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Zulässigkeit einer Bernischen Praxisänderung, nach welcher die Privatklägerschaft nicht mehr zum Rekurs gegen einen
Nicht-Wiedereröffnungsbeschluss einer Strafuntersuchung legitimiert ist
SASSÒLI, Marco
SASSÒLI, Marco. Zulässigkeit einer Bernischen Praxisänderung, nach welcher die
Privatklägerschaft nicht mehr zum Rekurs gegen einen Nicht-Wiedereröffnungsbeschluss einer Strafuntersuchung legitimiert ist. Zeitschrift des Bernischen Juristenvereins , 2000, vol. 136, no. 1, p. 83-85
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Aktuell aus dem Bundesgericht 83
Zuliissigkeit einer Bernischen Praxisanderung,
nach welcher die Privatkliigerschaft nicht mehr zum Rekurs gegen einen Nicht-Wiedererôffnungsbeschluss
einer Strafuntersuchung legitimiert ist
Berichterstauer: Dr. MARCO SASSOU, Lausanne/Genf
Die Anklagekammer des Obergerichts des Kantons Bem hat heschlos- sen, es in Abwdchung von ihrer bisherigen Pra.xis der PrivatkHigerschaft zn verwehren, einen Rekurs gegen einen Beschluss der Untersuchungsbehorde und der Staatsanwaltschaft' zu erheben, mit dem die se ein Gesuch um Wiedererôffnung der Strafuntersuchung abweisen. Diese Praxisanderung wurde in dieser Zeitschrift ausführlich kommentiert2. Die 1. Offentlichrecht- liche Abteilung des Bundesgerichts hat eine staatsrechtliche Beschwerde ge- gen diesen Beschluss der Anklagekammer abgcwiesen3 • Da der kantonale Entscheid und der Sachverhalt dem Leser bekannt sind, seien hier
nur
dieEr-
wagungen des Bundesgerichls zusammengefasst.1. Zuniichst wurde klargestellt, dass es sich beim Beschluss des Oher- gerichts um eine Praxisanderung handelte, obwohl er der Erste war, der zu dieser Frage unter dem einschlagigen An. 322 des Berner Srrafverfahrens (StrV) geflUlt wurde, da, am 1. Januar 1997 in Kraft getreten ist. Diese Be- stimmung hatte namlich an der vorherigen Rechtslage nichts geandert, da einerseits ein Rekurs des Privatldagers in diesem FaU auch nach dem Wort- Iaut des alten Gesetzes nicht vorgesehen war, anderseits die früher zur Be- gründung der Anfechtbarkeit analog angeführte Rekursmiiglichkeit des Pri- vatklagers gegen eine Aufhebung des Strafverfahrens im neuen Gesetz weiterhin ausdTÜcklich vorgesehen ist4.
2. Das Bundesgericht rief sodann seine Rechtsprechung zur Zulassig- keit einer Praxisanderung in Erinnerung. Danach verstosst eine soIche
1 Vgl. Art. 256 des Berner Gesetzes ... om 15. Marz 1995 über das Strafverfah- ren, BSG 321.1 (StrV).
2 Vgl. FELiX BOMMER, Die Legitimation der Privatk1agerschaft zum Rekurs ge- gen einen Nichl-Wiedereroffnungsbeschluss, ZBJV 135 (1999) 676-702.
3 Urteil ... om 16. November 1999 i.S. G.c.P. (Nr. IP.505/1999), gefàlltin Dreier- besetzung, keine amtliche Publilcation.
4 Vgl. früher Art. 187 des Gesettes vom 20. Mai 1928 über das Strafverfahren des Kanlons Bern (aStrV) und jetzt An. 322 Abs. 1 lit. c ln Verbindung mil Art. 323 Abs. 2 Strv. V g1. zu dieser Analogie erstmals Entscheid der Anklagekammer vom 25. Februar!Z6. Man 1943 in ZBJV 8t (1945) 87, gestützl aufMAx WAIBLINGER, Das Strafverfahren fUr den Kanton Bem, 1937, N. 2 zu Art. 203, zuletzt bestlitigt von
THOMAS MAURER, Das neue Bemische Strafverfahren, Besonderer Teil, 1996, 57 f.
Anders jetzt dus., Das bemische Strafverfahren, Bem 1999,379.
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nicht gegen Art. 4 aBV, solange sie aus objektiven GTÜnden erfolgt. Eine neue Praxis darf sogar dann ohne Ankündigung unmittelbar auf den zu ent- scheidenden FaB angewandt werden, wenn sie im Ergebnis zurn Ausschluss eines bisher zuHissigen Rechtsmittels führt. Dies verstosst nicht gegen Treu und Glauben, wenn die Rekursm6glichkeit, wie im Berner FaU, nach der neu- en Rechtsprechung gar nicht mehr existierfi.
3. Das Bundesgericht befand, dass die Anklagekammer, wie auch der Beschwerdeführer anerkannte, beachtliche systematische Gründe zugunsten ihrer neuen Praxis angeführt hatlé, die jedenfalls in der beschrankten Will- kürkognition des Bundesgerichts nient zu beanstanden waren, obwohl sie auch schon unter dem alten Strafverfahrensgesetz galten. Verschiedene Ein- wande des Beschwerdeführers wurden verworfen. Heute bestehe zwar die allgemeine Tendenz, die Stellung der Geschadigten im Strafverfahren zu stiirken. Diese Tendenz hat insbesondere im Opferhilfegesetz (OHG) ihren Niederschlag gefunden, unter dessen Opferbegriff der Beschwerdeführer je- doch nicht fiel. Jedenfalls gehe «diese Tendenz nicht so wei!, dass der Ange- schuldigte nicht mehr Hauptperson des Strafverfahrens ware». So ist der Ge- schadigte - wenn er nicht Opfer im Sinne des OHG ist - Richt legitimiert, gegen die Nichterôffnung eines Strafverfahrens staatsrechtIiche Beschwerde zu erheben, weil der Strafanspruch, um den es irn Strafverfahren geht, aus- schliesslich dem Staat zusteht7. Daher ware es systematisch unbefriedigend, dem Geschadigten ein Rechtsmittel zu gewahren, das der Angeschuldigte nicht hats. Dem Verurteilten steht kein kantonales Rechtsmittel gegen die Ab- lehnung einer von ihm begehrten Revision zur Verfügung. Somit müsse der Privatklager auch keine Môglichkeit haben, sich gegen die Ablehnung einer Wiederaufnahme zu wehren. lm Weiteren liege es im Interesse des Rechts- friedens und des Angeschuldigten, in des sen Rechte ein Strafverfahren weit mehr eingreife aIs in diejenigen des Geschadigten, dass die Unsicherheit, die mit jedem Gesuch um Wiederaufnahme eines Strafverfahrens verbunden sei, nicht mit Rechtsmitteln in die Lange gezogen werden kônne. Das Bundesge- richt verwarf ebenfalls den Hinweis des Beschwerdeführers auf die Tatsache, dass die Anklagekammer Aufsichtsbehorde über Untersuchungsrichter und Staatsanwaltschaft sei 9. Daraus kônne nicht geschlossen werden, dass aIle Amtshandlungen der Letzteren mit Rechtsmitteln an die Erstere weiter-
5 V gl. BOE 122 1 57 E. 3e S. 58 ft. mit Hinweisen.
6 Vgl: E. 5 ihres Entscheids, wiedergegeben in ZBJV 135 (1999) 678 f. uod die ausführliche Rechtfertigung bei BOMMER (Fo. 2) 691-694.
7 Vgl. BOE 120 la 101 E. la S. 102 mil Hinweisen; vgl. hingegen BOE 121 IV 317 E. 3b S. 324 fur Opfer im Sirme des OHO.
8 Sa auch ausführlich BOMMER (Fn. 2) 694 f.
9 Vgl. Art. 26 und 27 StrV.
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gezogen werden konnen. An eine Aufsichtsbehorde kann einzig eine Auf- sichtsbeschwerde gerichret werden, die aber gerade weder Parteirechte noch einenAnspruch auf Eintrelen verleihtlO•
4. Der Beschwerdeführer berief sich auch auf die Rechtsmittelbeleh- Tung der Untersuchungsbehôrde und der Staatsanwaltschaft, die auf die Môglichkeit eines Rekurses an die Anklagekammer hinw ies. Eine Rechts- mittelbelehrung, die sich angesichts einer Praxisanderung ais unzutreffend erweisl, kann jedoch nkht ein unzuHissiges oder nicht vorhandenes Rechts- mittei schaffen 1]. Sie konnte für den Beschwerdeführer auch keinen Nachteil
ZUf Folge haben, den er im Rahmen des Vertrauensschutzprinzips gel rend machen konnte, weil gar kein anderes zuHissiges Rechtsmiuel vorhanden war. an dessen Ergreifen er durch die Rechtsmittelbelehrung hatte gehindert werden konnen.
5. FEUX BOMMER kritjsiert in seinen Anmerkungen, dass die Anklage- kammer dem unterlegenen Privatknger die PaTteikosten der Gegenpartei überband, obwohl angesichts der 50~jiihrigen Pra.xis der Anklagekammer ein Eintreten auf den Rekurs erwartel werden durfte12 . Tatsachlich verstosst es gemass bundesgerichtlicher Praxis gegen Treu und Glauben, einem Be- schwerdeführer, der im Vertrauen auf die alte Praxis Beschwerde führte, die Verfahrenskosten aufzuerJegen und, sofem er anwalllich vertreten ist, die Ausrichtung einer Parteientschadigung zu verweigern13• lm bundesgericht- lichen Verfahren hatte der Beschwerdeführer jedoch keine entsprechende Rü- ge vorgebracht, womit diese Feage im s[aatsrechtlichen Beschwerdeverfamen nicht zu behandeln warl4 . In einem «ohirer dictum» erwahnt das Bundesge~
richt trotzdem, die Auferlegung einer Parteientschadigung an den Beschwer- degegner habe die Anklagekammer nicht mÎl ihrer neuen Praxis begtÜndet, sondem damit, dass der Rekurs materieH unbegrundet gewesen ware.
Zusammenfassend erscheint die Praxisaoderung der Anklagekammer auch dem Berichterstatler sinnvoll. Systematîsche und rechtspolîtische Grunde sprechen dafür. Der Angeschuldigte bleibt die Hauptperson des Strafverfahrens. DafÜber soUten auch nicht immer ganz wohlüberlegte Aus~
wirkungen des OHG nicht hinwegtauschen.
10 VgI.BGEI21142E.2aS.45.
Il VgJ.BGEI12Ib538E.lS.541; IOOIbI19f.
12 Vgl.BOMMER (Fn. 2) 698-702.
13 VgI.BGEl19Ib412E.3S.415.
14 VgJ.Art. 9OAbs. lOG und BGE 125171 E. le S. 76; 122 [70 E. leS. 73; IJ9 la 197 E. IdS. 201,jemitHinweisen.
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