als Gott herstellte. Die ursprünglichste Schöp-fung war daher die SelbstschöpSchöp-fung, in der Gott sich als Gott hervorbrachte.

Die Rekonstruktion dieses Prozesses der göttlichen Selbsterschaffung ist für die Menschen nur möglich, weil sie als Geschöpfe Gottes, die Gott ausdrück-lich als sein Ebenbild vorgesehen hat, mit Gott fundamentale Voraussetzun-gen teilen. Die wesentliche Voraussetzung für eine schöpferische Tätigkeit

1 Vgl. Platon: Politeia, 613e–621d, in: Platon. Sämtliche Werke in sechs Bänden (Rowohlt: Reinbek 1957ff.), Bd. III.

2 Vgl. Platon: Phaidros 246a–246d, in: op. cit., Bd. IV.

ist Freiheit. Wer etwas nach selbst gesetzten Zielen, nach einem Plan und damit gemäß einer Absicht hervorbringt, muss notwendigerweise frei sein.

Freiheit als «das Wesen des Menschen ist wesentlich seine eigne Tat».3 In-sofern ist Freiheit keine materielle Beschaffenheit wie Knochen, Haut und Fleisch. Vielmehr gibt es Freiheit nur, indem man aktiv wird, nach Zwecken handelt. Dies kann auch bei Gott nicht anders sein. Gott stellt seine Freiheit handelnd unter Beweis, im Prozess der Schöpfung. Der einzige Unterschied zwischen der göttlichen und der menschlichen Freiheit besteht darin, dass die Freiheit des Menschen von endlicher Dauer ist, durch einen Anfang und ein Ende in der Zeit begrenzt wird, während Gott außerhalb der Zeit, eben von Ewigkeit zu Ewigkeit seine Freiheit realisiert.

Also versuchte Schelling in einem ersten Anlauf, den man in der letzten von ihm veröffentlichten Schrift Über das Wesen der menschlichen Freiheit von 1809 nachlesen kann, die menschliche Freiheit zu ergründen, um der göttlichen Freiheit auf die Spur zu kommen. Bei dieser Untersuchung machte Schelling die ebenso erstaunliche wie irritierende Entdeckung, dass Gott nicht immer schon, von Ewigkeit zu Ewigkeit, Gott war, sondern sich in einem Akt freier Selbstbestimmung allererst als Gott hervorbrachte. Schel-ling erzählt also die Geschichte der Selbstwerdung Gottes – seiner Gottwer-dung –, in deren Verlauf die Welt mitentstanden ist, als ein Produkt, an dem sich der Verlauf seiner Entstehungsgeschichte als Prozess der Selbsterzeu-gung Gottes ablesen lässt. Die Erschaffung der Welt ist so verstanden nicht ein einmaliger Akt, der vor unvordenklichen Zeiten stattgefunden hat und in einem fertigen Universum abgeschlossen war. Vielmehr findet das von Schel-ling in seinen einzelnen Phasen entwickelte Werden Gottes immer statt, ent-sprechend wird das Universum bis in alle Ewigkeit expandieren.

Am Anfang der Schelling’schen Rekonstruktion steht Gott als ein Chaos, als der dunkle, vorbewusste Grund in Gott (der noch nicht Gott ist), dem jeg-liche Ordnungsstruktur abgeht. Da es das Wesen alles Lebendigen ist, aus sich herauszugehen und sich fortzupflanzen bzw. sich zu reproduzieren, ist auch Gott nur ein lebendiger Gott, wenn er seinen dunklen Grund verlässt und ans Licht gelangt bzw. sich in sich selbst lichtet. Möglich ist das Her-austreten aus dem Chaos des Grundes nur dadurch, dass darin noch unge-schieden alles beisammen ist, auch das Gegenteil des Chaos: das Formende, Ordnende, Lichtende, Vernünftige, Geistige. Dieses bewegt den Grund, macht seine Dynamik aus und erzeugt den Drang zum Transzendieren, in

3 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Über das Wesen der menschlichen Freiheit (Stuttgart: Reclam, 1964) 102.

welchem sich eine unbestimmte Sehnsucht oder Liebe artikuliert. Diese Sehnsucht zielt nicht ins Leere, sondern sucht nach Erfüllung, und das ein-zig Erfüllende, das es für Gott, der noch nicht Gott ist, geben kann, ist er selbst.

Schelling beschreibt diesen Vorgang als einen quasi-narzisstischen: In-dem Gott sich als von Sehnsucht Getriebener auf sich selbst bezieht, erblickt er in seinem Grund sein Wesen, das ihm als Inbegriff alles Liebenswürdigen aus dem Chaos entgegenleuchtet. Aber er kann seines Wesens nicht um-standslos habhaft werden, er muss um es kämpfen, weil der Grund es behal-ten und selbstsüchtig in sich verschließen will, sich daher hartnäckig dage-gen wehrt, dass Gott sein Ebenbild aus dem Grund herausheben und für sich setzen will. Wille steht hier gegen Wille. Nachdem Gott, der eigentlich noch gar nicht Gott ist, sein Wesen erblickt hat und sich seiner selbst bewusst ge-worden ist, kann er nicht mehr ohne Selbstverlust in den vorbewussten Zu-stand seines Ursprungs zurückkehren. Er will jetzt absolut er selbst sein, und dieses Er-selbst-sein-wollen ist eine erste Form von Reflexivität, durch die eine Trennlinie innerhalb des vorgöttlichen Wollens gezogen wird, verbun-den mit der Scheidung des Grundes von dem, was sich aus diesem Grund zu emanzipieren und für sich zu setzen trachtet.

Diese Zweiheit, die durch Scheidung des Willens in Gott entstanden ist, wird von Schelling durch den Ausdruck «der in Gott gezeugte Gott»4 ge-kennzeichnet. Erst durch die Vorstellung seiner selbst bekommt er ein Bild von sich als Gott. Die eigentliche Erschaffung der Welt geschieht dadurch, dass Gott den in ihm selber und aus ihm selber gezeugten Gott aus sich he-raus setzt und ihm damit eine von Gott unabhängige Realität verschafft.

Schelling umschreibt den Schöpfungsakt als einen Akt der Liebe, in dem Gott das Wort ausspricht. Wie ein Gedanke, eine Idee, eine Vorstellung, so-bald sie ausgesprochen wird, aus der Immanenz des Verstandes heraustritt und eine eigene Realität erlangt, so bekommt auch das Bild, das Gott von sich selbst entwickelt, dadurch, dass er es sprechend umsetzt in einer Offen-barung seiner selbst, eine eigenständige Realität: Es wird Welt. Die Welt lässt in ihren Schichtungen – vom Anorganischen über das Organische bis hin zum Seelischen – jene Phasen erkennen, die den Graden von Klarheit ent-sprechen, mit denen sich Gott allmählich seiner selbst bewusst wird. Wäh-rend anfänglich noch das Dunkle, Chaotische des Grundes überwiegt, das die anorganische Materie prägt, differenziert sich immer mehr das sich selbst

4 Ibid., 74.

Transparente, das Geistig-Seelische als höchste Form der Selbstbewusstheit im Menschen heraus.

Ausgangspunkt der Genese Gottes ist demnach für Schelling ein Kräf-tepotential, ein in sich geschlossenes dynamisches Feld, dessen chaotische Mannigfaltigkeit sich unkoordiniert zusammendrängt und in der Gegenbe-wegung wieder auseinander strebt. Die expandierenden BeGegenbe-wegungen aus dem Chaos heraus werden anfänglich von der kontrahierenden Kraft des Grundes wieder zurück zum Ursprung gezogen. Infolge dieser Rückwen-dung der transzendierenden Kraft auf ihren Ausgangspunkt bilden sich auf der einen Seite der göttliche Verstand und auf der anderen Seite das Wesen Gottes als Korrelat dieses Verstandes heraus. Gottes Rück-Blick schöpft gewissermaßen aus dem Chaos den ihm gemäßen Gegenstand, mit wel-chem sich gleichursprünglich der göttliche Verstand allererst konstituiert, da es nun erst etwas zu Verstehendes gibt, nämlich das eigene Selbst. In einem zweiten Schritt durchdringt der Verstand das Wesen des Geschauten – als Idee Gottes und damit als den in Gott gezeugten Gott. Von Liebe zu seinem Ebenbild getrieben, will Gott, dass dieses eine eigenständige, von ihm unabhängige Existenz bekomme, die er ihm dann in einem dritten Schritt durch Selbstentäußerung mittels des Wortes verschafft. Auch hier-bei muss er gegen die kontrahierende Kraft des Grundes kämpfen, der die Veräußerung verhindern will und bestrebt ist, alles Expandierende wieder in sich zurückzuholen. Hätte Gott dieser Kraft nachgegeben wäre er böse geworden.

Der späte Schelling rückte in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Offenbarung die Figur Jesus ins Zentrum. Der christliche Gott befindet sich nicht in einem abgehobenen, den Menschen unzugänglichen Jenseits, sondern ist Mensch geworden. Gott hat den in ihm selbst gezeugten Gott of-fenbart, aus sich heraus gesetzt und den Bedingungen der Wirklichkeit, den Bedingungen der Zeit und damit den Bedingungen von Geburt, Leben und Tod unterworfen. Dieser Mensch gewordene Gott, Jesus Christus, stellt das Bindeglied dar zwischen einem abstrakt-freien Absoluten (Gottvater) und einem konkret-freien Absoluten (Mensch). Was das Christentum auch aus der Sicht des späten Schelling vor allen anderen Religionen auszeichnet, ist der Gedanke der Freiheit. Der werdende Gott, der sich in einem Freiheits-prozess zu sich selbst durchringt, offenbart sich in seinem Sohn, der den Menschen vorlebt, wie man unter empirischen Bedingungen an seiner freien Selbstverwirklichung arbeiten kann und damit gottähnlich wird. Freiheit und Kreativität durchdringen einander im Zuge einer Lebensgestaltung, die sich am Paradigma der künstlerischen Selbstorganisation orientiert.

Schelling prägte in seiner mittleren Phase, als er sich um den Zusam-menhang von Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie bemühte, den Satz, dass die Natur der sichtbare Geist und der Geist die unsichtbare Natur sei.5 Der Geist als unendliche Produktivität verdichtet sich materiell in seinen Produkten, die wiederum ihrerseits in ihre Herkunftsgeschichte zurückübersetzt werden müssen, um als Produkte der Freiheit und nicht als Resultate eines blinden Kausalmechanismus erkannt zu werden.

Das Neue an Schellings Versuch, das Absolute zu denken, liegt darin, dass er dieses uranfängliche Absolute nicht als ein unveränderliches Sein auffasste, als einen Gott, der immer schon Gott war, ist und sein wird. Ein solcher statischer Gott kann nicht eigentlich Gott sein, denn ein vollkomme-nes Wesen zu sein, ohne eigevollkomme-nes Zutun, ist keine Leistung. Um wirklich voll-kommen zu sein, musste das Absolute sich allererst vollvoll-kommen machen, sich selbst als Gott verwirklichen. Ein in sich verschlossenes, nicht aus sich heraustretendes Absolutes wäre ebenso unvollkommen und damit nicht Gott wie ein Absolutes, dessen Fülle sich blind und unkontrolliert verströmt. Voll-kommenheit wird nur durch schöpferische Tätigkeit erreicht, durch ein Her-vorbringen nach Absicht und Plan.

Schelling rekonstruierte in seiner Geschichtsphilosophie also ein dyna-misches Absolutes als Anfang von allem, einen Gott, der sich entwickelt und eine Geschichte bekommt, eine Freiheitsgeschichte, die ihr Analogon in der kulturellen Evolution des Menschen hat, der sich von den Fesseln der biolo-gischen Evolution befreit, indem er selber schöpferisch wird, anstatt alle Ver-änderungen dem Kausalmechanismus der Natur und damit dem Zufall zu überlassen. Was auf den ersten Blick anstößig scheinen mag, die Vorstellung eines werdenden Gottes, eines Gottes, der nicht immer schon von Anfang an Gott war, sondern sich zur Vollkommenheit erst durchringen musste, gewinnt an Plausibilität durch den Bezug auf Jesus als die sterbliche Seite Gottes.

Diese verweist auf ein endliches, zeitabhängiges Leben, das gleichwohl ei-nen überzeitlichen Sinn erlangt, wenn es dem sterblichen Menschen wie dem sterblichen Gott gelingt, die Bewegung der Auferstehung zu vollziehen und sich zum Göttlichen, Vollkommenen aufzuschwingen. Im Akt schöpferischer Freiheit kehrt der Mensch in seinen Ursprung zurück und wird gottähnlich.

Die Metapher des Kunstwerks für ein gelungenes, im Ganzen geglück-tes Dasein ist in der abendländischen Tradition über weite Strecken mit

ei-5 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Ideen zu einer Philosophie der Natur, in:

Sämmtliche Werke, Bd. 1, hg. v. K.F.A. Schelling (Stuttgart und Augsburg: Cotta, 1856) 11ff.

nem göttlichen Schöpfungsmythos verknüpft. Zwar verbanden die Griechen in der Regel ihre Vorstellung vom Kosmos als Inbegriff eines geordneten, schönen Ganzen nicht mit dem Gedanken, dass dieses Weltall Produkt eines Gottes ist. Doch die Ausnahme findet sich in Platons Dialog Timaios in der These, dass ein göttlicher Demiurg die Materie nach mathematisch-geome-trischen Prinzipien gestaltet und das Endprodukt bestimmten Bewegungs-mustern unterworfen habe, die eine Weiterentwicklung des Weltganzen in Gang setzten.6 Die Schönheit des Kosmos verdankt sich nicht sinnlich- ästhetischen Kriterien, sondern den Ordnungsprinzipien einer geometrischen Formenwelt, die streng rationalen Regeln unterworfen ist. Immerhin nimmt die Mathematik den zweithöchsten Rang auf der vierstufigen Skala der Platonischen Erkenntnis- und Seinsbereiche ein: zwischen den sinnlich ver-mittelten Gegenständen in der Höhlenwelt und den rein geistigen Gebilden der Ideenwelt. Menschliche Lebenskunst besteht darin, wie der Demiurg an der Formgebung alles Stofflichen zu arbeiten, in erster Linie an der Umset-zung eines ausgefeilten Lebensentwurfs, wobei die Mitwirkung des Körpers darauf beschränkt ist, sich als materieller Träger für die Maß gebenden nor-mativen Prägungen zur Verfügung zu stellen.

Wie sich dies bewerkstelligen lässt, zeigen die von Friedrich Nietzsche und Albert Camus als exemplarische Vorbilder für Lebenskunst geschilder-ten Figuren. Beiden Philosophen ist gemeinsam, dass sie sich nicht als gläu-bige Christen verstehen. Mit der Ablehnung des christlichen Gottesbildes ist jedoch nicht der Verzicht auf die Gestalt eines Gottes schlechthin verbunden.

Vielmehr sind es Götter aus der antiken Mythologie, deren Lebensgestaltung Nietzsche und Camus Vorbildcharakter für die individuelle Lebensführung der Menschen zuschreiben: Dionysos (Nietzsche), Sisyphos und Prometheus (Camus). «Dionysos gegen den Gekreuzigten» formuliert Nietzsche in sei-ner Autobiographie Ecce homo provokativ.7 In seinem Leben stellten Dio-nysos und Jesus keine echte Alternative dar, im Gegenteil: Den Gott der Christen, besonders aber dessen irdisches Personal, bekämpfte Nietzsche bis zuletzt wegen der Ideologisierung des Geistigen bei gleichzeitiger Verächt-lichmachung alles Körperlichen. Der einzige Gott, den er anerkannte und verehrte, war Dionysos. Dabei war das Schicksal des Dionysos nicht weni-ger schmerzhaft als das des Gekreuzigten. Hervorgegangen aus einem Sei-tensprung des Göttervaters Zeus mit seiner Geliebten Semele, war Dionysos

6 Vgl. Platon: Timaios, 27c ff, in: op. cit., Bd. V.

7 Friedrich Nietzsche: Ecce Homo, in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe (KSA) (München: dtv, 1980) 6, 374; vgl. auch KSA 13, 265ff.

ein Dorn im Auge der Ehefrau Hera, die das Kind den Titanen zum Fraß vor-warf. Sie zerrissen es in sieben Teile, die sie kochten und verspeisten. Athene konnte das zuckende Herz des Kindes gerade noch retten und ihrem Vater übergeben. Zeus verschlang es und verhalf Dionysos dadurch zu seiner Wie-dergeburt. Auf die Titanen schleuderte er zur Strafe Blitze, bis sie zu Staub zerfielen, aus denen Menschen entstanden.

Wie Jesus erlebt Dionysos seine Auferstehung. Doch anders als bei Je-sus ist die neu gewonnene Ganzheit des Dionysos keine verklärte Körper-lichkeit, sondern eine fleischliche Materialisierung, die ihrerseits in einem ständigen Prozess künstlerischer Neu- und Umgestaltung durch das Indi-viduum ästhetisiert wird. In seiner frühen Schrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik schildert Nietzsche diesen Prozess autonomer Selbstwerdung als Wiedervereinigung der im Kontext der metaphysisch- christlichen Tradition auseinander gerissenen geistig-seelischen und natür-lich-körperlichen Antriebe in einem lebendigen Kunstwerk, in dem der Künstler aufgeht.

Unter dem Zauber des Dionysischen schließt sich nicht nur der Bund zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen: auch die entfremdete, feindliche oder unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen. […] Jetzt ist der Sclave freier Mann, jetzt zerbrechen alle die starren, feindseligen Abgrenzungen, die Noth, Willkür oder ‘freche Mode’ zwi-schen den Menzwi-schen festgesetzt haben. Jetzt, bei dem Evangelium der Welten-harmonie, fühlt sich Jeder mit seinem Nächsten nicht nur vereinigt, versöhnt, verschmolzen, sondern eins, als ob der Schleier der Maja zerrissen wäre und nur noch in Fetzen vor dem geheimnisvollen Ur-Einen herumflattere. Singend und

Unter dem Zauber des Dionysischen schließt sich nicht nur der Bund zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen: auch die entfremdete, feindliche oder unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen. […] Jetzt ist der Sclave freier Mann, jetzt zerbrechen alle die starren, feindseligen Abgrenzungen, die Noth, Willkür oder ‘freche Mode’ zwi-schen den Menzwi-schen festgesetzt haben. Jetzt, bei dem Evangelium der Welten-harmonie, fühlt sich Jeder mit seinem Nächsten nicht nur vereinigt, versöhnt, verschmolzen, sondern eins, als ob der Schleier der Maja zerrissen wäre und nur noch in Fetzen vor dem geheimnisvollen Ur-Einen herumflattere. Singend und