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D E L AMBERTERIE 1997-1998:10 64 B ERGOUNIOUX 2000b:224.

65 DARMESTETER 1877:7. 66 VALÉRY 1898:254.

de la psychologie sociale au sens où l’entendront aussi bien Saussure et Meillet. Cela signifie qu’en exprimant la pensée, le langage reflète aussi les mouvements de la société. Par là les changements de significations sont le résultat de processus psychologiques, en même temps qu’ils sont soumis à des causes sociales.67

Bréal initiiert diesen methodologischen Neuanfang in Frankreich. Die empirischen Arbeiten ließen bis dahin den eigentlichen Grund für den Sprachwandel, nämlich „funktionelle und soziale Triebkräfte“68, außer

Acht. Hierin liegt der „Keim für die zukünftigen psychologischen und sozial-historischen Orientierungen der französischen Sprachwissen- schaft“69.

Semantik ist bei Bréal in der Tat grundsätzlich historisch aufzu- fassen, als Vergleich von zeitlich auseinanderliegenden Sprachzustän- den70. Er würde nicht abstreiten, dass sowohl Form als auch Inhalt von

Modifikationen betroffen sind, aber Sprachwandel ist bei ihm fast gleichzusetzen mit changement sémantique71. Semantischer Wandel ist

für ihn eine Kerndisziplin u.a. deshalb, weil vorher so ausgiebig über Lautwandel geforscht worden ist und er sich von seinen Zeitgenossen absetzen will. Die Hauptaufgabe der Semantik sieht er darin, die Ge- schichte und den Grund jeder Veränderung aufzuzeigen. Nach der Ein- zelfallanalyse zielt Bréal auf die Analyse der Gesetzmäßigkeiten, die der Bedeutungsveränderung voranstehen. Ziel der historischen Semantik Bréals ist es, Varietät, Historizität und Zufälligkeit der sprachlichen Phänomene auf Regelhaftigkeiten zurückzuführen72. Schlieben-Lange

nennt Bréals Semantik eine „Neubegründung der Ideenlehre unter his- torischen Gesichtspunkten zur Ergänzung der historischen Lautleh- re“73. Charakteristisch ist auch die Beschreibung von Bréals Verdienst

im Artikel «Bréal» im Petit Larousse: „linguiste français, traducteur de F. Bopp, il a introduit en France la linguistique historique“74 und nicht die

Vergleichende Sprachwissenschaft!

De Palo findet, mit der Konzentration auf den Charakter des menschlichen Geistes analysiere Bréal eher die faculté du langage als die sprachliche Bedeutung75. Betrachtet man aber allein die detaillier-

67 BAGGIONI 2000:56s. 68 THIELEMANN 1994:291. 69 THIELEMANN 1994:291.

70 „[O]n peut repérer chez lui [Bréal] une sorte d’intuition diachronique pro-

fonde, c’est-à-dire celle d’une structure en mouvement.“ (DELESALLE 1988a:46).

71 Cf. HAßLER 1991:161. 72 Cf. DE PALO 2001a:203.

73 Cf. SCHLIEBEN-LANGE 1984:30.

74 Le Petit Larousse illustré 2002 en couleurs:1200. 75 Cf. DE PALO 2001a:79; cf. CASADEI 1999.

ten Ausführungen zu den diversen Prozessen des Bedeutungswandels, so lässt sich eine derartige These nicht aufrechterhalten. Die Beziehung der Bedeutung zu den Mechanismen, die der Produktion und dem Ver- stehen des Zeichens vorangehen, sind für Bréal essentiell für seine Konzeption des Zeichens und des Bedeutungswandels. Er geht aber ü- ber hypothetische Konstruktionen hinaus und systematisiert alle nur erdenklichen Tendenzen.

Coseriu reibt sich an Aarsleffs Thesen zu Bréals neuer Disziplin76,

von denen er nur die erste bestehen lassen könne, mit der Aarsleff Bréal beglückwünsche, mehr als eine einfache Semantik entwickelt zu haben, nämlich ein komplettes Programm einer allgemeinen Sprachwissen- schaft. Trotzdem müsse Aarsleff sauberer unterscheiden zwischen Bréals Sprachkonzeption und seinem sprachwissenschaftlichen Pro- gramm. Man dürfe aus Bréal nicht „el Lavoisier de la lingüística“77 ma-

chen. Vater der modernen Sprachwissenschaft bleibe Saussure, „Bréal non ha provocado ninguna revolución en la lingüística“78. Bréals

Sprachkonzeption annonciere auch nicht die Saussures; und die Reo- rientierung der Sprachwissenschaften Ende des 19. Jahrhunderts sei von Deutschland ausgegangen, nicht von Frankreich. Coseriu räumt ein, dass Bréal eine gewisse neue Orientierung in die Sprachwissen- schaft einbringe, die man sich aber nicht in der Form einer Revolution vorstellen sollte, sondern vielmehr als Reform79. Damit gesteht Coseriu

eigentlich einen viel größeren Ruhm ein: Bréal war viel weiter als seine Zeit oder sogar atemporal und hat dazu seine Vorstellungen auch noch realisiert.

Folgendes lässt sich festhalten: Bréal macht es sich zur Aufgabe, die tatsächlichen Beweggründe der Weiterentwicklung der Sprache he- rauszufinden und ruft die Semantik auf der Basis der antiken Rhetorik- lehre (cf. Kapitel 1.3.3) als wissenschaftliche Disziplin ins Leben. Der Aufstieg der Semantik mag von einigen Vorgängern wie z.B. Schu- chardt80, aber auch Humboldt, vorbereitet gewesen sein; „l’étude du

sens“ war aber bis dato vernachlässigter Zweig der Sprachwissenschaft.

C’est aussi en donnant une place plus importante au sens que la lin- guistique arrivera un jour à écrire ce curieux chapitre dont l’intitulé a été donné il y a cinquante ans, par Guillaume de Humboldt: Die innere Sprachform. (BRÉAL 1889a:169)

76 Cf. COSERIU 2000:39. 77 COSERIU 2000:43. 78 COSERIU 2000:41. 79 Cf. COSERIU 2000:40. 80 Cf. WUNDERLI 2001:123.

Wie bei den lois intellectuelles ist Bréal auch in der semantischen Dis- ziplin insgesamt nicht betriebsblind: genauso wie jedes andere Mittel dürfe man die Semantik natürlich auch nicht überstrapazieren (cf. BRÉAL 1889a:175), was noch lange nicht heißt, dass sie ein müßiges

Unterfangen81 darstellt oder gar „a dead end for linguistics“82 repräsen-

tiert.

81 Cf. AUROUX 1995:229, der sich auf WEISGERBER 1927 bezieht. 82 AUROUX 1995:229.

1.3.2 Die Semantik als Ergänzungswissenschaft der Etymologie?

Die Semantik wird gewissermaßen aus der Unzufriedenheit mit der tra- ditionellen Grammatik und der Lexikographie geboren. In der Aufklä- rung gilt die Etymologie als Teil der Grammatik, genauer gesagt der Le- xikologie83, die Bedeutungswandel nicht erklären kann. Die Semantik

als neuer Zweig der Sprachwissenschaft soll von der Etymologie und Lexikographie unabhängig sein84, aber ist wie diese doch historisch85.

„L’étymologie, c’est-à-dire l’explication du vrai sens des mots par leur histoire, est une des sciences les plus anciennes à la fois et les plus neuves“86. Bréal will die Semantik von der Etymologie emanzipieren87.

Die traditionelle Etymologie, wie sie schon die Griechen und Rö- mer betrieben, galt als spekulativ und dilettantisch88. Bis Ende des 18.

Jahrhunderts glich die Etymologie einer Art Hellseherei ohne Regeln: „Chaque étymologiste […] y ramenait bon gré mal gré l’explication des mots: nul concert, nul accord entre les savants, point de résultats qui fussent communément acceptés.“89 In der Encyclopédie wird die Etymo-

logie nicht als Wissenschaft angeführt, sondern als Kunst90, was als

Klassifizierung Bände spricht.

Eine diachronische Dimension findet in der Etymologie erst An- fang des 19. Jahrhunderts Berücksichtigung. Sie zählt ab dann auch zu den „echten“ Wissenschaften, und das dank ihrer neu entwickelten Me- thode: „C’est une des plus neuves, car la méthode, qui seule constitue vraiment une science, n’a été que tout récemment appliquée à ces re- cherches.“91 Interessant ist, dass schon Egger neben dem Konsens auch

die Methode als notwendige Bedingung für die Wissenschaftlichkeit der Etymologie nennt.

Auch Müller distanziert sich von der Etymologie des 16. bis 18. Jahrhunderts, die zufällig war und keine Handhabung hatte, richtige von falschen Etymologien zu unterscheiden92. Eine wissenschaftliche

Etymologie kann nur eine Wissenschaft der Geschichte der Wörter sein,

83 Cf. SWIGGERS 1984:43 und NERLICH 1996a:396. 84 Cf. NERLICH/CLARKE 1997:351.

85 Cf. DE PALO 2001a:86. Deswegen finde Saussure bei Bréal auch keine klare

Definition der Semantik und auch nicht der Bedeutung. Der Kausalzusammenhang scheint hier bei de Palo schleierhaft. Abgesehen davon wird in Kapitel 1.10 sehr wohl gezeigt werden können, was Bréal unter Bedeutung versteht.

86 EGGER in BRACHET 1867:b. 87 Cf. NERLICH 1999:452. 88 Cf. WUNDERLI 2001:152. 89 EGGER in BRACHET 1867:b. 90 Cf. SWIGGERS 1984:41. 91 EGGER in BRACHET 1867:b. 92 Cf. DESMET 1996:137.

die versucht, den formalen und semantischen Ursprung wiederzufinden und die Entwicklung nachzuzeichnen.

Die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft bereitet der un- kritischen Etymologie ein Ende und unterwirft sie Prinzipien und Re- geln. Die französischen etymologischen Wörterbücher im 19. Jahrhun- dert sind aber noch stark auf Lautetymologie konzentriert und vernach- lässigen weiter semantische, geographische und soziokulturelle Aspek- te, so dass Schuchardt die Verbindung von Wort- und Sachgeschichte93

fordert. Die Etymologie müsse die lautliche und die inhaltliche Seite ei- nes Zeichens gleichermaßen berücksichtigen und idealiter auch die Be- rührungspunkte mit der Geschichte anderer Wörter aufzeigen94.

Aber wie soll man sich das Verhältnis von historischer Semantik und Etymologie vorstellen? Nach heutiger wie nach damaliger Sicht könnte die lexikologische Theorie von der historischen Wortforschung profitieren95, und umgekehrt ist die historische Semantik immer dann

besonders produktiv, wenn ihr theoretisches Interesse sich mit empiri- scher Detailarbeit verbindet96. Die Semantik kann z.B. in der Form von

Polysemie-Analysen von der Lexikographie profitieren. Allerdings wird es nie eine lückenlose Beschreibung aller semantischen Beziehungen geben. Wörter unsicherer Herkunft sind für die historische Semantik kein geeignetes Material; deswegen darf der Semantiker auch nicht mit blindem Vertrauen die Ergebnisse etymologischer Nachschlagewerke übernehmen97. So schreibt Bréal im Vorwort zum Dictionnaire étymolo-

gique latin:

Un vocabulaire étymologique qui se contenterait d’indiquer la racine sans autre accompagnement serait à peu près aussi instructif qu’un dictionnaire de biographie qui se bornerait à fournir le nom et la date des personnages. Avant tout, nous demandons à connaître leur vie et leur caractère, ainsi que la part qu’ils ont prise aux événements de leur temps(BRÉAL/BAILLY 1885:Vs.).98

Die Sprache dient dem möglichst unmissverständlichen Ausdruck von Gedanken; die Sprecher streben immer nach semantischer Durchsich- tigkeit, und wenn diese gestört wird durch verschiedene „Krankheitsbil- der“ der Sprache wie usure phonétique, collision homonymique und sur-

93 Cf. WUNDERLI 2001:161. 94 Cf. SCHUCHARDT 1922:105. 95 GEERAERTS 1997:5. 96 FRITZ 1998:7. 97 Cf. GSELL 2004:119.

98 Hierzu könnte fast Gilliéron passen, der sich über dreißig Jahre später mit

der reinen Lautetymologie nicht zufrieden geben will, denn „le mot est un oiseau qui a pris sa volée et suit les chemins que lui dictent les conditions atmosphériques de l’espace aérien et les rencontres qu’il peut y faire“(GILLIÉRON 1919:132s.).

charge sémantique99, werden die Wörter remotiviert. Das alles muss die

Etymologie auch berücksichtigen und dafür muss sie zur Wortgeschich- te werden. Die Etymologen müssten kleinschrittiger vorgehen und mehr Zwischenstufen aufzeigen, was auch heute noch als das „Prinzip der kleinen Schritte“ gefordert wird100. Die Teilschritte sind oft an bestimm-

te Kollokationen gebunden.

Etymologie und diachronische Semantik haben unterschiedliche Erkenntnisinteressen. Die Semantik strebt nach allgemeingültigen Er- kenntnissen, die sie theoretisch verwerten kann (um evtl. sogar die Wahrscheinlichkeit von Bedeutungswandel abschätzen zu können101).

Die Etymologie beschäftigt sich mit Einzelproblemen. Synergie-Effekte der beiden Disziplinen wären v.a. im Methodischen wünschenswert. Beide Disziplinen könnten gemeinsam Kriterien entwickeln, mit Hilfe derer Hypothesen über Bedeutungswandel auf ihre Wahrscheinlichkeit hin untersucht werden können. Die Semantik müsste helfen, ein Reper- toire von häufig vorkommenden Wandelerscheinungen aufzustellen, wo- zu Bréal einen nützlichen Anfang gemacht hat. Mit besserem semanti- schen Wissen könnte man auch heute neue Hypothesen aufstellen.

Etymologieforschung und theoretische Bedeutungslehre müssen kooperieren; sie bilden fast eine arbeitsteilig organisierte Wissenschaft. Die historische Semantik liefert die allgemeinen Bedingungen und Ver- fahren des Bedeutungswandels, was sie aber erst durch Verallgemeine- rung der etymologischen Ergebnisse schafft.

Das Verhältnis von historischer Semantik und Wortgeschichte darf dennoch auf keinen Fall auf das von Theorie und Praxis reduziert werden102. Beide sind Akzentsetzungen im lexikalischen Wandel und

beide brauchen eine Theorie. Ende des 20. Jahrhunderts hat Blank die Theoriediskussion wieder in Gang gebracht, womit er die historische Semantik zwar nicht neu erfunden, aber sicher einen umsichtigeren Umgang mit den traditionellen Modellen bewirkt hat103. Jetzt ist es

möglich, die Entwicklung der historischen Semantik und der Etymolo- gie voranzubringen, indem die historische Semantik die allgemeinen kognitiven Voraussetzungen und pragmatischen Kommunikations- grundlagen berücksichtigt.

Die Entstehung der Semantik als wissenschaftliche Disziplin En- de des 19. Jahrhunderts ist der Versuch, in der historischen Wortfor- schung die systematische Lautlehre durch eine systematische Bedeu-

99 Cf. WUNDERLI 2001:162.

100 BLANK 2001a:74 und FRITZ 1998:54. 101 Cf. GSELL 2004:123.

102 Cf. LEBSANFT/GLEßGEN 2004:VII. 103 Cf. LEBSANFT/GLEßGEN 2004:25.

tungslehre zu ergänzen. Historische Semantik und Etymologie sind wie zwei Seiten derselben Medaille. Der Unterschied zwischen den beiden Disziplinen liegt im Modus der Erklärung104: die historische Semantik

sucht nach Regelmäßigkeiten, und die Etymologie will zeigen, wie eine Regel im Einzelfall historisch wirksam geworden ist; eigentlich ist nur die Perspektive eine andere.

1.3.3 Vorboten der sémantique

Das Zeichen allgemein interessierte schon die Griechen der Antike, und die philosophische Spekulation über Bedeutung hat ihren Ursprung in der Antike. Die Geschichte der Semantik beginnt mit Platon105, der im

Kratylos-Dialog die Arbitrarietät des Zeichens und Eindeutigkeit und Mehrdeutigkeit der Zeichen thematisiert. Platon sieht das Zeichen in natürlicher Beziehung zum Bezeichneten; Aristoteles in arbiträrer. Aris- toteles geht vom genus proximum (Archilexem) aus, das durch differen- tiae specificae (Seme) die Bedeutung eines Wortes (Semem) bestimmt106.

Seit der Antike wird Bedeutungstransfer als Metapher und Bedeu- tungswandel als Metonymie beschrieben.

Augustinus unterscheidet schon DICTIO (signifié), DICIBILE (signifi-

ant) und RES (chose)107; die mittelalterliche Scholastik entwirft ein drei-

teiliges semiologisches Modell, das Bezeichnung, Konzept und Referenz enthält: „voces significant res mediantibus conceptibus“108. Im Oxforder

Donat (Anfang 15. Jahrhundert)109 wird die Dichotomie des sprachli-

chen Zeichens thematisiert.

Auch die Semiologie bei Leibniz und die Semiotik der Grammatik von Port-Royal stützen sich schon auf ältere Überlegungen; so sollte auch die Wiederaufnahme aufklärerischer Grundprinzipien bei Bréal eigentlich nicht verwundern110. Der Unterschied zwischen den Aufklä-

rern und Bréal besteht darin, dass Bréal die Bedeutung unter linguisti- schem Gesichtspunkt betrachtet, die traditionellerweise außerhalb des Gegenstandes der Sprachwissenschaft lag111, wie der Artikel langue in

der Encyclopédie bezeugt: „les idées […] sont […] antérieures à toutes les conventions arbitraires“112.

Bréals Semantik ist noch stark mit der antiken Rhetorik ver- wandt113, v.a. mit Tropentheorie und Synonymologie114. Die Tropenthe-

orie ist die erste, die sich der Bedeutung widmet115. Girard und Du

Marsais hatten sich schon auf Bedürfnisse des Geistes berufen, um zu

105 Cf. NERLICH 1999:444.

106 Die Semanalyse von Pottier entspricht dem aristotelischen Modell (cf. POT-

TIER 1963, 1964).

107 Cf. MÖHREN 2004:71 N1. 108 Cf. SWIGGERS 1989:84. 109 Cf. MÖHREN 2004:71 N2.

110 So wie es bei BAGGIONI 2000:59 der Fall ist. 111 Cf. CAPT-ARTAUD 2000a:40.

112 Auch die Konventionalität ist hier nichts revolutionär Neues; für die Stoiker

galten die Wörter schon als reine Konventionen.

113 Cf. MÖHREN 2004:72.

114 Cf. AUROUX 1995:223 und SCHMITTER 1987:123, 127. 115 Cf. AUROUX 1979b.

zeigen, dass die Sprecher Äquivalenzbeziehungen zwischen Ausdrücken erkennen. Du Marsais beschreibt in seinem Traité des Tropes, wie sich ein Wort von seiner Ursprungsbedeutung entfernt, d.h. wie Bedeu- tungswandel vonstatten geht. Bréal kannte das Werk von Du Marsais (cf. BRÉAL 1924:292)116, der auch das Vergessen der ursprünglichen Be-

deutung im Sinne Bréals thematisiert, d.h. als notwendig für das ge- genseitige Verständnis bei jeder Sinnrealisierung:

[…] celui qui invente le sens nouveau oublie dans le moment tous les sens antérieurs, excepté un seul, de sorte que les associations d’idées se font toujours deux à deux. Le peuple n’a que faire de remonter dans le passé: il ne connaît que la signification du jour (BRÉAL 1924:293).

Du Marsais interpretiert die Katachrese als Grundmotor der Bedeu- tungsvervielfältigung und lehnt damit ab, sie als falschen Wortgebrauch zu charakterisieren.

Die synonymistes entdecken die Synchronie117 und kommen so

zur Gewichtung von „synonymen“ Werten. Gabriel Girard lehnt in sei- ner Abhandlung über les différentes significations des mots qui passent pour synonimes die perfekte Synonymie ab118; er beschreibt das Lexikon

mit Hilfe von Oppositionen119. Seine Nachfolger schließen aus seiner

Sicht, dass jedes neue Wort einen Wandel der bestehenden „Synonyme“ nach sich zieht120, oder dass sich seine eigene Bedeutung wandelt121.

Darauf basiert nicht nur Bréals loi de répartition, sondern auch die répartition du sens bei Meillet122. Ähnliches findet man ebenso bei A.

Darmesteter123 und de la Grasserie124 bis hin zu Saussures valeur-

Begriff125.

116 Es stimmt also nicht, dass Bréal Rhetoriker und Synonymologisten verges-

sen habe (wie NERLICH 2000:189 vorgibt).

117 Cf. CAPT-ARTAUD 2000a:38.

118 Sogar schon zwei Jahre vor der Veröffentlichung von Girards Synonymwör-

terbuch La justesse de la langue françoise, ou les différentes significations des mots qui passent pour synonymes (1718) unterstrich de Pons die feine unterschiedliche „Schat- tierung“ von Wörtern, die auf den ersten Blick den gleichen Inhalt ausdrücken. Ihre stilistische Unterscheidung verbiete, echten Synonymie anzunehmen (cf. GAUGER

1973:8).

119 Dabei konzentriert sich Girard auf Wörter, die sich noch im Gebrauch be-

finden. Niederer Wortschatz und Fachvokabular finden in sein Wörterbuch außerdem keinen Eingang, so dass man ihn als normativ bezeichnen kann (cf. GAUGER

1973:30s.). 120 Cf. AUROUX 1984. 121 Cf. NICOLAS 1980. 122 Cf. MEILLET 1906a:37. 123 Cf. DARMESTETER 1887:139. 124 Cf. DE LA GRASSERIE 1899:398 und 1908:411s., 503. 125 Cf. AUROUX 1995:223, cf. auch Kapitel 1.9.

Bréal ist also nicht der erste und einzige Linguist des 19. Jahr- hunderts, der sich für Bedeutung interessiert. Schon Humboldt analy- sierte, wie Bedeutung in den verschiedenen Sprachen realisiert wird; Bopp dachte darüber nach, wie Wörter ihre Bedeutung erlangen, Grimm sah Wörter in Bezug auf ihre Referenz, und Steinthal nahm eine psychologische Betrachtung des Phänomens vor.

In Deutschland diskutierten vor 1897 A. Pott, K. Heyse, Steinthal, Curtius und Schuchardt den theoretischen Status der Semasiologie. Sie befürworteten schon allgemeine semasiologische Gesetze, die in allen Sprachen gültig seien. Die Semasiologie ist 1887 in Deutschland schon verbreitet, so dass sich bereits vor Bréal verschiedene Traditionen mi- schen (auch die englische ist nicht immer sauber von der deutschen und der französischen zu trennen). Wenn auch kaum Zusammenarbeit stattfindet, so gibt es sicher doch Imitation, Einfluss und gegenseitige „Befruchtung“126.

Coseriu tut sich nicht ganz leicht damit, Bréal als Begründer der Semantik anzuerkennen (cf. auch die Kapitel 1.3.1 und 1.3.3). Er lässt ihn zwar als solchen (unter gewissen Umständen) gelten, sagt aber gleichzeitig, dass es die Disziplin schon fünfzig Jahre vor Erscheinen des Essai gegeben habe127. Manchmal gewinnt man fast den Eindruck,

seine Einschätzung ergebe sich aus reiner Opposition gegen Aarsleff, den er (teilweise berechtigt) attackiert, da dieser seine Sincronía nicht zitiert. Mit den fünfzig Jahren Vorsprung meint Coseriu Reisig und Haase; dabei war Reisig noch lange nicht so weit gekommen wie die französischen Synonymologen. Was bei Christian Karl Reisig zählt, ist die Unterscheidung von Synchronie und Diachronie und die Autonomie der Semasiologie, ansonsten war er kein großer Theoretiker. Er hatte allerdings viel Aufmerksamkeit für das Detail und begriff die Sprachen als geprägt von Geschichte und Nation, was große Prinzipien sind, die man grob gesehen heute noch gelten lassen kann128. Für Reisig ist die

Sprache das Werk des Volkes, nicht einzelner Individuen. Nach ihm fes- tigt sich die Semasiologie in Deutschland als Theorie der Prozesse und Ursachen des Bedeutungswandels, wie Pott sie später anwenden wird. Im Vergleich mit Bréal ist die Konzeption der Semantik bei Reisig eine sehr weite, die Stilistik und Synonymologie mit einschließt. Viele der

126 Cf. NERLICH 1996a:402.

127 COSERIU 1973:23. Es ist auch keine gültige Begründung, dass man bei Bréal

die gleichen Arten von Bedeutungswandel wiederfinde wie bei Darmesteter (cf. COSERIU

2000:31), um ihm nachzuweisen, er stehe in der Tradition von Reisig. Sinnvoller wäre es da noch, Darmesteter nachzuweisen, dass er auch in der Tradition der Synonymo- logen steht!

zahlreichen Veröffentlichungen129 zum Thema Wortbedeutung ab 1880

sind von Reisig inspiriert.

Die Semasiologie von Reisig ist in Frankreich schon bekannt130

und man darf Bréal nicht vorwerfen131, er habe diesen Vorläufer willent-

lich unterschlagen, denn er zitiert ihn namentlich (cf. BRÉAL 1924:192

N1). Hey bezeugt in seiner Rezension zum Essai, dass Bréal zwar die deutsche Semasiologie kenne; er bedauert aber, dass er nicht die neue- ren Errungenschaften „von Herdegen bis K. Schmidt“132 rezipiert habe,

dort sei alles schon gesagt. Hey räumt aber ein, dass Etymologen, Mor- phologen und Syntaktiker im Gegensatz zu ihm als klassischem Philo- logen und Semasiologen vielleicht neue Perspektiven bei Bréal entde- cken könnten133.

Reisig ist sich der Dynamik der Sprache bewusst und gerade we- gen der Dynamik der Bedeutung müsse deren Analyse auch als eigener Zweig der Sprachuntersuchung gelten. Reisigs Semasiologie tritt als drittes Element zu Etymologie und Syntax hinzu. Allerdings nimmt sei- ne „Semasiologie“ gerade einmal 22 Seiten in seinem über 800 Seiten langen Werk ein134.

Reisig übt Kritik an den Wörterbüchern, da sie die Bedeutungen nicht systematisch ordnen. Er vertritt eine traditionelle repräsentative

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