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Ausländische Strafgefangene zwischen Resozialisierung und Wegweisung

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Ausländische Strafgefangene zwischen

Resozialisierung und Wegweisung

Christin Achermann*

Inhaltsübersicht

I. Einleitung ... 69 II. Grundlagen ... 73 1. Daten und Methodisches... 73 2. Wichtige rechtliche Rahmenbedingungen für ausländische

Strafgefangene... 74 3. Anteile und Merkmale der ausländischen Strafgefangenen in

der Schweiz... 86 III. Die Bedeutung ausländerrechtlicher Kriterien in der Praxis des

Strafvollzugs... 92 1. Einweisung und Vollzugsöffnungen: Kontaktmöglichkeiten mit

der Aussenwelt ... 93 2. Resozialisierungsmassnahmen innerhalb der Strafanstalt ... 96 3. Zusammenarbeit mit den Migrationsbehörden... 100 4. Resozialisierung aus Sicht der ausländischen Strafgefangenen... 101 IV. Schlussbemerkungen: die Spannung zwischen

Resozialisierungsziel und Wegweisungsentscheid... 105 1. Strafvollzug als nationales System ... 107 2. Rechtsgleichheit im Strafvollzug... 108 3. Das Verhältnis zwischen Strafvollzug und Ausländerrecht bzw.

Migrationskontrolle ... 109 4. Ausblick: veränderter Kontext durch die Umsetzung der

Ausschaffungsinitiative?... 111

I.

Einleitung

Miranda1ist eine 23-jährige Brasilianerin, die in der Schweiz wegen Kokain-schmuggels eine Freiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verbüsst. Sie war sich zwar bewusst, dass sie aufgrund dieser Tat festgenommen und bestraft werden könnte. Dennoch rechnete sie nicht damit, derart lange in der Schweiz zu bleiben. Ein einem Land, von dem sie kaum wusste, wo auf der * Ich danke Laure Sandoz für die Durchsicht des Manuskripts.

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Welt es sich befindet. In der Frauen-Strafanstalt Hindelbank hat sie sich in einer Gruppe von Brasilianerinnen eingelebt. „Hier ist es gut, aber nicht ver-gleichbar damit, wie wenn man zuhause ist. Kein Komfort kann dies wettma-chen.“2Sie versucht, aus ihrer Strafe einen Nutzen zu ziehen, indem sie sich etwa mit einem Computerkurs weiterbildet oder indem sie eine Anlehre in der Küche zu absolvieren versucht. „Ich lerne für später“, erklärt sie, denn: „Ich bin nicht freiwillig hier, aber ich will das Beste daraus machen.“ Sie ist in telefonischem Kontakt mit ihrer Mutter in Brasilien, doch erzählt sie ihr nicht, dass sie in der Schweiz im Gefängnis ist. „Sie ist gesundheitlich angeschlagen und ich will ihr das nicht antun, ich will ihr die Wahrheit nicht sagen. Sie meint, ich arbeite hier.“ Es sei zwar hart, nicht über ihren Alltag im Strafvoll-zug sprechen zu können. Doch hofft sie auch, dass sich dadurch ihre Wieder-eingliederung in Brasilien einfacher gestalten wird. Miranda fürchtet sich vor der Zukunft in Freiheit und würde sich wünschen, besser darauf vorbereitet zu werden. Etwa indem sie die Anstalt gelegentlich für begleitete Aktivitäten verlassen könnte, denn: „Ich habe Angst. Wir stellen uns auf das Leben hier ein und dann muss man sich draussen wieder anpassen, mit der Gesellschaft, die sich verändert.“ Sie versucht, sich selbst auf diese ungewisse Zukunft vorzubereiten. „Aber es ist immer dieses Angstgefühl. Ich sehe diese ge-schlossenen Türen und ich weiss nicht, was dahinter steht.“ Dass sie nach Brasilien weggewiesen wird, steht fest und stellt für sie kein Problem dar. Arben3hingegen weiss ein gutes Jahr vor seiner Entlassung noch nicht, ob er in der Schweiz wird bleiben können oder ob er nach 20 Jahren in den Kosovo zurückkehren muss. Der 46-jährige Maurer möchte in der Schweiz bleiben und nach Verbüssung seiner 11-jährigen Haftstrafe wegen Verstosses gegen das Betäubungsmittelgesetz4sein früheres Leben weiterführen. „Ich will kei-ne Probleme mehr. Ich werde arbeiten, mit meikei-ner Familie sein, normal. Ich kann wieder zum gleichen Arbeitgeber, das ist kein Problem.“ Würde er hin-gegen weggewiesen, würde er sich damit arrangieren. Seine fünf Kinder und seine Eltern leben in Kosovo, wo er auch ein kleines Grundstück besitzt. Ar-ben hofft, dass er dort als Maurer Arbeit finden würde. Dennoch denkt er, dass eine Rückkehr nach der langen Abwesenheit schwierig wäre. „Da hat man keine Ahnung mehr vom Leben dort.“ Er findet, dass die Situation für straffällige Ausländer in der Schweiz schwierig sei, da sie doppelt bestraft würden: „Als erste Strafe ins Gefängnis, als zweite müssen sie die Schweiz verlassen.“ Er hatte sich, erfolglos, um eine Überstellung in den Kosovo be-müht. Denn: „In meinem Land kann niemand sagen ‚Fluchtgefahr!‘ Dort bin 2 Siehe Kapitel II.1 zu den Hintergründen der Datenerhebung.

3 Name geändert.

4 Bundesgesetz über die Betäubungsmittel und die psychotropen Stoffe vom 3. Oktober

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ich nicht Ausländer.“ Seine grösste Sorge im geschlossenen Strafvollzug ist, dass er keinen Urlaub erhält, weil er aufgrund des wahrscheinlichen Wider-rufs seiner Niederlassungsbewilligung als fluchtgefährdet gilt. Aus demselben Grund ist auch eine Versetzung in eine offene Anstalt ausgeschlossen. Er bemüht sich wiederholt darum, Urlaub oder einen begleiteten Ausgang ge-währt zu erhalten, um etwa an seinem Geburtstag mit seiner Frau in einem Restaurant essen gehen zu können. Die Vollzugsbehörden lehnen diese Gesu-che jedoch stets ab. Die Anstaltsleitung erlaubt ihm schliesslich ausnahms-weise zwei zusätzliche Besuchsstunden in einem Monat, damit er seine Frau etwas öfter sehen kann. Denn der Strafvollzug ist für Arben eine grosse Ge-fahr für das Familienleben: „Das Gefängnis macht nur etwas: es macht die Familie kaputt. Ich habe viele Kollegen, bei denen Familienprobleme beste-hen.“ Durch Urlaub und mehr Kontaktmöglichkeiten könnte diese Gefahr seines Erachtens gemildert werden: „Damit man voneinander weiss, was geht, wie es einem geht, was gut geht und was schlecht geht. Viele Leute hier ha-ben überhaupt keinen Kontakt. Da ist alles verloren, da sind keine Gefühle mehr da, wenn man rauskommt.“ Dass der Strafvollzug lehrreich sein könnte, streitet er kategorisch ab. „Man muss es [das Gefängnis] einfach durchma-chen, wie das Militär.“

Diese zwei Beispiele von ausländischen Strafgefangenen in zwei geschlosse-nen Schweizer Strafanstalten illustrieren einige typische Fragen, die sich für diese spezifische Kategorie von InsassInnen stellen. Sie zeigen insbesondere, dass ausländerrechtliche Entscheide nicht nur nach der Strafverbüssung wirk-sam werden, sondern dass sie bereits währenddessen die Strafvollzugsbedin-gungen und die Verwirklichung des Resozialisierungsziels beeinflussen. Im Folgenden steht die Frage im Mittelpunkt, welche Bedeutung ausländerrecht-lichen Kriterien und Entscheiden im Strafvollzug zukommt und welche Her-ausforderungen sich dadurch für die Strafanstalten und die betroffenen aus-ländischen Strafgefangenen ergeben. Wie zu zeigen sein wird, tauchen in diesem Kontext Fragen nach dem Verhältnis zweier Rechtsgebiete auf, die grundsätzlich zwei unterschiedliche Bereiche regeln und verschiedene Ziele verfolgen: Einerseits der Strafvollzug, welcher sich mit Menschen befasst, die sich grundlegender Regelverstösse schuldig gemacht haben und der darauf abzielt, dass sich diese nach Entlassung in die Gesellschaft einfügen und ein straffreies Leben führen. Andererseits das Ausländerrecht, welches die An-wesenheit fremder Staatsangehöriger regelt und sich dabei u.a. am Interesse der öffentlichen Sicherheit und Ordnung orientiert.

1. Forschungsstand

Obwohl der Anteil ausländischer Gefangener in den meisten Staaten in den letzten Jahrzehnten angestiegen ist, gibt es nach wie vor wenig wissenschaft-liche Literatur zum Thema AusländerInnen im Strafvollzug. Die vorhandenen

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Studien zeigen, dass sich die Fragen und Schwierigkeiten im Zusammenhang mit dieser spezifischen Gruppe seit der vermutlich ersten Studie auf europäi-scher Ebene aus dem Jahr 1994 kaum verändert haben.5 Hierzu zählen man-gelnde statistische Daten und Kenntnisse, das Spannungsverhältnis von Men-schenrechtsanliegen mit Migrationskontrolle und Kriminalitätsbekämpfung, sprachliche Barrieren, Rassismus und schliesslich die Frage der Resozialisie-rung von Personen, die weggewiesen werden.

Eine vergleichende Studie in 25 EU-Mitgliedstaaten aus dem Jahr 2007 gibt den bisher einzigen umfassenden Einblick in das Thema ausländische Gefan-gene.6Die Länderberichte widerspiegeln einerseits die grossen Unterschiede zwischen den Staaten bezüglich Ausländeranteilen, nationalen Gesetzgebun-gen und den Strategien im Umgang mit ausländischen StrafgefanGesetzgebun-genen. An-dererseits decken sich die grundsätzlichen Fragen und Probleme im Zusam-menhang mit dieser Gruppe weitgehend. Die Studie verweist auf drei Berei-che, in denen Handlungsbedarf besteht: Sprache und Kommunikation; Zu-gang zu Resozialisierungsmassnahmen insbesondere für Personen, die weg-gewiesen werden sowie die Ungewissheit während eines ausstehenden Weg-weisungsentscheides. Zum Zeitpunkt der Untersuchung war weder auf natio-naler noch auf internationatio-naler Ebene eine eigentliche Strategie für den Um-gang mit diesen Herausforderungen sichtbar.7

In der Schweiz veröffentlicht BAECHTOLD bereits 1976 die erste Abhandlung zum Thema AusländerInnen im Strafvollzug, die einerseits eine Bestandes-aufnahme ist, andererseits auf Fragen der Kommunikation, der kulturellen und religiösen Diversität und der Resozialisierung ausländischer InsassInnen eingeht.8 In den 1990er Jahren wächst das Interesse am Thema sowohl von-seiten der Praxis als auch des Bundesamtes für Statistik, wovon entsprechen-de Publikationen zeugen.9 Zu Beginn des neuen Jahrtausends beginnt eine kritischere Diskussion des Umgangs mit ausländischen Strafgefangenen, wobei sich BAECHTOLDund WICKERfür Anpassungen des Strafsystems aus-sprechen, welche der spezifischen Situation und den besonderen Bedürfnissen

5 Katarina Tomaševski, Foreigners in Prison, Helsinki 1994.

6 Anton van Kalmthout/Femke Hofsteee-van der Meulen/Frieder Dünkel, Foreigners in

European Prisons: Volume 1 and Volume 2, Nijmegen 2007.

7 Vgl. den folgenden Blog für aktuelle Arbeiten insbesondere aus dem angelsächsischen

Raum: http://bordercriminologies.law.ox.ac.uk/blog/ (zuletzt besucht am 10.7.2014).

8 Andrea Baechtold, Ausländer in schweizerischen Gefängnissen, in: Kriminologisches

Bulletin 1/1976, S. 5 ff.

9 Stefan Bauhofer/Nicolas Queloz (Hrsg.), Ausländer, Kriminalität und

Strafrechtspfle-ge, Chur 1993; Simone Rônez, Schweizerische Strafvollzugsstatistik 1997, Bern 1999;

Renate Storz, Zur Staatszugehörigkeit von Strafgefangenen: Ein

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der ausländischen InsassInnen Rechnung tragen sollen, um einen gleichwerti-gen Strafvollzug für alle Inhaftierten zu erreichen.10

2. Inhaltsübersicht

Das folgende Kapitel II legt die methodischen und rechtlichen Grundlagen dar, welche notwendig sind für das Verständnis der anschliessenden Ausfüh-rungen und beschreibt die Gruppe der ausländischen Strafgefangenen in der Schweiz. Das Kapitel III befasst sich mit den konkreten Fragen und Entschei-dungen hinsichtlich Resozialisierung im Strafvollzug, für welche ausländer-rechtliche Kriterien direkt oder indirekt bedeutsam sind. Abschliessend folgen im Schlusskapitel einige grundsätzliche Überlegungen zum Verhältnis von Strafvollzug und Migrationskontrolle sowie ein Ausblick auf die zu erwarten-den Folgen der Ausschaffungsinitiative für erwarten-den Strafvollzug.

II.

Grundlagen

1. Daten und Methodisches

Die empirischen Daten für den vorliegenden Artikel stammen aus einer eth-nologischen Forschung, welche die Autorin als Mitglied eines Teams der Universität Bern zwischen 2003 und 2006 durchgeführt hat.11Ziel der Studie war es, das Phänomen des überaus hohen AusländerInnenanteils im geschlos-senen Strafvollzug näher zu beleuchten und unter Berücksichtigung der Per-10 Andrea Baechtold, Strafvollzug und Strafvollstreckung an Ausländern: Prüfstein der

Strafrechtspflege oder bloss „suitable enemies“?, in: Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht, 3/2000, S. 45 ff.; Hans-Rudolf Wicker, Ethnologische Überlegungen zu ei-nem Strafvollzug im Zeitalter zunehmender transnationaler Mobilität, in: Baechtold/ Senn (Hrsg.), Brennpunkt Strafvollzug, Bern 2002, S. 223 ff.; Hans-Rudolf Wicker, Ausländerinnen und Ausländer im geschlossenen Strafvollzug – die Grenzen der To-leranz, in: Wicker (Hrsg.), Migration, Differenz, Recht und Schmerz: sozialanthropo-logische Essays zu einer sich verflüchtigenden Moderne, 1990-2010, Zürich 2012, S. 243 ff. Siehe auch: Pablo J. Loosli, Multikulturalität im Strafvollzug, in: Fink/ Kuhn/Schwarzenegger (Hrsg.), Migration, Kriminalität und Strafrecht – Fakten und Fiktion, Bern 2013, S. 271 ff.

11 Die Studie mit dem Titel „AusländerInnen im geschlossenen Strafvollzug: Sicherheit

und Resozialisierung vor dem Hintergrund nationaler Gesetzgebungen, fremdenpoli-zeilicher Massnahmen und der Zunahme transnationaler Mobilität“ wurde im Rahmen des NFP 51 „Sozialer Einschluss und Ausschluss“ durch den Schweizerischen Natio-nalfonds finanziert. Sie stand unter der Leitung von Hans-Rudolf Wicker. Jonas

Weber war für den rechtlichen Teil zuständig. Sämtliche empirischen Daten wurden

von der Autorin gemeinsam mit Ueli Hostettler erhoben. Siehe auch http://p3.snf.ch/project-69090 (zuletzt besucht am 15.7.2014).

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spektiven verschiedener involvierter Akteure zu verstehen.12 Die Forschung wurde hauptsächlich in den zwei geschlossenen Berner Strafanstalten Thor-berg (mit ca. 180 männlichen Inhaftierten) und Hindelbank (mit ca. 100 weib-lichen Inhaftierten) durchgeführt. Ergänzend wurden Daten bei den Migrati-ons- und Strafvollzugsbehörden des Kantons Bern sowie anderer Kantone erhoben.

Im Interesse an einer möglichst breiten Sicht auf die Situation ausländischer Strafgefangener wurden unterschiedliche Informationsquellen und -arten verwendet: Einerseits interviewten wir insgesamt 60 InsassInnen aus den beiden Strafanstalten. Ein Drittel der Gespräche wurde mit ÜbersetzerInnen geführt, zwei Drittel fanden auf Deutsch, Englisch oder Französisch statt. Weiter wurden Interviews mit 37 Mitarbeitenden verschiedener Bereiche der Anstalten sowie mit 9 Vertretenden von Migrations- und Strafvollzugsbehör-den geführt. Andererseits wurStrafvollzugsbehör-den eine grosse Zahl von Dossiers sowie Jah-resberichte und Daten des BFS analysiert, was u.a. Angaben zu zeitlichen Veränderungen ermöglichte. Schliesslich fanden punktuelle Beobachtungen innerhalb der Strafanstalten statt.13

2. Wichtige rechtliche Rahmenbedingungen für ausländische Strafgefangene

Bevor die Situation ausländischer InsassInnen im Strafvollzug aus praktischer Sicht dargestellt wird, gilt es, die relevanten rechtlichen Grundlagen aus dem Ausländer- und Strafrecht einzuführen. Dabei geht es nicht um eine vertiefte juristische Abhandlung dieser Frage, sondern lediglich um eine Übersicht, welche es erlauben soll, die Praxis zu kontextualisieren und zu verstehen.14 12 Christin Achermann, Straffällig, unerwünscht, ausgeschlossen: Ausländische

Strafge-fangene in der Schweiz, Bern 2008; Christin Achermann, Multiperspective research on foreigners in prisons in Switzerland, in: Bilger/van Liempt (Hrsg.), The Ethics of Migration Research Methodology: Processes, Policy and Legislation in Dealing with Vulnerable Immigrants, Brighton 2009, S. 49 ff.

13 Die empirischen Daten, auf denen dieser Beitrag beruht, sind nicht mehr ganz aktuell

und es lässt sich nicht ausschliessen, dass gewisse Angaben überholt sind. Die zu-gänglichen Informationen zur aktuellen Situation lassen jedoch vermuten, dass sich die Grundfragen und -schwierigkeiten in den vergangenen Jahren nicht grundsätzlich verändert haben. Vgl. etwa Loosli (Anm. 10).

14 Für eine detaillierte rechtliche Darstellung sei auf folgende Texte verwiesen: Zu den

strafvollzugsrechtlichen Fragen: Andrea Baechtold, Strafvollzug: Straf- und Mass-nahmenvollzug an Erwachsenen in der Schweiz, Bern 2009; Caterina Nägeli/Nick

Schoch, Ausländische Personen als Straftäter und Straftäterinnen, in: Uebersax et al.

(Hrsg.), Ausländerrecht: Eine umfassende Darstellung der Rechtsstellung von Aus-länderinnen und Ausländern in der Schweiz – von A(syl) bis Z(ivilrecht), Basel 2009, S. 1099 ff.

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Aus sozialwissenschaftlicher Sicht wird der rechtliche Rahmen als Struktur verstanden, die das Handeln von Individuen leitet und ermöglicht – ohne dieses jedoch unmittelbar zu determinieren – und die zugleich fortlaufend durch ebendiese Handlungen aufrechterhalten und umgestaltet wird.15 Es ist in diesem Sinne interessant zu sehen, wie das geschriebene Recht in konkrete Handlungen umgesetzt wird (oder auch nicht) und wie sich durch bestimmte Handlungen wiederum das Recht verändern kann (oder auch nicht).

a) Strafgefangene im Ausländerrecht

Die Wegweisung von ausländischen StraftäterInnen ist in der Schweiz seit der Lancierung der sogenannten Ausschaffungsinitiative16 im Jahr 2007 ein öffentliches Thema. Im Sommer 2014 ist noch immer unklar, wie die im No-vember 2010 angenommene Verfassungsbestimmung in Art. 121 Abs. 3-6 BV17dereinst umgesetzt werden soll.18Hier soll deshalb nicht auf diese lau-fenden Diskussionen eingegangen werden. Vielmehr werden knapp die

aktu-Zu den ausländerrechtlichen Fragen: Cesla Amarelle/Minh Son Nguyen (Hrsg.), L'exécution des renvois, Bern 2011; Martina Caroni/Tobias D. Meyer/Lisa Ott, Mi-grationsrecht, 2. Aufl. Bern 2011; Martina Caroni/Thomas Gächter/Daniela

Thurn-herr, Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer (AuG), Bern 2010; Marc Spescha/Hanspeter Thür/Andreas Zünd/Peter Bolzli (Hrsg.), Migrationsrecht.

Kom-mentar: Schweizerisches Ausländergesetz (AuG) und Freizügigkeitsabkommen (FZA) mit weiteren Erlassen, 3. aktualisierte Aufl. Zürich 2012; Andreas Zünd/Ladina

Ar-quint Hill, Beendigung der Anwesenheit, Entfernung und Fernhaltung, in: Uebersax et

al. (Hrsg.), Ausländerrecht: Eine umfassende Darstellung der Rechtsstellung von Aus-länderinnen und Ausländern in der Schweiz – von A(syl) bis Z(ivilrecht), Basel 2009, S. 312 ff.

15 Siehe dazu: Anthony Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft: Grundzüge einer

Theorie der Strukturierung, Frankfurt 1997.

16 Eidgenössische Volksinitiative „für die Ausschaffung krimineller Ausländer

(Aus-schaffungsinitiative)“, angenommen am 28.11.2010. Siehe: http://www.admin.ch/ ch/d/pore/vi/vis357.html (zuletzt besucht am 15.7.2014).

17 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (BV;

SR 101).

18 Siehe dazu etwa Christin Achermann, „Ausschaffungspraxis“ vor und nach der

An-nahme der Ausschaffungsinitiative, in: Fink/Kuhn/Schwarzenegger (Anm. 10), S. 241 ff.; Florian Weber, Die gesetzlichen Umsetzungsvarianten der SVP-Ausschaffungs-initiative im Lichte des FZA und der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 8 EMRK, AJP 10/2012, S. 1436 ff. Siehe auch den Beitrag von Luc Gonin in diesem Band. Eine Übersicht über den Stand der Umsetzungsarbeiten findet sich auf https:// www.bj.admin.ch//content/bj/de/home/themen/kriminalitaet/gesetzgebung/ausschaffu ng.html (zuletzt besucht am 15.7.2014).

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ellen ausländerrechtlichen Bestimmungen betreffend ausländische Straftäte-rInnen und deren bundesgerichtliche Auslegung zusammengefasst.19

Die Bewilligung einer ausländischen Person, die zu einer „längerfristigen Freiheitsstrafe verurteilt wurde“, kann widerrufen und die Person in der Folge weggewiesen werden (Art. 62 lit. b, Art. 63 Abs. 1 lit. a, Art. 64 Abs. 1 lit. c AuG20). Gemäss Bundesgericht ist eine Freiheitsstrafe von über einem Jahr als „längerfristig“ zu verstehen.21 Der Widerruf muss im Einzelfall verhält-nismässig sein, was durch ein Abwägen von öffentlichen und persönlichen Interessen festzustellen ist.22 Gegen eine Wegweisungsverfügung kann die betroffene Person zuerst verwaltungsintern und anschliessend abhängig von der Aufenthaltssituation bis vor eine kantonale Rekursinstanz resp. bis vor Bundesgericht Beschwerde erheben.

Für Staatsangehörige von EU- oder EFTA-Mitgliedsstaaten gelten gemäss dem Freizügigkeitsabkommen (FZA)23 eigene und im Vergleich zum AuG strengere Regeln für eine Wegweisung.24Gemäss Art. 5 Abs. 1 des Anhangs I des FZA darf die Freizügigkeit von Angehörigen der Mitgliedstaaten „nur durch Massnahmen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind, eingeschränkt werden.“ Eine Wegwei-19 Für vertiefte Abhandlungen sei auf Anmerkung 14 verwiesen. Das Bundesgericht hat

sich in ersten Urteilen zu den durch die Ausschaffungsinitiative eingefügten Verfas-sungsbestimmungen geäussert und dabei darauf hingewiesen, dass diese nicht direkt anwendbar sind. Zudem haben sie keinen Vorrang vor Grundrechten oder etwa der EMRK (BGer 2C_828/2011 vom 12.10.2012 E. 4 und 5; BGer 2C_926/2011 vom 12.10.2012 E. 2.3.2; BGer 2C_348/2012 vom 13.3.2013 E. 3.2). Siehe dazu auch:

Bundesamt für Migration BFM, Weisungen und Erläuterungen Ausländerbereich

(Weisungen AuG), Überarbeitete und vereinheitlichte Fassung, Bern 2013 (aktua-lisiert am 4. Juli 2014), S. 290. Online unter https://www.bfm.admin.ch/ content/dam/data/bfm/rechtsgrundlagen/weisungen/auslaender/weisungen-aug-d.pdf (zuletzt besucht am 15.7.2014).

20 Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer vom 16. Dezember 2005

(Aus-ländergesetz, AuG; SR 142.20).

21 BGE 135 II 377 E. 4.2. Siehe auch Spescha/Thür/Zünd/Bolzli (Anm. 14), S. 172 f. und

BGE 139 I 145.

22 Siehe u.a. Achermann, Straffällig, unerwünscht (Anm. 12); Christin Achermann,

Straffällige Ausländerinnen und Ausländer: Kenntnisse zur aktuellen Praxis, in: Achermann et al. (Hrsg.), Jahrbuch für Migrationsrecht 2009/2010, Bern 2010, S. 175 ff.; BFM (Anm. 19), Kap. 8.3.

23 Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der

Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Frei-zügigkeit in Kraft getreten am 1. Juni 2002 (FreiFrei-zügigkeitsabkommen, FZA; SR 0.142.112.681).

24 Vgl. dazu Astrid Epiney, Ausschaffungsinitiative und Freizügigkeitsabkommen,

Zeit-schrift für Gesetzgebung und Rechtsprechung in Graubünden ZGRG, 1/2010, S. 3 ff.;

Spescha/Thür/Zünd/Bolzli (Anm. 14) S. 630 ff.; Weber (Anm. 18); Zünd/Arquint Hill

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sung von Staatsangehörigen von EU- oder EFTA-Staaten ist somit nur ge-rechtfertigt, wenn das persönliche Verhalten dieser Person „eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend schwere Gefährdung“ darstellt, „die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.“25Dies bedeutet insbesondere, dass eine Wegweisung aus generalpräventiven Gründen nicht zulässig ist.

Für die vorliegende Thematik relevant ist auch die Frage, wann der auslän-derrechtliche Entscheid über den künftigen Aufenthalt einer verurteilten Per-son gefällt wird. Gemäss Art. 70 Abs. 2 VZAE26ist „spätestens auf den Zeit-punkt der bedingten oder unbedingten Entlassung aus dem Strafvollzug“ zu regeln, ob die Person in der Schweiz verbleiben kann oder weggewiesen wird. Gemäss Bundesgericht hängt der genaue Zeitpunkt vom Einzelfall ab, wobei einerseits darauf zu achten sei, dass der Entscheid nicht zu früh erfolgt (da so die Situation nach der Entlassung schwierig zu beurteilen sein kann). Ande-rerseits soll das Wegweisungsverfahren derart geplant werden, dass ein rechtskräftiger Entscheid noch während der Inhaftierung fällt.27 Diese Aus-gangslage zieht für den Strafvollzug und insbesondere seinen Auftrag, die Gefangenen zu resozialisieren, einige Schwierigkeiten nach sich.

b) Strafvollzug und AusländerInnen

Wechselt man die Perspektive und nähert sich der Frage ausländischer Straf-gefangener über das Strafgesetz an, sind die in Art. 75 Abs. 1 StGB28 um-schriebenen Strafvollzugsgrundsätze von zentraler Bedeutung:

„Der Strafvollzug hat das soziale Verhalten des Gefangenen zu fördern, insbesondere die Fähigkeit, straffrei zu leben. Der Strafvollzug hat den allgemeinen Lebensverhält-nissen so weit als möglich zu entsprechen, die Betreuung des Gefangenen zu gewähr-leisten, schädlichen Folgen des Freiheitsentzugs entgegenzuwirken und dem Schutz der Allgemeinheit, des Vollzugspersonals und der Mitgefangenen angemessen Rech-nung zu tragen.“

Ein wesentliches Ziel des Strafvollzugs ist demnach neben dem Schutz der Gesellschaft vor möglichen Gefahren, die von Inhaftierten ausgehen könnten, dass sich die Gefangenen nach ihrer Entlassung in die Gesellschaft einfügen und nicht rückfällig werden. Zu diesem Zweck besteht in der Schweiz ein differenziertes System von verschiedenen Institutionen und Instrumenten, 25 BFM (Anm. 19), S. 286.

26 Verordnung über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit vom 24. Oktober 2007

(VZAE; SR 142.201).

27 BGE 131 II 329; BFM (Anm. 19), S. 303. Zur Praxis siehe: Achermann, Straffällig,

unerwünscht (Anm. 12), Kap. 13.

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welche von der Idee einer stufenweisen Wiedereingliederung in das Leben in Freiheit ausgehen.29 Das Strafgesetzbuch unterscheidet dabei zwischen ver-schiedenen TäterInnen, insbesondere je nach Straftat oder je nach den Fakto-ren, die zur Delinquenz geführt haben (z.B. psychische Störungen oder Sucht). Weiter wird das Alter der TäterInnen berücksichtigt. Minderjährige und junge Erwachsene werden folglich unterschiedlich von Erwachsenen behandelt, was sich nicht nur in spezifischen Institutionen, sondern auch in eigenen gesetzlichen Regelungen niederschlägt.30 Schliesslich ist gemäss Art. 75 Abs. 5 StGB „[d]en geschlechtsspezifischen Anliegen und Bedürfnis-sen der Gefangenen […] Rechnung zu tragen.“ Die Staatsangehörigkeit von StraftäterInnen oder deren Aufenthaltsstatus erscheint im StGB nicht als Kri-terium für eine unterschiedliche Behandlung. Aus strafrechtlicher Sicht wer-den StraftäterInnen folglich in erster Linie als Personen betrachtet, welche gegen das Gesetz verstossen haben, wobei verschiedene persönliche oder tatspezifische Faktoren berücksichtigt werden sollen. Die Nationalität oder der Aufenthaltsstatus hingegen sind in dieser Hinsicht nicht von Interesse.31 Wie im Folgenden gezeigt wird, spielen Staatsangehörigkeit und Aufenthalts-situation in der Praxis des schweizerischen Strafvollzugs jedoch eine wichtige Rolle und sind ein wesentliches Kriterium, nach dem die InsassInnen unter-schieden werden. Die scheinbare Universalität des Strafrechts wird dadurch in Frage gestellt.

Der Strafvollzug in der Schweiz ist auf verschiedenen Ebenen geregelt. Das Strafgesetzbuch regelt auf Bundesebene unter Titel 4 des ersten Teils des ersten Buches die übergreifenden Bedingungen und Prinzipien (Art. 74-92 StGB). Hierzu zählen neben den erwähnten Grundsätzen auch die Vollzugs-formen und die Anstaltstypen. Für das vorliegende Thema von besonderem Interesse ist einerseits, dass das Hauptziel einer Freiheitsstrafe wie erwähnt die Fähigkeit ist, ein straffreies Leben zu führen. Hierzu zählt auch, dass den negativen Folgen des Freiheitsentzuges entgegengewirkt werden soll. Gleich-zeitig zu diesem als Resozialisierung32zu bezeichnenden Ziel hat der Straf-vollzug auch die Sicherheit der Öffentlichkeit, der Mitarbeitenden und aller InsassInnen zu garantieren. Um der individuellen Situation bezüglich Bedarf an Sicherung und Resozialisierung gerecht zu werden, unterscheidet das Bundesrecht zwischen offenen und geschlossenen Strafanstalten (Art. 76 StGB). Eine Person soll in eine geschlossene Anstalt eingewiesen werden, falls die Gefahr eines Rückfalls oder einer Flucht besteht. Geschlossene 29 Bundesamt für Justiz BJ, Strafen und Massnahmen in der Schweiz: System und

Voll-zug für Erwachsene und Jugendliche: ein Überblick, Bern 2010.

30 Siehe BJ (Anm. 29), S. 13 ff. 31 Baechtold, Strafvollzug (Anm. 14).

32 Siehe zum umstrittenen Begriff der Resozialisierung im Strafvollzug Achermann,

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Strafanstalten müssen durch architektonische, technische und organisatori-sche Massnahmen sowie durch entsprechendes Personal sicherstellen, dass sich die Eingewiesenen der Strafe nicht durch Flucht entziehen können oder dass sie keine weiteren Straftaten begehen.33

Seit 2007 ist der individuelle Vollzugsplan (Art. 75 Abs. 3 StGB) das zentrale Instrument zur Förderung der Resozialisierung:34

„Die Anstaltsordnung sieht vor, dass zusammen mit dem Gefangenen ein Vollzugs-plan erstellt wird. Dieser enthält namentlich Angaben über die angebotene Betreuung, die Arbeits- sowie die Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten, die Wiedergut-machung, die Beziehungen zur Aussenwelt und die Vorbereitung der Entlassung.“

Der Vollzugsplan soll die verschiedenen Etappen des Resozialisierungspro-zesses sowie die entsprechenden Instrumente festhalten. Eine erste Etappe kann als „Befähigungs- und Trainingsphase“ bezeichnet werden, während der die nötigen Fähigkeiten und Fertigkeiten erlangt und eingeübt werden sollen, um ein gesetzeskonformes Leben zu führen. Als zweite Phase, die ebenfalls im Vollzugsplan vorgesehen ist, ist die Vorbereitung des konkreten Wieder-eingliederungsprozesses zu sehen, der insbesondere die Austrittsvorbereitung, aber auch allgemein die Herstellung von Beziehungen und Verbindungen zur Aussenwelt umfasst. Hierzu zählen etwa die Suche einer Wohnung und einer Arbeitsstelle, die Versetzung in offenere Vollzugsformen wie das Arbeits-und/oder Wohnexternat und die Anbindung an zuständige Dienste ausserhalb des Strafvollzugs wie insbesondere die Sozialhilfe.

Zur Befähigungs- und Trainingsphase zählt einerseits die Arbeitspflicht, wo-bei die Tätigkeit nach Möglichkeit den Fähigkeiten, der Bildung und den Interessen der Strafgefangenen entsprechen soll (Art. 81 Abs. 1 StGB) und entlöhnt wird (Art. 83 StGB). Wo als nötig und sinnvoll erachtet, sollen die InsassInnen Aus- oder Weiterbildungen absolvieren können, welche als gleichwertig wie Arbeit betrachtet werden können (Art. 82 und Art. 83 Abs. 3 StGB).35

Da soziale Beziehungen „zur Aussenwelt“ als sehr bedeutsam für die Resozi-alisierung erachtet werden, sollen diese auch während des Strafvollzugs er-33 BJ (Anm. 29), S. 9.

34 Siehe auch Philippe de Sinner/Nicolas Queloz/Franz Riklin/Ariane Senn/Raphaël

Brossard (Hrsg.), Der individuelle Vollzugsplan, Bern 2006.

35 Zur sogenannten Basisbildung im Strafvollzug siehe: Ueli Hostettler/Roger

Kirch-hofer/Marina Richter/Chris Young, Bildung im Strafvollzug BiSt. Externe Evaluation.

Schlussbericht, Freiburg 2010; Roger Kirchhofer/Marina Richter, Resocialisation as a Goal of the Penal System: the Example of Education in Swiss Prisons, in: Budowski/ Nollert/Young (Hrsg.), Delinquenz und Bestrafung: Diskurs, Institutionen und Struk-turen, Zürich 2012, S. 167 ff.

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halten und gefördert werden. Allerdings können sie aus Sicherheitsgründen eingeschränkt oder verboten werden. Eine indirekte Möglichkeit, in Bezie-hung zur Welt ausserhalb der Strafanstalt zu treten, sind Medien (Presse, Radio, TV) und Bücher. Eine zweite sind direkte soziale Interaktionen einer-seits durch Telefongespräche, Briefe und den Empfang von Besuchenden, andererseits durch Urlaube (Art. 84 StGB).36Besuche und Telefongespräche sind meist in den Hausordnungen der Anstalten geregelt. Grundsätzlich hat jedoch jedeR Gefangene das Recht pro Woche während einer Stunde Besuch zu empfangen.37Das wohl wichtigste und weitreichendste Mittel zur Pflege sozialer Beziehungen sind Urlaube. Gemäss Art. 84 Abs. 6 StGB ist dem/der Gefangenen „zur Pflege der Beziehungen zur Aussenwelt, zur Vorbereitung seiner Entlassung oder aus besonderen Gründen in angemessenem Umfang Urlaub zu gewähren, soweit sein Verhalten im Strafvollzug dem nicht entge-gensteht und keine Gefahr besteht, dass er flieht oder weitere Straftaten begeht.“

Sämtliche Bestimmungen auf Bundesebene unterscheiden wie erwähnt nicht zwischen Strafgefangenen schweizerischer oder ausländischer Staatsangehö-rigkeit und knüpfen keinerlei besondere Bedürfnisse oder spezifische Ein-schränkungen an diesen Status.38 Zudem hält das Bundesgericht in einem jüngeren Entscheid fest, dass sich das Vollzugsziel der Wiedereingliederung gemäss Art. 75 StGB nicht auf die Wiedereingliederung ausschliesslich in die schweizerische Gesellschaft beschränkt.39 Grundsätzlich eröffnet der indivi-duelle Zugang des Vollzugsplans damit die Möglichkeit – oder gar die Pflicht40–, dass bestimmte Eigenheiten der Situation eines oder einer Gefan-genen, die mit der ausländischen Staatsangehörigkeit, dem Aufenthaltsstatus oder der Herkunft der Person zusammenhängen, berücksichtigt werden. Indirekt spielt der Aufenthaltsstatus jedoch insbesondere auf kantonaler Ebe-ne resp. auf jeEbe-ner der Strafvollzugskonkordate41eine Rolle für die Ausgestal-tung der Strafvollzugsbedingungen.42 In den beiden Deutschschweizer Kon-kordaten bestehen spezifische Merkblätter und Richtlinien, welche sich teil-weise explizit auf ausländische Strafgefangene beziehen oder die in ihren 36 Siehe auch BJ (Anm. 29), S. 12.

37 BJ (Anm. 29), S. 12.

38 Siehe auch Nägeli/Schoch (Anm. 14), Rz. 22.152. 39 BGer 6B_577/2011 vom 12.1.2012 E. 4.2. 40 Siehe auch Nägeli/Schoch (Anm. 14), Rz. 22.152.

41 Damit nicht jeder Kanton eigene Strafanstalten für die verschiedenen Kategorien von

Gefangenen errichten muss, haben sich die Kantone zu drei Konkordaten zusammen-geschlossen. „Dabei handelt es sich um interkantonale Vertragswerke, die eine Lücke zwischen der Gesetzgebung des Bundes und jener der Kantone schliessen und eine Rechtsvereinheitlichung mittels verbindlicher Richtlinien und Empfehlungen schlies-sen“ BJ (Anm. 29), S. 4.

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allgemeinen Regelungen danach differenzieren, ob eine Person nach Entlas-sung die Schweiz verlassen muss oder nicht. Die relevanten Texte regeln beispielsweise die Einweisung in einen Anstaltstyp, die Vollzugsplanung, die Urlaubs- und Ausgangsgewährung oder die Versetzung in eine offenere Voll-zugsform.43Das Konkordat der Kantone der lateinischen Schweiz44hingegen hat mit Ausnahme einer Ende 2013 erlassenen Empfehlung betreffend den Informationsaustausch45, unter anderem von den Migrations- an die Strafvoll-zugsbehörden, keine Richtlinien zu ausländischen Inhaftierten erlassen. Das entsprechende Vorgehen liegt deshalb in der Kompetenz der einzelnen Kan-tone. Dennoch haben sich in der Praxis in gewissen Fällen ähnliche Praktiken zwischen den Kantonen herausgebildet, auf die im Folgenden punktuell hin-gewiesen wird.46

Die beiden Deutschschweizer Konkordate haben ihre Regeln unterschiedlich gegliedert. Während das Ostschweizer Konkordat die wesentlichen Fragen betreffend AusländerInnen, welche die Schweiz nach Entlassung verlassen müssen, in einem separaten Merkblatt47 regelt, hat das Konkordat der Nord-west- und Innerschweiz einzig die Einweisung von ausländischen Verurteil-ten sowie die Zusammenarbeit zwischen den Migrations- und Strafvollzugs-behörden in einer eigenen Richtlinie festgehalten.48Für die Vollzugsplanung ebenso wie für die verschiedenen Vollzugsöffnungen (Ausgang, Urlaub oder Versetzung in eine offenere Vollzugsform)49gibt es im Nordwest- und Inner-43 Siehe für das Strafvollzugskonkordat der Nordwest- und Innerschweiz (im Folgenden

NWI-CH): http://www.prison.ch/de/justizvollzug-schweiz/who-is-who/konkordate/ nordwest-und-innerschweiz/handbuch.html (zuletzt besucht am 16.7.2014) und für das Ostschweizer Strafvollzugskonkordat (im Folgenden Ost-CH): http://www.justiz vollzug.zh.ch/internet/justiz_inneres/juv/de/ueber_uns/organisation/osk.html (zuletzt besucht am 16.7.2014).

44 „Conférence latine des autorités cantonales compétentes en matière d’exécution des

peines et des mesures CLDJP“ (im Folgenden CLDJP). Siehe http://www. cldjp.ch/concordats/concordats.html (zuletzt besucht am 15.7.2014).

45 Conférence latine des autorités cantonales compétentes en matière d’exécution des

peines et des mesures, Recommandation du 31 octobre 2013 relative à l’échange d’informations et à la non-opposabilité du secret médical et/ou de fonction en rapport avec la dangerosité d’un détenu et pouvant avoir une incidence sur son évaluation ou sur les conditions d’allègement dans l’exécution, Art. 1 Abs. 2.

46 Informationen des Generalsekretärs der CLDJP vom 2. Juni 2014.

47 Ost-CH, Merkblatt zum Umgang mit ausländischen Gefangenen im Strafvollzug,

welche die Schweiz nach dem Vollzug verlassen müssen, beschlossen von der Straf-vollzugskommission am 26. Oktober 2012.

48 NWI-CH, Richtlinien betreffend Ausländerinnen und Ausländer im Straf- und

Mass-nahmenvollzug vom 2. November 2007 und Richtlinien für die Zusammenarbeit zwi-schen den Behörden des Straf- und Massnahmenvollzugs sowie Migrations-/Fremdenpolizeibehörden vom 4. November 2005.

49 Siehe Art. 75a Abs. 2 StGB und NWI-CH, Richtlinien über die Ausgangs- und

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schweizer Konkordat allgemeine Regelungen, in denen eine drohende oder rechtskräftige Wegweisung gelegentlich als Differenzierungskriterium er-scheint. Trotz dieser unterschiedlichen Systematik decken sich die aktuell geltenden Regelungen für die Einweisung in eine Anstalt und den Zugang zu Vollzugsöffnungen zwischen den beiden Deutschschweizer Konkordaten weitgehend (siehe unten). Unterschiedlich sind die Bestimmungen der Deutschschweizer Konkordate betreffend Vollzugsplanung, wobei das Ost-schweizer Konkordat explizit auf die spezifische Situation von Personen ein-geht, welche die Schweiz nach der Entlassung verlassen müssen. Bei diesen „wird das Vollzugsziel darauf ausgerichtet, sie zu befähigen, im künftigen Umfeld straffrei leben und den Lebensunterhalt legal bestreiten zu können.“50 Mit Verweis auf den oben erwähnten Bundesgerichtsentscheid wird dabei bekräftigt, dass sich „das Vollzugsziel der Wiedereingliederung nicht auf die Rückkehr in die schweizerische Gesellschaft beschränkt“51. Folglich müsse der Vollzug je nach Aufenthaltsort nach der Entlassung unterschiedlich aus-gestaltet werden. Wie dies konkret mittels im Vollzugsplan vereinbarten Zie-len und Massnahmen erreicht werden soll, geht aus dem Merkblatt allerdings nicht hervor. Die Richtlinie zur Vollzugsplanung des Nordwest- und Inner-schweizer Konkordats unterscheidet dagegen nicht nach Personen mit oder ohne Aufenthaltsrecht bzw. mit oder ohne Wegweisungsentscheid. Sie ist in diesem Sinne allgemeiner ausgerichtet und verweist lediglich darauf, dass die „täter- und tatorientierten Komponenten“ in der Vollzugsplanung zu berück-sichtigen sind.52Wie dies konkret zu erfolgen hat und welche Rolle dabei eine allfällige Wegweisung nach Entlassung spielen könnte, wird jedoch nicht ausgeführt.

Generell sind für Entscheidungen bezüglich Vollzugsöffnungen, welche die Bedingungen während des Strafvollzugs und insbesondere der Resozialisie-rung mitbestimmen, gemäss Richtlinien und Merkblättern der Deutsch-schweizer Strafvollzugskonkordate grundsätzlich drei Kriterien relevant: Fluchtgefahr, ein tragfähiges Beziehungsnetz zu in der Schweiz lebenden Menschen und ob die Person nach Entlassung in der Schweiz bleiben oder weggewiesen wird. Diese drei Faktoren sind miteinander verbunden, aber ihre gegenseitige Beeinflussung und die jeweilige Bedeutung eines Faktors wer-den aus wer-den genannten Grundlagen nicht eindeutig klar und unterscheiwer-den sich zwischen den beiden Konkordaten.53 Wie diese Bedingungen in der Praxis angewandt werden, wird im Kapitel III aufgezeigt werden. Vor-50 Ostschweizer Strafvollzugskommission, Richtlinien für die Vollzugsplanung vom

7. April 2006, S. 2.

51 Ost-CH, Merkblatt Ausländer, Ziff. 1.2.

52 NWI-CH, Richtlinien für die Vollzugsplanung vom 22. April 2005, Ziff. 2.1.

53 Achermann, Straffällig, unerwünscht (Anm. 12), S. 235 ff.; Nägeli und Schoch

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wegzunehmen ist, dass insbesondere die Qualifikation „Fluchtgefahr“ einen entscheidenden Einfluss auf jegliche Formen von Öffnung gegenüber der Welt ausserhalb der Strafanstalt ausübt. Dabei wird ein sicherer oder wahrscheinlicher Wegweisungsentscheid als fluchtfördernder Aspekt inter-pretiert. Demnach werden Personen, bei denen erhöhte Fluchtgefahr besteht und/oder die mit einer Wegweisung zu rechnen haben, in der Regel in eine geschlossene Anstalt eingewiesen, sind vom Wohn- und Arbeitsexternat (Art. 77a StGB) ausgeschlossen und werden nicht beurlaubt. Hat dieselbe Person jedoch enge und stabile soziale Beziehungen zu in der Schweiz lebenden Menschen, so kann dies als fluchthindernd verstanden werden, was die Gesamteinschätzung erschwert. Jedoch stützte das Bundesgericht in der Vergangenheit auch in diesen Fällen die Tendenz, eine erhöhte Fluchtgefahr zu vermuten, falls mit einer Wegweisung zu rechnen ist und zudem noch eine hohe Reststrafe zu verbüssen ist.54 Allgemein gründete die Praxis bzgl. Fluchtgefahr bis Ende 2011 auf verschiedenen Bundesgerichtsentscheiden, welche Folgendes festhielten:

„Die Aussicht, zusätzlich zu einer Strafverbüssung noch ausgeschafft zu werden, vermindert den Anreiz, zurzeit von einer Flucht abzusehen, wesentlich und erhöht die Fluchtgefahr in erheblichem Ausmass. Daran ändert der Umstand nichts, dass es von Interesse sein könnte, möglichst lang in der Schweiz zu verbleiben und den Kontakt mit den Kindern aufrechtzuerhalten bzw. mit einer Arbeit an der in Aussicht gestellten Stelle in bestmöglicher Weise die Familie zu unterstützen.“55

Interessant ist dabei, dass im Fall von AusländerInnen eine klare Gewichtung zugunsten einer Annahme von Fluchtgefahr vorgenommen wurde, falls eine Wegweisung drohte. Dies stand im Widerspruch zur allgemeinen bundesge-richtlichen Praxis hinsichtlich der Annahme von Fluchtgefahr, wonach eine umfassende Betrachtung der Situation erforderlich wäre, die verschiedene Kriterien berücksichtigt:

„Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts braucht es für die Annahme von Fluchtgefahr eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass sich der Angeschuldigte, wenn er in Freiheit wäre, der Strafverfolgung und dem Vollzug der Strafe durch Flucht entzie-hen würde. Hierfür sind die gesamten konkreten Verhältnisse in Betracht zu zieentzie-hen. Es müssen konkret Gründe dargetan werden, die eine Flucht nicht nur als möglich, sondern als wahrscheinlich erscheinen lassen. Die Schwere der drohenden Strafe darf als ein Indiz für Fluchtgefahr gewertet werden, genügt jedoch für sich allein nicht, um den Haftgrund zu bejahen. Es müssen die gesamten Lebensverhältnisse, familiäre Bindungen, die berufliche und finanzielle Situation und Kontakte zum Ausland

mitbe-54 Siehe Nägeli und Schoch (Anm. 14), Rz. 22.156.

55 BGer 1B_378/2009 vom 13.1.2010 E. 4.1. Siehe auch BGer 1P.623/2003 vom

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rücksichtigt werden. Selbst bei einer befürchteten Ausreise in ein Land, das den An-geschuldigten grundsätzlich an die Schweiz ausliefern bzw. stellvertretend verfolgen könnte, ist die Annahme von Fluchtgefahr nicht ausgeschlossen.”56

Diese abweichende Einschätzung im Fall von AusländerInnen wurde mit einem jüngeren Entscheid korrigiert, der festhält, dass eine mögliche oder gar wahrscheinliche künftige Wegweisung „weder einziges noch vorrangiges Kriterium zur Einschätzung der Fluchtgefahr“ sei. Denn:

„Hinge es für die Bejahung der Fluchtgefahr ausschliesslich oder überwiegend davon ab, ob die verurteilte Person die Schweiz nach der Strafverbüssung wird verlassen müssen, wären ausländischen Straftätern grundsätzlich keine bzw. keine unbegleiteten Ausgänge und Urlaube mehr zu bewilligen, sofern sie mit einer Ausweisung ernsthaft zu rechnen hätten.“57

Eine solch schematische Argumentation verstösst gemäss Bundesgericht gegen den Grundsatz der konkreten Beurteilung der Fluchtgefahr (Art. 84 Abs. 6 StGB).

Die aktuell geltenden Richtlinien bzw. Merkblätter der beiden Deutsch-schweizer Konkordate können so ausgelegt werden, dass sie dieser Ausgangs-lage Rechnung tragen. Dies betrifft insbesondere die jüngeren Regeln des Ostschweizer Strafvollzugskonkordates, welche sich explizit auf die Recht-sprechung des Bundesgerichts beziehen. Dabei sind für die Beurteilung der Fluchtgefahr im konkreten Einzelfall folgende Kriterien zu berücksichtigen: Kontakte zum Ausland, eine drohende oder rechtskräftige Wegweisung, feh-lender Wohnsitz in der Schweiz, fehlende familiäre Beziehungen zu Personen in der Schweiz, Länge der Strafe.58In den verschiedenen relevanten Richtli-nien des Nordwest- und Innerschweizer Konkordats finden sich keine ähnlich präzisen Angaben zur Bestimmung der Fluchtgefahr – obwohl diese wie er-wähnt für sämtliche Entscheide bezüglich Einweisung oder Vollzugsöffnun-gen ein zentrales Ausschlusskriterium ist. Die Richtlinie über die Ausgangs-und Urlaubsgewährung verweist jedoch ebenfalls darauf, dass die Fluchtge-fahr „aufgrund einer Analyse des konkreten Risikos“ zu beurteilen sei.59Die Praxis mehrerer Kantone des Konkordats der lateinischen Schweiz zeigt, dass eine drohende Wegweisung von ausländischen InsassInnen nicht zur Annah-me einer erhöhten Fluchtgefahr führt, welche der Versetzung in eine offenere 56 BGer 1P.623/2003 vom 23.2.2004 E. 4.1 mit Verweis auf BGE 125 I 60 E. 3a S. 62;

123 I 31 E. 3d S. 36; 117 Ia 69 E. 4a S. 70 und 107 Ia 3 E. 5 S. 6 (Hervorhebung durch die Autorin).

57 BGer 6B_577/2011 vom 12.1.2012 E. 4.2. 58 Ost-CH, Merkblatt Ausländer (Anm. 47), Ziff. 2. 59 NWI-CH, RL Urlaub (Anm. 49), Ziff. 6.1 lit. f.

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Vollzugsform entgegensteht. Da in diesem Konkordat die Haltung dominiert, dass die Zielsetzungen des Strafgesetzbuches dem Vollzug des Ausländer-rechts vorgehen, erlauben mehrere Kantone seit längerer Zeit, dass auch Aus-länderInnen, die weggewiesen werden, im Interesse der Resozialisierung ins Arbeitsexternat versetzt werden. Die zuständigen Migrationsbehörden ver-zichten in diesen Fällen ausnahmsweise auf das Erfordernis einer Arbeitsbe-willigung.60

Die bisherigen Ausführungen verweisen auf ein Spannungsverhältnis, das zwischen dem Resozialisierungsauftrag des Strafvollzugs und einer (mögli-chen) ausländerrechtlichen Wegweisung der Person besteht, die als Indiz für eine erhöhte Fluchtgefahr zählen kann. Die Deutschschweizer Strafvollzugs-konkordate haben eine Reihe von Regeln festgehalten, welche spezifische Probleme, die sich aus dieser Spannung ergeben können, klären sollen. Ein zentraler Punkt ist dabei der Informationsaustausch zwischen Migrations- und Strafvollzugsbehörden (und gegebenenfalls Strafanstalten). Beide Strafvoll-zugskonkordate halten fest, dass so früh als möglich geklärt und darüber in-formiert werden soll, ob eine Person nach ihrer Entlassung weggewiesen werden wird.61 Damit soll die lange Ungewissheit bezüglich des künftigen Aufenthaltsortes, welche für die Vollzugsplanung ein grosses Problem dar-stellt, verhindert resp. verkürzt werden. Die genannte Empfehlung des Kon-kordats der lateinischen Schweiz hält ganz allgemein fest, dass die Migrati-onsbehörden den für den Strafvollzug zuständigen Behörden sämtliche In-formationen zur Verfügung stellen, die diese zur Erfüllung ihrer Aufgaben benötigen.62 Konkret dürften hierzu Angaben zum künftigen Aufenthaltsort zählen.

Da jedoch in der Praxis Wegweisungsentscheide aufgrund von hängigen Be-schwerden häufig erst gegen Ende der verbüssten Strafe rechtskräftig wer-den,63 halten die Texte der Deutschschweizer Konkordate zudem fest, was während dieser ungewissen Phase gelten soll. Hierbei wird tendenziell – im Ostschweizer Merkblatt deutlicher als in der Nordwest- und Innerschweizer Richtlinie – auf die Absicht der Migrationsbehörde abgestellt und kaum auf die Präferenz der Strafgefangenen. Konkret führt dies dazu, dass eine Person vor einem rechtskräftigen Entscheid über den künftigen Aufenthaltsort eher 60 Informationen der CLDJP (Anm. 46). Gemäss den Informationen von KLOPPstellt der

Kanton Genf in diesen Fällen eine temporäre Arbeitsbewilligung aus (Anne-Marie

Klopp, Bericht des Workshops 5 „Individueller Vollzugsplan und ausländische

Insas-sen“, in: De Sinner/Queloz/Riklin/Senn/Brossard (Anm. 34), S. 218). Siehe auch

Achermann, Straffällig, unerwünscht (Anm. 12), S. 232 f.

61 Ost-CH, RL Vollzugsplanung (Anm. 50), Ziff. 2; NWI-CH, RL Zusammenarbeit

(Anm. 48), Ziff. V Abs. 2 lit. b.

62 CLDJP, Recommandation (Anm. 45), Art. 1 Abs. 2. 63 Achermann, Straffällig, unerwünscht (Anm. 12), S. 196 ff.

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nicht auf eine Wiedereingliederung in die Schweiz vorbereitet wird.64 Das Ostschweizer Merkblatt zu AusländerInnen, welche die Schweiz verlassen müssen, gibt im Zusammenhang mit der Vollzugsplanung dem ausländer-rechtlichem Entscheid gegenüber den Wiedereingliederungsbemühungen klar den Vorrang:

„Im Vollzugsplan sind im Einzelfall die verschiedenen, teils widersprüchlichen Inte-ressen gegeneinander abzuwägen. Zu diesen InteInte-ressen gehört auch die Sicherstellung des Vollzugs eines ausländerrechtlichen Fernhalteentscheids. Ausländerrechtliche Anordnungen und Vollzugsanordnungen sind zu koordinieren, um sich nicht dem Vorwurf des widersprüchlichen Behördenverhaltens auszusetzen. Durch Wiederein-gliederungsbemühungen darf der ausländerrechtliche Entscheid nicht unterlaufen werden.“65

Der letzte Satz ist insofern bemerkenswert, als er vonseiten der Strafvollzugs-behörden geäussert wird, bei denen davon auszugehen wäre, dass ihre Aufga-be und ihr Orientierungspunkt die Ziele des Strafvollzugs und nicht jene des Ausländerrechts sind. In diesem Sinne ist zu fragen, ob denn durch diese Hierarchie nicht umgekehrt die Gefahr entsteht, dass die Strafvollzugsziele durch ausländerrechtliche Entscheide unterlaufen werden. Konkret dürfte dies bedeuten, dass sich die Wiedereingliederungsbemühungen im Fall von weg-gewiesenen bzw. wegzuweisenden AusländerInnen auf Tätigkeiten innerhalb der Strafanstalten beschränken. Wie bereits erwähnt vertreten die Kantone des lateinischen Konkordats diesbezüglich die gegenteilige Haltung, indem sie dem StGB gegenüber dem Ausländerrecht Priorität beimessen.

3. Anteile und Merkmale der ausländischen Strafgefangenen in der Schweiz

Nach den wichtigen rechtlichen Grundlagen steht im Folgenden die Gruppe der ausländischen Strafgefangenen im Mittelpunkt: Wie viele von ihnen gibt es in den Schweizer Strafanstalten, woher kommen sie und wodurch zeichnet sich ihre Situation aus? Im Jahr 2013 waren 74,3% aller Personen, die sich am Stichtag im Freiheitsentzug befanden, ausländischer Nationalität.66 Die Schweiz liegt damit nach Monaco an der Spitze aller europäischen Staaten, 64 Achermann, Straffällig, unerwünscht (Anm. 12), Kap. 14.

65 Ost-CH, Merkblatt Ausländer (Anm. 47), Ziff. 1.1.

66 Zum Freiheitsentzug zählen: Untersuchungshaft, vorzeitiger Strafantritt, Straf- und

Massnahmenvollzug, ausländerrechtliche Administrativhaft und fürsorgerischer Frei-heitsentzug, http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/19/03/05/key/ueber blick/wichtigsten_zahlen.html (zuletzt besucht am 30.5.2014).

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die einen durchschnittlichen AusländerInnenanteil von 20,6% aufweisen.67 Betrachtet man einzig den Straf- und Massnahmenvollzug, ist der Anteil mit 68% im Jahr 2012 zwar leicht geringer, liegt aber immer noch um ein Vielfa-ches über dem europäischen Mittel.68

Der Anstieg der Zahl ausländischer InsassInnen im schweizerischen Straf-vollzug hat gemäss den verfügbaren Daten in den 1960er Jahren begonnen, d.h. zu einer Zeit, als der Anteil der ausländischen Wohnbevölkerung allge-mein stark anzusteigen begann.69 Die erste spezifische Umfrage zum Anteil ausländischer Gefangener in Schweizer Strafanstalten von BAECHTOLDnennt für das Jahr 1974 einen Anteil von 18% ausländischen Staatsangehörigen, mehrheitlich von Nachbarstaaten.70Als zehn Jahre später die Aufzeichnungen der Schweizerischen Strafvollzugsstatistik beginnen, hat sich dieser Anteil beinahe verdoppelt auf 30,6% der total 3227 InsassInnen.71Zu jener Zeit sind die meisten ausländischen Strafgefangenen Angehörige Jugoslawiens oder von Nachbarstaaten der Schweiz. 1995 befinden sich mit einem Anteil von 50,4% erstmals mehr AusländerInnen als SchweizerInnen in Schweizer Straf-anstalten. Nach einer gewissen Stabilisierung dieses Anteils bei etwa 60% am Anfang dieses Jahrtausends ist der Anteil bis 2012 auf 68,1% des mittleren InsassInnenbestandes von 4123 Personen angestiegen. Bezüglich Staatsange-hörigkeit fallen in den 1990er und den frühen 2000er Jahren die grosse Zahl einerseits von (vorwiegend weiblichen) InsassInnen aus südamerikanischen Staaten, andererseits von Personen aus Serbien, Italien, Albanien und der Türkei auf. Aktuell sind serbische InsassInnen nach SchweizerInnen die grösste nationale Gruppe, gefolgt von Personen aus Nigeria. Der Anteil von Inhaftierten aus den Maghreb-Staaten ist zudem zwischen 2011 und 2012 stark angestiegen.

Wie im Bereich der Kriminalität von AusländerInnen ist der Mangel an diffe-renzierten und vollständigen quantitativen Daten auch im Strafvollzug ein

67 Marcelo F. Aebi/Natalia Delgrande, Council of Europe Annual Penal Statistics:

SPACE I – Survey 2011, 2013, S. 82. Diese Zahl umfasst auch Personen in Untersu-chungshaft. Gemäss diesen Angaben waren 2011 71,4% aller Gefangenen in der Schweiz ausländischer Staatsangehörigkeit.

68 Bundesamt für Statistik BFS, Strafvollzug: Mittlerer Insassenbestand nach

Staatszu-gehörigkeit, Stand am 27.08.2013, T19.3.5.2.22.

69 Achermann, Straffällig, unerwünscht (Anm. 12), S. 120; BFS http://www.

bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/01/07/blank/key/01/01.html (zuletzt besucht am 3.6.2014).

70 Baechtold, Ausländer (Anm. 8), S. 7.

71 BFS, Strafvollzug: Mittlerer Insassenbestand nach Staatszugehörigkeit, Stand am

27.08.2013, T19.3.5.2.22. Sämtliche Angaben in diesem Abschnitt stammen aus die-ser Quelle.

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Problem.72Neben der Staatsangehörigkeit werden als demographische Indika-toren lediglich Alter und Geschlecht der Eingewiesenen erhoben. Bezüglich Geschlechterverteilung fällt auf, dass der Frauenanteil unter den ausländi-schen InsassInnen im Jahr 2012 mit 3,4% weniger als halb so hoch liegt wie bei den schweizerischen (7,5%). Allerdings ist diesbezüglich auf die beträcht-lichen Schwankungen im Verlauf der Jahre hinzuweisen. Der höchste Anteil weiblicher Gefangener an allen ausländischen InsassInnen war in den 1990er Jahren mit 5 – 6,3% zu verzeichnen.73Weitere Angaben wie etwa solche zum Bildungsstand oder zum sozio-ökonomischen Status der InsassInnen fehlen in der Strafvollzugsstatistik hingegen.

Für die Fragen der Resozialisierung und der möglichen Wegweisung von besonderem Interesse ist der Aufenthaltsstatus der ausländischen Gefangenen. Diesbezüglich hat sich die Datenlage in den vergangenen Jahren etwas ver-bessert, doch bleiben die Angaben mit einer gewissen Ungenauigkeit behaf-tet.74 Für 2012 zeichnet die entsprechende Statistik (welche sowohl den Er-wachsenen- als auch den Jugendstrafvollzug inkl. vorzeitigem Strafantritt umfasst) folgende Situation75: 32,8% SchweizerInnen, 23,2% AusländerInnen der ständigen Wohnbevölkerung, 13,7% Asylsuchende, 23,1% übrige Aus-länderInnen und 7,3% InsassInnen mit unbekanntem Status. Beim Vergleich dieser Zahlen mit den Anteilen einer Gruppe an der Gesamtbevölkerung ist Vorsicht geboten. Will man etwa den Anteil jener Strafgefangenen, die zur ständigen ausländischen Wohnbevölkerung zählen, in Relation zur gesamten ständigen Wohnbevölkerung setzen, ist nicht ihr Anteil an allen InsassInnen zu verwenden, sondern ihr Anteil an allen InsassInnen, die zu ebendieser Kategorie zählen.76 Nach dieser Berechnung machen ausländische InsassIn-72 Siehe dazu Ben Jann, Herkunft und Kriminalität – Ergebnisse der polizeilichen

Kri-minalstatistik, in: Fink/Kuhn/Schwarzenegger (Anm. 10), S. 101 ff.; Christian

Schwarzenegger/David Studer, Kriminalität nach Nationalität und Aufenthaltsstatus.

Eine Analyse der Strafurteilsstatistik 1984-2011, in: Fink/Kuhn/Schwarzenegger (Anm. 10), S. 117 ff.

73 BFS, Mittlerer Insassenbestand im Straf- und Massnahmenvollzug nach Nationalität

und Geschlecht, Information erhalten am 3.2.2014. Siehe auch Christin

Acher-mann/Ueli Hostettler, Femmes et hommes en milieu pénitentiaire fermé en Suisse:

Aspects genre et migration, Nouvelles Questions Féministes, 1/2007, S. 70 ff.

74 Siehe dazu Achermann, Straffällig, unerwünscht (Anm. 12), S. 122 f.

75 BFS, Insassenbestand am Stichtag nach Haftform und Aufenthaltsstatus, Stand

27.11.2013, T19.03.05.01.13.

76 Basierend auf der Definition des BFS (http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/

index/infothek/definitionen.html, zuletzt besucht am 3.6.2014) kann dieser Anteil nicht eindeutig bestimmt werden, da nicht bekannt ist, wie viele der Asylsuchenden im Strafvollzug sich seit mehr als 12 Monaten in der Schweiz aufhalten und damit zur ständigen Wohnbevölkerung zählen. Die hier verwendete Berechnung hat die Hälfte der inhaftierten Asylsuchenden zur ständigen Wohnbevölkerung gezählt. Ob dies zu einer leichten Über- oder Unterschätzung der Anteile führt, lässt sich nicht beurteilen.

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nen der ständigen Wohnbevölkerung im Jahr 2012 36,9% aller InsassInnen der Wohnbevölkerung aus und sind verglichen mit ihrem Anteil an der ge-samten Wohnbevölkerung von 23,3% im selben Jahr deutlich übervertreten.77 Die Frage nach dem künftigen Aufenthaltsort ist bei InsassInnen der Wohn-bevölkerung, die mehrheitlich eine B- oder C-Bewilligung haben, am umstrit-tensten. Bezüglich Resozialisierung und Wegweisung stellen sich für sie ver-schiedene Schwierigkeiten, auf die im Kapitel III eingegangen wird. Die un-präzise Kategorie „übrige AusländerInnen“ umfasst all jene Personen mit oder ohne Aufenthaltstitel, die weder eine B- oder C-Bewilligung noch einen N- oder F-Ausweis haben. StraftäterInnen dieser Kategorie werden nach ihrer Entlassung in den meisten Fällen weggewiesen werden. Einziger Hinde-rungsgrund könnte sein, dass sie einen Verstoss gegen das Non-Refoulement-Prinzip (Art. 3 EMRK) geltend machen könnten. Ob Asylsuchende nach ihrer Entlassung in der Schweiz bleiben oder weggewiesen werden, hängt haupt-sächlich vom Asylverfahren ab, in welchem die Straffälligkeit berücksichtigt wird.78 Es ist jedoch schwierig vorherzusagen, wie viele InsassInnen dieser Kategorie nach Entlassung in der Schweiz bleiben werden oder diese verlas-sen müsverlas-sen.

Aufgrund der Daten, die in den beiden untersuchten geschlossenen Strafan-stalten erhoben wurden, kann das Bild der ausländischen InsassInnen gegen-über den Daten des BFS noch differenziert werden. Dabei ist es allerdings wichtig im Auge zu behalten, dass eine erhöhte Flucht- oder Rückfallgefahr Voraussetzung für die Einweisung in eine geschlossene Anstalt ist (Art. 76 Abs. 2 StGB). Gemäss den aktuellsten verfügbaren Daten auf gesamtschwei-zerischer Ebene aus dem Jahr 2005 lag der Anteil ausländischer InsassInnen in diesen Einrichtungen bei 70%.79Daten einzelner geschlossener Einrichtun-gen deuten darauf hin, dass dieser Anteil seither in einem vergleichbaren Rahmen geblieben ist.80 Der Ausländerinnenanteil in der Frauenanstalt Hin-77 http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/en/index/themen/01/01/key.html (zuletzt besucht

am 23.1.2014).

Das Missverhältnis ist jedoch weniger ausgeprägt als dies im öffentlichen Diskurs gelegentlich dargestellt wird, wo der Anteil aller ausländischen Strafgefangenen (68%) mit dem Ausländeranteil an der ständigen Wohnbevölkerung verglichen wird.

78 Siehe etwa Schweizerische Flüchtlingshilfe SFH (Hrsg.), Handbuch zum Asyl- und

Wegweisungsverfahren, 2009, S. 199 ff., 239, 248.

79 BFS, Rückläufige Inhaftiertenzahlen und steigende Quote der inhaftierten Ausländer,

info bulletin, 1/2008, S. 4 f.

80 Die Justizvollzugsanstalt Pöschwies weist für 2012 einen durchschnittlichen

Auslän-deranteil von 68,6% aus (http://www.justizvollzug.zh.ch/internet/justiz_inneres/ juv/de/ueber_uns/veroeffentlichungen/jahresberichte.html, zuletzt besucht am 15.7. 2014). Die Justizvollzugsanstalt Lenzburg nennt für 2011 einen Anteil von durch-schnittlich 78,7% Ausländern am Bestand (https://www.ag.ch/media/kanton_

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delbank liegt mit 42% im Jahr 2013 deutlich unter jenem in den Männeran-stalten.81

Zum Zeitpunkt unserer Studie waren etwa die Hälfte der weiblichen Strafge-fangenen und etwa 85% der männlichen GeStrafge-fangenen ausländische Staatsan-gehörige.82Da es in den beiden untersuchten Strafanstalten keine Statistiken zum Aufenthaltsstatus der ausländischen InsassInnen gab, bestimmten wir diesen aus den Akten. Bei 12% der ausländischen Frauen und 28% der Män-ner konnte der Aufenthaltsstatus nicht eindeutig identifiziert werden. Es ist jedoch davon auszugehen, dass es sich dabei grösstenteils um InsassInnen ohne – oder wenigstens ohne dauerhaftes – Aufenthaltsrecht handelt. Im Zeit-raum von 1983 – 2004 haben mehr als 60% aller Ausländerinnen in Hindel-bank kein Aufenthaltsrecht in der Schweiz. Die meisten von ihnen sind wie die eingangs porträtierte Miranda Drogenkurierinnen, oftmals lateinamerika-nischer Herkunft, die keinen Bezug zur Schweiz und auch keine Absicht im Land zu bleiben haben. Nur ein sehr kleiner Anteil von 3% aller ausländi-schen Insassinnen sind in diesem Zeitraum Asylsuchende. Ausländerinnen mit stabilem Aufenthaltsrecht (B- oder C-Ausweis) machen um 20% der aus-ländischen Gefangenen aus, wobei ihr Anteil ab Ende der 1990er Jahre steigt. Das Bild der männlichen ausländischen Gefangenen unterscheidet sich deut-lich von jenem der Frauen: Im gleichen Zeitraum liegt der Anteil von Aus-ländern ohne Aufenthaltsrecht bei etwa 30% aller ausländischen Insassen – allerdings ist dabei der hohe Anteil von Personen mit unbekanntem Status zu berücksichtigen, welcher darauf hinweist, dass diese Zahl vermutlich unter-schätzt ist. Asylsuchende hingegen sind unter den ausländischen Insassen mit etwa 20% eine deutlich grössere Gruppe als unter den Frauen. Schliesslich sind auch die Insassen mit stabilem Aufenthaltsrecht mit 25% bei den Män-nern stärker vertreten als bei den Frauen.

Was lässt sich aus diesen Zahlen bezüglich des Resozialisierungsauftrags folgern? Sie machen deutlich, dass die Mehrheit der InsassInnen in

geschlos-aargau/dvi/dokumente_5/ajv_2/lenzburg_1/Jahrbuch_20102011.pdf, zuletzt besucht am 15.7.2014).

In anderen Vollzugsformen ist der Ausländeranteil deutlich geringer. Insbesondere bei der gemeinnützigen Arbeit und dem Electronic Monitoring ist der Anteil der Schwei-zerInnen mit über 60% doppelt so hoch wie im Normalvollzug (http:// www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/19/03/05/key/vollzug_von_sanktionen/ ueberblick.html, zuletzt besucht am 15.7.2014).

81 Dies liegt u.a. daran, dass in den Anstalten Hindelbank auch Insassinnen im offenen

Vollzugsregime inhaftiert sind, http://www.pom.be.ch/pom/de/index/freiheitsentzug-betreuung/vollzugseinrichtungen_erwachsene/anstalten_hindelbank/portrait.assetref/ content/dam/documents/POM/FB/de/AnstaltenHindelbank/Jahresstatistik_2013-deut sch.pdf (zuletzt besucht am 15.7.2014).

82 Sämtliche Angaben in diesem Abschnitt stammen aus: Achermann, Straffällig,

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senen Strafanstalten in der Schweiz nach ihrer Entlassung mit grosser Wahr-scheinlichkeit nicht in der Schweiz leben wird.83Dies trifft auf alle ausländi-schen InsassInnen ohne Aufenthaltsrecht, auf einen Teil der Asylsuchenden sowie einen Teil der AusländerInnen mit Aufenthaltsrecht zu. Wie gross der Anteil dieser Gruppe ist, lässt sich anhand der Angaben aus den untersuchten Dossiers ausländischer InsassInnen einschätzen. Dieses Bild ist jedoch als Annäherung zu verstehen, da es sich dabei mangels genauer Angaben um eine Triangulation unterschiedlicher Datenquellen handelt. Etwa drei von vier ausländischen InsassInnen werden die Schweiz nach ihrer Entlassung sicher verlassen müssen. 14% der weiblichen und 7% der männlichen werden sicher bleiben können. Für die übrigen (13% der Ausländerinnen und 16% der Aus-länder) ist der künftige Aufenthaltsstatus zum Zeitpunkt der Datenerhebung nicht bestimmbar – entweder, weil der Entscheid noch ausstehend war oder weil die Daten unvollständig waren. Bezieht man diese Daten auf die gesamte InsassInnenschaft (d.h. AusländerInnen und SchweizerInnen), bedeutet dies, dass etwa zwei von drei Insassinnen und einer von drei Insassen in geschlos-senen Anstalten nach ihrer Entlassung sicher in der Schweiz bleiben werden. Für die überwiegende Mehrheit der männlichen und einen Drittel der weibli-chen Gefangenen ist eine Zukunft in der Schweiz jedoch ausgeschlossen oder wenigstens ungewiss. Resozialisierungsbemühungen und insbesondere die Austrittsvorbereitungen müssen sich für diese Personen deshalb auf einen anderen als den gewohnten nationalen Kontext beziehen.

Bezüglich Resozialisierungsmassnahmen sind weiter die Sprachkenntnisse der InsassInnen von Interesse, da die meisten Bildungs- und Kursangebote ebenso wie Sozialdienste oder Therapien ein ausreichendes Verständnis der lokalen Sprache (oder möglicherweise einer der in der Schweiz gängigen Fremdsprachen) verlangen. Die diesbezüglich erhobenen Daten sind lediglich als Indikator zu verstehen, da sie primär die Muttersprache der InsassInnen ausweisen und nichts über deren Fremdsprachenkenntnisse aussagen. Den-noch vermitteln die folgenden Daten einen Eindruck von den Herausforde-rungen, mit denen Strafanstalten mit hohem Ausländeranteil konfrontiert sind. Im Jahr 2003 ist fast die Hälfte aller Insassinnen in den Anstalten Hin-delbank deutscher Muttersprache. Etwa 20% der Insassinnen hat Englisch, Französisch, Italienisch oder Spanisch als Muttersprache. Diese Frauen kön-nen wenigstens mit einem Teil des Anstaltspersonals in ihrer Muttersprache sprechen. Für etwa 30% aller Insassinnen, die eine andere Muttersprache haben, ist es nicht möglich, sich in ihrer Sprache mit den Angestellten zu unterhalten. In der Männeranstalt Thorberg beziehen sich die Daten zu den Sprachkenntnissen lediglich auf die ausländischen Gefangenen: Im Jahr 2004 sind nur 10% von ihnen deutscher Muttersprache und fast niemand spricht 83 Achermann, Straffällig, unerwünscht (Anm. 12), S. 135.

(24)

Englisch, Französisch, Italienisch oder Spanisch als erste Sprache. Die über-wiegende Mehrheit der ausländischen Insassen kann deshalb nicht in ihrer Muttersprache mit dem Anstaltspersonal kommunizieren.84

III.

Die Bedeutung ausländerrechtlicher Kriterien in der Praxis

des Strafvollzugs

Die beiden Porträts am Anfang dieses Artikels zeigen, wie der ausländer-rechtliche Aufenthaltsstatus von Strafgefangenen die Ausgestaltung des Strafvollzugs und die Art, wie zur Resozialisierung der InsassInnen beigetra-gen wird, beeinflusst. Weil Miranda weggewiesen wird, konnte sie die An-stalt bis zum Zeitpunkt des Interviews nie verlassen und fürchtet sich vor dem abrupten Übergang in die Freiheit. Arben hofft einerseits, nach seiner Entlas-sung sein altes Leben in der Schweiz weiterführen zu können. Andererseits wünscht er sich unabhängig davon, dass er während des Strafvollzugs seine sozialen Beziehungen zu Personen ausserhalb und insbesondere zu seiner Frau pflegen kann.

Aus den rechtlichen Grundlagen im Kapitel II.2 wurde deutlich, dass sowohl die Aufenthaltssituation vor der Inhaftierung als auch der wahrscheinliche künftige Aufenthaltsort den Zugang zu Vollzugsöffnungen wesentlich mitbe-stimmen. Sie können dabei als direktes Kriterium wirken oder als indirektes, indem die sichere oder drohende Wegweisung als Indikator für eine erhöhte Fluchtgefahr gilt und/oder indem ein „tragfähiges Beziehungsnetz“ in der Schweiz vorausgesetzt wird, das bei der überwiegenden Mehrheit der In-sassInnen ohne Aufenthaltsrecht fehlt.85

Im Folgenden wird ausgeführt, wie diese Kriterien in der Praxis angewandt werden und wie das Strafvollzugsziel der Resozialisierung durch ausländer-rechtliche Massnahmen beeinflusst wird. In einem ersten Schritt wird darge-stellt, wie die Vollzugsbehörden im Fall von ausländischen InsassInnen das Resozialisierungsziel verstehen und konkret anstreben. Dabei interessiert insbesondere, inwiefern dafür ausländerrechtliche Kriterien bedeutsam sind. In einem zweiten Schritt folgen das Verständnis und die Massnahmen, welche die Strafanstalten hinsichtlich Resozialisierung ergreifen und die Herausfor-derungen, die sich mit den ausländischen InsassInnen ergeben. Das dritte 84 Achermann, Straffällig, unerwünscht (Anm. 12), S. 126.

85 Gemäss unserer Studie finden sich unter den ausländischen InsassInnen ohne

Aufent-haltsrecht höchstens vereinzelt sogenannte Sans-Papiers, d.h. Menschen, die während längerer Zeit in der Schweiz leben und arbeiten, ohne die dafür nötige ausländerrecht-liche Bewilligung zu haben. Dies deckt sich mit den Erkenntnissen aus Studien zu dieser Gruppe von MigrantInnen. Vgl. für die Schweiz Denise Efionayi-Mäder/Silvia

Schönenberger/Ilka Steiner, Leben als Sans-Papiers in der Schweiz: Entwicklungen

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Unterkapitel widmet sich der Zusammenarbeit zwischen Strafvollzugs- und Migrationsbehörden, und im letzten Teil steht schliesslich die Sicht der aus-ländischen Strafgefangenen selbst auf die Frage ihrer Resozialisierung im Zentrum.

1. Einweisung und Vollzugsöffnungen: Kontaktmöglichkeiten mit der Aussenwelt

Wird jemand zu einer unbedingten Freiheitsstrafe verurteilt, müssen die Strafvollzugsbehörden entscheiden, in welchen Anstaltstyp sie die betreffen-de Person einweisen.86 Aufgrund der ihnen zur Verfügung stehenden Akten schätzen die zuständigen Sachbearbeitenden der Vollzugsbehörden die Flucht- und Rückfallgefahr und damit den notwendigen Sicherungsbedarf ein. Ziel ist es, dass die ausgesprochene Strafe tatsächlich vollstreckt wird und dass erneute Straftaten verhindert werden. Die Bedingungen, unter welchen eine Person ihre Strafe verbüsst, sind also zuerst durch Sicherheitsüberlegun-gen bestimmt. Innerhalb eines bestimmten Sicherheitsregimes bestehen an-schliessend unterschiedliche Resozialisierungsmöglichkeiten.

Bei der Einweisung handelt es sich um einen Ermessensentscheid, für den vielfach detaillierte Informationen fehlen, da insbesondere die schriftlichen Erwägungen zum Strafurteil zu diesem Zeitpunkt noch nicht vorhanden sind.87In diesen Fällen dürfte darum eine individuelle und konkrete Einschät-zung der Fluchtgefahr, wie sie das Bundesgericht festhielt, schwierig sein. Das heisst, dass für die Einweisung – ebenso wie für die nachfolgenden Ent-scheidungen, für die das Kriterium der Fluchtgefahr berücksichtigt wird – in der Praxis häufig nicht von einer tatsächlichen Fluchtgefahr gesprochen wer-den kann, die durch frühere Fluchtversuche oder Hinweise auf eine Vorberei-tung einer solchen belegt wäre. Vielmehr wird eine Fluchtgefahr aufgrund verschiedener Indikatoren angenommen.88 Wie oben (Kap. II.2) ausgeführt, werden in diesem Zusammenhang sowohl aufenthaltsrechtliche Fragen als auch familiäre Beziehungen zu in der Schweiz lebenden Personen als flucht-fördernde bzw. fluchthindernde Faktoren berücksichtigt. Konsequenz dieser Einweisungspraxis ist, dass sich in den geschlossenen Strafanstalten jene Personen konzentrieren, die als fluchtgefährdet eingestuft sind. Da Auslän-derInnen aufgrund einer möglichen oder sicheren Wegweisung und zudem evtl. fehlenden engen sozialen Beziehungen zu in der Schweiz lebenden Men-schen regelmässig als fluchtgefährdet gelten, ist auch ihr Anteil an den In-86 Auf Antrag des bzw. der Beschuldigten kann die Einweisung im Rahmen des

vorzei-tigen Strafantritts bereits vor der Verurteilung erfolgen (Art. 236 Abs. 1 Schweizeri-sche Strafprozessordnung StPO vom 5. Oktober 2007, SR 312.0).

87 Achermann, Straffällig, unerwünscht (Anm. 12), S. 209 ff. 88 Achermann, Straffällig, unerwünscht (Anm. 12), S. 209 ff.

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