JÜRGEN COURT, ECKHARD MEINBERG (Hrsg.):
Klassiker und Wegbereiter
der Sportwissenschaft
Stuttgart: Kohlhammer 2006. 472 S.; € 35,—
Nun
scheint auch
dieSportwissenschaft
ihre Klassiker zu haben.
In denletzten
Jahren sind
inverschiedenen
Diszi-pli
nen„Klassiker
der ...erschienen,
so in derSoziologie,
derEthnologie,
derPhilosophie,
derReligionswissenschaft,
derTheologie
etc.Selbst
in derPsycho-logie,
dienicht gerade dafür bekannt ist,
dass ihr ihre Herkunft viel bedeutet,
gibt
esinzwischen Editionen,
diesich
mit Klassikern
derDisziplin befassen.
Daneben gibt
es die wohlfeilenKlassi-kerausgaben jener Disziplinen, deren
Gegenstand dieAuszeichnung
des Klas
-sischen verdient: Klassiker
derdeut-schen, französideut-schen, italienischen oder
amerikanischen Literatur,
derMusik,
derMalerei,
des Films etc.Was
aber ist überhaupt ein Klassiker?
Und
hat dieSportwissenschaft
tatsäch-lichihre
eigenenKlassiker?
Umbei
derzweiten Frage anzusetzen: Viele
der indiesen
Bandaufgenommenen Klassiker
ließen sich auch anderswo
unterbrin-gen und erscheinen tatsächlich auch
in denKlassikerausgaben anderer
Diszi-plinen, z. B. CASSIRER, ELIAS,FOUCAULT,
GEHLEN, HABERMAS,
NIETZSCHE,
PLESSNER,POPPER, SPRANGER
oder
WITTGENSTEIN.Mag sein, dass das interdisziplinäre
Ver-ständnis
vonSportwissenschaft, das
dieHerausgeber favorisieren
(s.Vorwort,
S. 9),
das breite Spektrum
vonAutoren,
diesich selber wohl kaum
derSportwis-senschaft zugeordnet hätten,
rechtfer-tigt. Faktisch scheint
dieAuswahl aber
eher
derAufmerksamkeit geschuldet zu
sein,
dieein Autor
in derSportwissen-schaft erfahren
hatoder noch immer
er-fährt. Wie sonst hätte
z. B. WITTGENSTEIN in den Statuseines „Klassikers" oder
„Wegbereiters"
derSportwissenschaft
avancieren können?
Odereiner
deran-deren zuvor genannten, vor allem
philo-sophischen Autoren? Dass eher
dieRe-zeption
in derSportwissenschaft als ein
systematisches Kriterium darüber
be-funden
hat,ob ein Autor
in den Bandaufgenommen wurde oder nicht, zeigt
auch
dieDominanz deutschsprachiger
Autoren.
Diewenigen
nicht-deutsch-sprachigen Autoren,
dieeinen eigenen
Eintrag erhalten haben
- BOURDIEU, BUYTENDIJK,FOUCAULT, HUIZINGA,
MER-LEAU-PONTYund ORTEGA
YGASSET (das
sind schon alle)
-sind ausnahmslos
über Werke repräsentiert,
die ins Deut-scheübersetzt wurden.
In der Tatsind
mit
den„Klassikern" denn auch nicht
Personen, sondern
Werkegemeint.
Je-der
derrepräsentierten Autoren
- wasdas Geschlecht anbelangt,
sokommt
ei-ne einzige Autorin vor, nämlich
Marga-rete STREICHER
-ist mit einer Schrift
treten (ausnahmsweise sind es auch
zwei Schriften oder eine
Textsamm-lung, und in einem Fall handelt es sich
statt um eine Autoren- um eine Körper
-schaftsschrift).
Davon abgewichen sind
die Herausgeber bei
DIEM,der mit zwei
Werken zwei Einträge erhalten hat.
Im Zentrum der insgesamt 50
Beiträ-ge stehen die Schriften, die nach einem
einheitlichen Schema dargestellt
wer-den: Inhaltsangabe,
Wirkungsgeschich-te, Würdigung und Literaturverzeichnis,
das in einigen Fällen um
Quellenanga-ben ergänzt ist. Eingeleitet werden die
Beiträge jeweils - trotz des Fokus auf
die Texte - mit einer Biografie des
be-treffenden Autors. Obwohl dies
nach-vollziehbar und für das Verständnis der
zum Teil wenig bekannten Texte sogar
notwendig ist, wird der Begriff des
Klas-sikers dadurch schillernd. Zwar stehen
die
Werkeim Vordergrund, das Licht
des Klassischen fällt aber
unausbleib-lich auch auf die
Autoren.Die latente
Doppeldeutigkeit wird durch den Titel
des Bandes begünstigt, in dem nicht
von „klassischen und wegbereitenden
Texten der Sportwissenschaft" die Rede
ist, sondern von „Klassikern und
Weg-bereitern". Der Titel lenkt auf Personen,
denn von einem Text zu sagen, er
sei ein „Wegbereiter", wäre eine
unge-wohnte Wortwahl.
Was aber - um die erste Frage
aufzu-greifen - verstehen die Herausgeber
un-ter einem Klassiker bzw. - wie nun zu
präzisieren ist - welches sind die
Krite-rien, die sie ihrer Auswahl klassischer
sportwissenschaftlicher Texte
zugrun-de gelegt haben? Ein geläufiges
Krite-rium des Klassischen liegt in der
Vor-züglichkeit und Mustergültigkeit einer
Leistung. Indem sie vom „Stempel des
Exemplarischen" (S. 10) sprechen, den
ihre Auswahl präge, scheinen die
Her-ausgeber diesem Kriterium gefolgt zu
sein. Auch die Aussage, wonach der
„Blick auf die Tradition" für eine
„gelin-gende Orientierung in der Gegenwart
und Zukunft" dienlich sei (S. 9), lässt
vermuten, dass
COURTund
MEINBERGdieser gleichsam klassischen Definition
des Klassischen nachkommen wollten.
Ein Klassiker wäre demnach ein Werk,
das ein Problem auf innovative,
bei-spielhaft gültige und noch nicht
ausge-schöpfte Weise behandelt und deshalb
noch immer der Lektüre wert ist. Dass
dieses Kriterium
alleindie Auswahl
allerdings nicht erklären kann, zeigen
die Bemühungen der Herausgeber, ihr
Verständnis des Exemplarischen durch
weitere Kriterien zu erläutern (vgl. S.
10 ff.). Dabei kommen recht heterogene
Kriterien zusammen, die im Einzelfall
verständlicherweise nicht alle erfüllt
sein mussten, damit ein Werk in den
Band aufgenommen wurde. Eines
die-ser Einzelkriterien ist die "Kontinuität
der Wirkung" eines Werkes (S. 10). Auch
darin kann man ein klassisches
Krite-rium des Klassischen erkennen, ist ein
Klassiker doch gemeinhin ein Autor,
der gewissermaßen unsterblich ist, weil
er ein Thema auf zeitlose Weise
behan-delt hat. Wenn man allerdings in den
Beiträgen die Abschnitte zur
Wirkungs-geschichte der Werke liest, muss man
ernüchtert feststellen, dass viele der
re-ferierten Werke in der
Sportwissen-schaft keine anhaltende Wirkung
ha-ben, ja etliche heute gänzlich
unbe-kannt sind.
Andere der von den Herausgebern
genannten Kriterien für die Auswahl
ihrer Texte sind kaum geeignet, den
Be-griff des Klassischen zu
operationalisie-ren. So wird als zweites Kriterium
ge-nannt,
dass ein Werk den Geist einer
Epoche oder eines Denkansatzes
ver-körpere. Dabei handelt es sich um ein
rein
historischesKriterium, das auf den
zuvor genannten Aktualitätsbezug
völ-lig verzichtet. Rein historisch ist auch
das vierte Kriterium: Aufgenommen
wurden auch Werke,
„dieheute
vergrif-fen oder nur schwer zugänglichsind"
(S. 11).Ein Klassiker,
dervergriffen ist,
ist jedoch eine
Contradictio in Adjecto.Denn wie soll er uns noch etwas sagen,
wenn er nicht mehr aufgelegt wird?
Wieder etwas näher bei
dengängigen
Anforderungen
aneinen Klassiker
lie-gen das dritte und das vierte Kriterium
(Bearbeitung eines
in wissenschafts-geschichtlicherHinsicht bedeutsamen
Problemsund Ausgestaltung einer
ei-genständigen theoretischen
Position),obwohl mir auch hier
diePräzisierung
fehlt, dass
Problemund Theorie auf
ei-ne
Weisebearbeitet werden,
dieauch
heute noch mustergültig ist.
Die
Kriterien
derTextauswahl, zu
de-nen noch
derbereits erwähnte Bezug
auf deutschsprachige Literatur kommt,
zeigen, dass
derBegriff
desKlassikers
inlockerer Bedeutung verwendet wird.
Tatsächlich ist das Interesse
derHeraus-geber
inerster Linie historischer Art. Es
geht
umeine Darstellung
derEntste-hungsgeschichte
derSportwissenschaft
in Deutschland in Form voneinflussrei-chen Werken. Dieses Anliegen
istzwei-fellos legitim und wird mit
dergetroffe-nen Textauswahl auch vorzüglich
einge-löst,obwohl nicht allen Beiträgen
die-selbeQualität attestiert werden kann.
Diehistorische Ausrichtung kommt
auch darin zum Ausdruck, dass
der Bandeiner dezidierten
Epochengliede-rung folgt,
diesich
- diesein weiterer
Hinweis auf
die„Deutschlastigkeit"
derAuswahl
- an derGeschichte
Deutsch-landsorientiert.
DiePriorität
desHisto-rischen gegenüber dem Klassischen
fin-det auch darin ihren Niederschlag, dass
die Würdigung derTexte
oftnicht zu
überzeugen vermag. Nicht nur fällt sie
invielen Fällen knapp bis äußerst
knapp aus, sie kommt meist auch
unkri-tisch daher. Hätte
mantatsächlich
Klas-siker darstellen wollen, wäre das Klassi -sche, d. h.
dasjenige,
wasnoch heute
Gültigkeit
hat,klarer herauszuarbeiten
gewesen.
Zusätzliche Vorbehalte gegenüber
dem Begriff
desKlassischen ergeben
sich, wenn
manfeststellt, dass auch
Wer-ke literarischer oder journalistischer
Art,denen das Attribut
derWissen
-schaftlichkeit also
offensichtlich abgeht,
ausgewählt wurden und als Klassiker
der Sportwissenschaftausgegeben
wer-den
(soim Falle
von BERTZ, FENDRICH,RISSE und
STEINITZER).Vergleichbares
giltfür Autoren,
dievorwiegend als
Funktionäre
der Turn-, Sport-oder
Olympischen Bewegung tätig waren
(wie
insbes. DIEMund
NEUENDORFF).Noch skeptischer wird
man dieFrage
beurteilen, ob bei
dennicht wenigen
Autoren,
die in denNationalsozialismus
verstrickt waren (wie
insbes. BAEUMLER, BODE,KLEMM,
KRÜMMEL, NEUENDORFF), von,,Klassikern"
(in Bezugauf irgend
-etwas)
überhaupt
dieRede sein darf.
Zweifellos
giltgerade hier, dass Texte
etwas anderes sind als ihre Autoren, da
aber
der Bandzwischen
Textund Autor
nicht eindeutig entscheidet und
denAu-toren viel Raum gewährt wird, kann
die-se politische Wertung nicht
ausgeklam-mert werden.
DieFrage, ob
dieSport-wissenschaft als Wissenschaft
über-haupt (eigene) Klassiker
hat,wird
von denHerausgebern denn auch nicht
be-antwortet,auch wenn sie andeuten,
dass sie
GRUPE,LENK,
HOLLMANNund
MEINEL
diesen
Statuszuweisen möchten
(s. S. 10).Nun
könnte
maneinräumen, dass für
dienicht
-klassischen Texte
derAus-druck
der„Wegbereitung" vorgesehen
ist. Leider fehlt aber eine
Differenzie-rung
derbeiden Schlüsselbegriffe.
Ent-weder meinen
dieHerausgeber, ihre
Kriterien
derTextauswahl würden für
gleicher-maßen zutreffen, oder sie verwenden
denletzteren Begriff aus
purer Verle-genheit, umnämlich
dieAufnahme
derdurchaus stattlichen Zahl
vonTexten,
denen
mandas Etikett
des„Klassischen"
schwerlich zuweisen kann, zu
rechtferti-gen.
DieVerlegenheit,
die derBuchtitel
auslöst, wird bei jenen drei Werken,
die vonihren Autoren selber vorgestellt
werden,
fastphysisch greifbar.
GRUPE,LENK und
HOLLMANNsahen sich nämlich
in dieLage versetzt, sich als
»Klassiker"
behandeln zu müssen.
Dieersten
bei-den führen ein weiteres klassisches
Merkmal
desKlassischen
ins Feld,dass
sich nämlich erst im Nachhinein, ja
zu-meist erst posthum zeige, wer oder
wasein Klassiker ist. Dass gemessen
andie-sem Kriterium keiner
derdrei dem
An-sinnen nachkommen mochte, sich als
Klassiker darzustellen, ist verständlich.
Jeder
hatsich
derAufgabe auf
seine Artentledigt: mit einem betont
autobiogra-fischen Zugang
(GRUPE),mit viel Selbst
-ironie
(LENK) und mit
demonstrati-ver Knappheit und Sachlichkeit
(HOLL-MANN).Das heißt
inkeiner
Weise,dass
sich
dieLektüre dieser Beiträge nicht
lohnt, ganz im Gegenteil. Im Übrigen
hätten
vierweitere Autoren
aufgefor-dert werden können, ihre Werke selber
darzustellen:
APEL, HABERMAS, KLAFKIund
KuCHLER.Dass
dieHerausgeber
indiesen Fällen auf eine Selbstdarstellung
verzichtet haben, zeigt, dass sie
wenigs-tens implizit zwischen
genuinenKlassi-kern
derSportwissenschaft und
sport-wissenschaftlichenKlassikern aus
be-nachbartenDisziplinen unterscheiden.
Die
vagen Auswahlkriterien und
diefehlende Unterscheidung zwischen
Klassikern und Wegbereitern bringen
esmit sich, dass
diefaktisch getroffene
Auswahl
vonAutoren
bzw.Werken
leicht
kritisierbarist. Dass einige
Auto-ren
bzw.Werke fehlen, vermerken
dieHerausgeber selber
(s. S. 14). Abernicht
alle Autoren,
die manauf
denersten
Blick vermisst, fehlen wirklich. Nicht
wenige erscheinen nämlich im
Namen-register, sind
alsonicht vergessen
ge-gangen, sondern haben lediglich
kei-nen eigekei-nen Eintrag erhalten. Wenn ein
Namenregister gute Dienste leistet,
dann zweifellos
indiesem Buch, das
sich bestens auch als Nachschlagewerk
eignet. Statt Fehlendes zu kritisieren,
kann
mansich allerdings auch fragen,
ob nicht eventuell zu viel
in den Bandaufgenommen wurde. Gehört zum
Bei-spiel die„Dialektik
derAufklärung"
von HORKHEIMERund ADORNO tatsächlich zu
denWegbereitern
derSportwissen-schaft
(umeinen
sportwissenschaft-lichenKlassiker dürfte
essich wohl
mit Sicherheit nicht handeln)? Gehört
die„Phänomenologie
derWahrneh-mun
g` von MERLEAU-PONTYdazu?
Oder KRETSCHMERS„Körperbau und
Charak-ter"?Auch
inanderen Fällen
- CASSIRER, HECKHAUSEN,HUIZINGA,
KLAFKI, POPPER, SPRANGER, WITTGENSTEINkönnte
mannennen
-scheint
dieAufnahme
in den Bandaus dem bereits genannten,
reinpragmatischen Grund erfolgt zu sein,
dass
derbetreffende Autor
bzw.das
vor-gestellte Werk
in derdeutschen
Sport-wissenschaft rezipiert worden ist.
Nun