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Die Industrietaxe von 1856 als Quelle für wirtschaftsgeschichtliche Forschungen : eine Studie zum Val d'Anniviers 1856 bis 1920

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Die inDustrietaxe von 1856 als Quelle für wirtschaftsgeschichtliche forschungen.

eine stuDie zum val D’anniviers 1865 bis 1920

von Martin Fenner

Die walliser gewerbesteuer/industrietaxe des späten 19. Jahrhunderts ist bisher noch nicht allzu oft als Quelle für regionalhistorische forschungen benutzt wor-den. Der verfasser ist auf dieser grundlage am beispiel des val d’anniviers der frage nachgegangen, inwieweit sich die wirtschaftliche struktur dieses bergtals mit dem aufkommen des hoteltourismus ab 1860 verändert hat und wie das ins-trument der industrietaxe als geschichtliche Quelle zu beurteilen ist. ein teil der hier abgebildeten resultate wird künftig in einem buch des verfassers zur ge-schichte des val d’anniviers publiziert.

1  Die Industrietaxe von 1856 1

Datiert auf den 31. mai 1856 verabschiedete der grosse rat ein neues finanzge-setz, welches unter anderem die einführung einer industrietaxe vorsah. unter die neue Steuer fielen alle Kantonsangehörigen, die im Haupt- oder Nebenerwerb ei-nen freien beruf ausübten: gewerbetreibende, händler, gastwirte, notare, Ärz-te usw. angesÄrz-tellÄrz-te (zum beispiel das hoÄrz-telpersonal) waren von dieser taxe nicht betroffen.

ein gleichzeitig erlassenes Dekret zählte die zu besteuernden berufe und die Steuersätze auf. Der Tarif, der jährlich zu entrichten war, betrug für die herkömm-lichen dörfherkömm-lichen Gewerbebetriebe zwischen 2 und 50 Franken, nur für Hotels war er höher (bis 350 Franken, in einem Fall nach 1900 sogar 700 Franken). Teil- und saisonbetriebe wurden entsprechend entlastet, tätigkeiten mit nur minimaler ak-tivität von der steuer oft ganz befreit. im staatsarchiv sitten sind die verzeich-nisse in doppelter ausführung erhalten: einmal als urschrift der gemeindebüros, zum andern – nach gemeinden und bezirken geordnet – in einer nach der fest-1 staatsarchiv wallis (im folgenden zit. als aev), fonds 2fest-10fest-1: registre de l’impôt sur l’industrie.

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legung der endgültigen steuerentscheide verfassten abschrift aus der kantonalen verwaltung. letztere Dokumente sind vor allem im bereich der touristischen be-triebe detaillierter als die gemeindelisten. hier sind auch die eingeforderten steu-erbeträge vermerkt. Darüber hinaus sind nur wenige unterschiede fassbar. ein Dekret vom 15. Januar 1921 ersetzte die alte industrietaxe durch ein neues be-steuerungssystem, das die industriellen tätigkeiten von den übrigen nicht mehr unterschied.

2 Das historische Umfeld und die Zielfragen

Die industriesteuer ist eine interessante Quelle zur geschichte des wirtschaftli-chen und sozialen Wandels in der Zeit der «Frühindustrialisierung» eines Kan-tons, der bis um 1860 noch fast vollständig in agrarstrukturen verharrte.2 Das

wort industrie wurde 1856 noch in seiner alten, umfassenden bedeutung verstan-den; es umschloss alle tätigkeiten des zweiten und dritten sektors, die verarbei-tenden betriebe und die Dienstleistungen (soweit sie privat waren). eine unter-suchung zu den industriesteuern zwischen 1856 und 1920 kann also aufschluss darüber geben, wieweit sich das wallis in dieser zeit vom reinen agrarkanton hin zu moderneren formen des wirtschaftens entwickelte. Dabei kann unter anderem eine abweichende entwicklungsgeschwindigkeit der regionen und insbesondere zwischen dem rhonetal und den berggebieten vermutet werden.

auf eine nähere skizzierung der geschichte des val d’anniviers kann, mit be-schränkung auf wenige hinweise, verzichtet werden. Das tal stand im ruf einer besonders konservativen und wirtschaftlich auf eigenproduktion ausgerichteten berggemeinschaft und hatte bis 1860, abgesehen vom ersten sektor, kaum etwas anderes als die für das Funktionieren des dörflichen Lebens wichtigen und üb-lichen gewerbebetriebe gekannt. gerade um diese zeit manifestierten sich aber zwei Innovationen: Erstens öffneten die ersten Hotels im Tal (Durand in Zinal und Bella Tola in St-Luc) ihre Tore, wenn auch nur mit wenigen Unterkunftsmög-lichkeiten. zweitens: eine voraussetzung für das touristische zeitalter waren mo-dernere verkehrsbedingungen, konkret die für fuhrwerke befahrbare strasse von siders bis nach vissoie, das Dorf im zentrum des tales (1863), und die vom gen-fersee herführende eisenbahn (1868 in siders).

2 vgl. dazu Beat Kaufmann, Die entwicklung des wallis vom agrar- zum industriekanton, Diss., Basel 1965, S. 5–17, 18–32.

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Tab. 1: Die Entwicklung der Wohnbevölkerung 3 1860 1880 1900 1910 1920 ayer 769 818 789 536 516 chandolin 123 169 200 204 203 grimentz 227 224 353 237 236 st-Jean 307 364 395 418 425 st-luc 462 436 501 549 383 vissoie - - - 309 238 anniviers total 1888 2011 2238 2253 2001 siders 1095 1448 1833 3076 3763 bezirk siders 8302 9656 11567 14441 15740 Kanton Wallis 90792 100190 114438 128381 128246

Bemerkungen zur Bevölkerungsentwicklung: Während des gesamten 19. Jahrhun-derts nahm die Talbevölkerung zu. Das Tal wies noch in der Jahrhundertmitte eine deutlich höhere Einwohnerzahl als Siders auf, was sich danach aber rasch än-derte. Der deutliche rückgang von 1910 zu 1920 markiert den beginn einer ent-wicklung, die bis 1973 andauerte. Im 19. Jahrhundert existierten 5 Talgemeinden. 1904 entstand zusätzlich die gemeinde vissoie. sie setzte sich aus teilen der bis-herigen gemeinden ayer und grimentz zusammen.4

bei der untersuchung sind folgende fragestellungen massgeblich:

● gab es im val d’anniviers im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert so etwas wie eine Protoindustrialisierung, das heisst ein anwachsen der verarbeitenden und verteilenden betriebe?

● was sagen die Quellen über die entwicklung und das gewicht der hotellerie aus? übten sie eine schrittmacherfunktion auf andere tätigkeiten im zweiten und dritten sektor aus?

● gab es abgesehen vom tourismus überhaupt moderne Dienstleistungen? ● Lassen sich Entwicklungsunterschiede zwischen den Dörfern ausmachen? ● vereinigten sich verschiedene betriebe in ein und derselben hand? waren die

tätigkeiten im zweiten und dritten sektor fest in männerhand oder tauchten in den listen auch frauen auf?

3 Eidgenössische Volkszählungen.

4 zur komplizierten gemeindeentwicklung vgl. Bernard Crettaz, nomades et sédentaires. com-munautés et communes en procès dans le Val d’Anniviers, Genève 1979.

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Abb. 1: Karte des Val d’Anniviers mit seinen Gaststätten 5 5 AEV (Anm. 1). Zinal Vissoie Siders Chippis Niouc Chandolin St-Luc Ayer Grimentz St-Jean Durand, 1856 Trift, 1891 Diablons, 1894 Besso, 1895 National, 1906 Becs de Bosson, 1894 Rothorn, 1899

Anniviers, 1876 des Alpes, 1885

Bella Tola, 1859 Bau – 1860 Eröffnung Weisshorn, 1882 Bau – 1884 Eröffnung Cervin, 1893

Des Alpes, 1889

Grand Hôtel, 1898 Rhône

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● welchen erkenntniszuwachs besitzen die am vorliegenden beispiel erarbeite-ten Quellen und ihre aussagekraft für sozial- und wirtschaftsgeschichtliche forschungen?

Das intervall von 1865 bis 1920 wurde unter zweierlei gesichtspunkten betrach-tet: während die entwicklung von gewerbe und Dienstleistungen in zehnjahres-schritten untersucht wurde, mit dem ziel, deren ausformung während eines hal-ben Jahrhunderts darstellen zu können, erfolgte die Analyse der Hotellerie und der mit ihr verbundenen freien erwerbszweige (fuhrleute, bergführer) in Jahres-schritten.

3 Die Ergebnisse der Untersuchung I: die Entwicklung der Hotellerie

Seit 1865 figurieren Daten, ab denen zum ersten Mal Steuern für die Industrieta-xe bezahlt wurden. für die hotels Durand und bella tola, die bereits zuvor gebaut worden waren, werden weitere unterlagen hinzugezogen. Dasselbe gilt in einzel-nen fällen auch für andere gaststätten. Jene, die nur kurze zeit bestanden, wur-den in der Darstellung nicht berücksichtigt (siehe abb. 1, s. 196).

3.1 Interpretation

Den anfang machten zinal und st-luc: 1856 wurde das hotel Durand in zinal eröffnet – mit einem einzigen Gästezimmer und vier Betten, 1859 das Hotel Bel-la toBel-la in st-luc, das unmittelbar nach dem zweiten Dorfbrand von 1858 in der Dorfmitte seinen betrieb aufnahm – auch mit nur wenigen schlafgelegenheiten. Der überblick in tab. 2 zeigt, dass anschliessend nicht kontinuierlich weitere ho-telbauten folgten. erst in den 1890er Jahren setzte eine gedrängte bautätigkeit ein, die bis 1906 andauerte. unübersehbar war nun die überragende stellung zinals als touristenort und von st-luc als zweitem touristischen schwerpunkt. Den gegen-pol bildete die gemeinde st-Jean, wo bis heute nie ein hotel errichtet wurde. ein blick auf die steuern, welche die hotels zu bezahlen hatten, belegt, dass sich der Hotelboom finanziell erst im Laufe der 1890er Jahre manifestierte und 20 Jahre später, mit dem Kriegsbeginn 1914, in die Krise geriet. Die Hotels waren im Som-mer drei bis vier Monate geöffnet.

Die Entwicklung im Val d’Anniviers: Ein zögerlicher Beginn, ein grosser Bau-boom in den 1890er Jahren bis über die Jahrhundertwende hinaus (was auch in der Besteuerung der Hotels Niederschlag findet) und die Krise mit dem Ausbruch des Krieges 1914 lassen sich in vielen Tourismusgebieten der Schweiz feststellen. Das tal ist insofern eher normal- als spezialfall.

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Tab. 2: Besteuerung der Hotels (ohne Restaurants) in Franken, nach Gemeinden 6 Ayer (Zinal) Chandolin Grimentz St.Luc Vissoie Total

1870 25 - - 20 - 45 1880 50 - - 50 50 150 1890 300 - - 100 80 480 1900 600 300 50 600 100 1650 1910 700 350 100 600 130 1880 1920 120 100 50 285 160 715

4 Die Ergebnisse der Untersuchung II:

Die Gesellschaft der Anniviarden verändert sich – aber nur ein bisschen

eine entwicklung, die von aussen kommt – hotellerie und tourismus –, vermag eine bis anhin eher isolierte region zu verändern. Dies soll im folgenden mit hil-fe von statistischen angaben nachgezeichnet werden.

Die berufsstruktur des val d’anniviers zwischen 1865 und 1920 wurde in der unten stehenden tabelle in zahlen festgehalten. eine interpretation der ergebnis-se folgt im anschluss.

Tab. 3: Die Entwicklung von Gewerbe und Dienstleistungen im Val d’Anniviers (5 bzw. 6 Gemeinden) 1865 bis 1920 7 Jahr 1865 1870 1880 1890 1900 1910 1920 Einwohner (erste Zahl: 1860) 1888 1975 2011 2167 2238 2253 2001 Baugewerbe maurer 2 2 schreiner 2 1 2 8 9 10 5 sägerei 5 5 6 10 8 3 4 total 7 6 8 18 17 15 11 6 aev (anm. 1). 7 Ebd.

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Gewerbe und Handwerk schmied 1 1 1 1 mühle 3 4 4 5 4 4 3 nagelschmied 1 1 1 3 hufschmied 4 2 2 2 4 1 2 Küfer 4 3 1 4 1 3 4 wagner 2 1 2 gerber 2 2 2 1 schneider 2 1 3 2 4 1 weber 3 3 1 3 schuster 2 4 6 7 10 10 7 verschiedenes 3 2 2 2 1 1 1 total 26 21 21 28 29 24 18 Geschäfte bäcker 1 1 2 3 1 metzger 2 2 viehhändler 1 1 1 holzhändler 3 3 4 3 5 weinhändler 1 3 5 3 4 9 4 tabakladen 2 4 5 5 12 8 basar 3 4 3 7 7 übrige geschäfte 1 1 1 2 4 4 total 4 4 17 18 21 40 31 Tourismus hotel 2 2 5 7 12 14 14 fuhrmann 10 21 22 7 bergführer 2 4 3 10 22 23 6 total 4 6 8 27 55 59 27

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Übrige Dienstleistungen feldvermesser 1 1 6 1 2 2 1 tierarzt 1 steuereintreiber 1 notar 1 1 1 1 bank raiffeisen 1 total 3 2 8 2 2 2 2 Gesamttotal 44 39 62 93 124 140 89 in % der Bevölkerung 2,3 2,0 3,1 4,3 5,5 6,2 4,4

Personen, die gemäss Industrietaxe verschiedene Tätigkeiten ausgeübt haben, fi-gurieren entsprechend mehrfach. Dies betrifft vor allem den bereich der geschäf-te.

4.1 Kontinuität und Bewegung

gesamtüberblick: Die verschiedenen wirtschaftszweige ausserhalb des landwirt-schaftlichen sektors haben sich zwischen 1865 und 1910 personell insgesamt mehr als verdreifacht und sind dann innert weniger Jahre wiederum drastisch zu- rückgegangen. Gemessen an der Gesamtbevölkerung verbleibt der Anteil der Be-schäftigten im nichtlandwirtschaftlichen bereich mit 4,4 % 1920 (gemessen an der Bevölkerungszahl) in einem bescheidenen Rahmen. Die Zahlen belegen auch, wie stark das Ausbleiben der ausländischen Touristen nach dem Ausbruch des Kriegs 1914 das tal in grosse wirtschaftliche schwierigkeiten stürzte. Der beschäftig-tenrückgang betraf alle tätigkeitsbereiche, wenn auch in unterschiedlicher inten-sität.

einerseits existierten berufsgruppen, die sich in ihrer personellen zusammen-setzung kaum veränderten: das gewerbe und das handwerk und der bereich «üb-rige Dienstleistungen», der praktisch inexistent war. andere berufszweige erleb-ten einen aufschwung. zu den gewinnern der epoche zählte das baugewerbe, dann (in stärkerem ausmass) die geschäfte und der touristische sektor. letzte-rer war vor 1890 noch kaum von Bedeutung, stand 1900 und 1910 auf dem Höhe-punkt und reduzierte sich im Gefolge des Kriegs wiederum um über die Hälfte. Die diesbezüglichen zahlen bestätigen die statistik der steuereinnahmen (tab. 2).

weiter für die thematik relevant sind etwa mehrfachnennungen und damit mehrfachtätigkeiten einzelner Personen. Das kommt zwar nicht allzu oft vor, doch können zwei Grundmuster ermittelt werden: Die besonders Ambitionierten, die

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ein hotel leiteten und gleichzeitig als bergführer, fuhrmann und warenhändler tätig waren, sind in der zehnjahresstatistik je zweimal in vissoie und zinal und einmal in St-Luc anzutreffen. Häufiger scheinen die Berufe Hotelier und Berg-führer / Fuhrmann kombiniert worden zu sein. Daneben existiert eine Kategorie erwerbstätiger, die in verschiedenen verkaufsbereichen auftreten oder – eine be-sonderheit in st-Jean – gleichzeitig in mehreren gewerbe- und handwerkssparten tätig sind. insgesamt wird über die auswertung der steuerregister eine generati-on vgenerati-on hoteliers fassbar, die weit mehr als nur leiter des betriebs waren.

Die vorliegende statistik umfasst alle damaligen gemeinden und sagt damit nichts über die Entwicklung der einzelnen Ortschaften aus. Die berufliche Ent-wicklung wurde hingegen für jede gemeinde einzeln verfolgt. ein vergleich ge-staltet sich deshalb nicht ganz einfach, denn vissoie erscheint erst 1904 als selb-ständige gemeinde und war vorher zwischen ayer und grimentz aufgeteilt. Die zahlen von 1910 und 1920 zeigen, dass vissoie in den arbeitsbereichen baugewer-be, gewerbe und handwerk sowie im bereich der geschäfte über deutlich mehr freischaffende verfügte als die anderen gemeinden. ayer (zinal ist teil dieser gemeinde) und st-luc folgen dem allgemeinen trend zu mehr beschäftigten bis 1910, wobei ayer seit 1890 in der tourismusbranche praktisch eine monopolstel-lung innehat. Die Gemeinde St-Jean weist nur sehr wenige Steuerpflichtige im zweiten und dritten sektor auf. ihre zahl verändert sich während des gesamten zeitraums nicht. ins auge springt zudem das vollständige fehlen von touristi-schen aktivitäten im analysierten intervall. auch chandolin und grimentz ver-fügen über nur wenige beschäftigte ausserhalb der landwirtschaft. in grimentz nimmt ihre zahl ab 1890 allerdings in einigen bereichen etwas zu.

männer und frauen: in den steuerverzeichnissen tauchen nur selten frauen-namen auf. Julienne epiney-antille führte nach dem tod ihres mannes von 1885 bis 1902 das hotel Durant in zinal. erwähnt werden darüber hinaus einige frau-en, die als weberinnen tätig waren: drei in ayer, je zwei in grimentz und st-luc. Daneben begegnen uns zwei frauen mit tabakladen und basar in st-luc und vis-soie sowie zwei weitere, die hier als schneiderin und fuhrhalterin tätig waren. Die selbständige berufliche Tätigkeit von Frauen ausserhalb der Land- und Hauswirt-schaft ist also selten.

4.2 Interpretationsansätze

Der hoteltourismus des späten 19. Jahrhunderts schuf arbeitsplätze, die es zuvor im tal nicht gegeben hatte. unmittelbar mit der hotellerie verbunden waren die verantwortlichen für den hotelbetrieb, die bergführer und fuhrleute. letztere besorgten den transport von Personen und gepäck in die tourismusorte, die noch nicht durch fahrstrassen erschlossen waren (vor allem chandolin und st-luc).

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Indirekt profitierten von der neuen Situation auch das Baugewerbe und die Ver-käufer von waren. Der ertrag all dieser aktivitäten war aber aus zwei gründen begrenzt: Die hotelsaison dauerte nur drei bis vier monate im Jahr, und die ho-telbauten wurden noch nicht durch ein angebot an ferienhäusern usw. ergänzt. inwieweit am hotelbau auch einheimische unternehmungen beteiligt waren, geht aus den statistischen unterlagen nicht hervor.

Die massive vervielfachung der anzahl der als händler tätigen Personen (von 4 im Jahr 1865 auf 40 im Jahr 1910) betrifft die gemeinden ayer, st-luc und vis-soie. ein zusammenhang mit der hotelwirtschaft scheint also plausibel, mag das Phänomen aber nicht vollständig zu erklären. Die zahlen in diesem bereich sind aus verschiedenen gründen nach unten zu korrigieren: in der regel handelt es sich um für wenige Monate im Jahr geltende Kleinpensen. Zudem tauchen ver-schiedene Steuerpflichtige gleichzeitig in mehreren Bereichen auf. Erscheint der hotelier auch in dieser rubrik, kann angenommen werden, dass die basare und Wein- und Tabakverkaufsstätten zum Hotel gehörten und von den Einheimischen nicht beachtet wurden. Das zaghafte aufkommen von restaurantbetrieben (ne-ben den hotels) und von bäckereien und metzgereien gegen ende des 19. Jahrhun-derts mag bedeuten, dass im tal neben selbstversorgung und tausch bereits ein gewisser anteil an privater geldwirtschaft vorhanden war.

Die stagnation des um 1865 starken sektors von gewerbe und handwerk er-staunt. vielleicht liefert willy gyr, der die Jahre um 1940 untersucht hat, eine plausible erklärung dafür:8 in traditionellen berggesellschaften spielten diese

tä-tigkeiten bloss eine ergänzende rolle zur landwirtschaft.

beschäftigungen in akademischen Dienstleistungsberufen kommen kaum vor, und es gibt in diesem bereich kaum Personen, die in den statistiken über einen längeren Zeitraum hinweg aufleuchten.

insgesamt zeigen die statistiken, dass der tourismus des späten 19. Jahrhun-derts einige neue tätigkeiten für die sommermonate stimulierte, ohne dass aber die bisherige, weitgehend auf selbstversorgung beruhende wirtschaftsform in frage gestellt worden wäre. Der tourismus trat einfach als neuer, sich nur saisonal entfaltender Zweig neben die herkömmliche Landwirtschaft. Es lassen sich weder ansätze einer industriellen entwicklung noch eine übermässige ausformung des dritten sektors erkennen.

Die epoche brachte also keinen radikalen, raschen bruch mit der bisherigen beschäftigungspraxis wie nach dem zweiten weltkrieg. über die vorhin erwähn-ten gründe hinaus war dafür die mentalität der anniviarden verantwortlich, die vom festhalten an einer eigenständigen nahrungsmittelversorgung und generell der Pflege einer fast ausschliesslich landwirtschaftlichen Kultur geprägt war. Zu 8 Willy Gyr, le val d’anniviers. vie traditionelle et culture matérielle basées sur le patois de

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dieser Mentalität gehörte auch, dass die Anniviarden nicht wie Bewohner anderer Täler nach Übersee auswanderten, obwohl die ständige Bevölkerungszunahme bei gleichbleibender wirtschaftlicher leistungskraft immer mehr zum Problem wurde. eine «auswanderung» fand dann nach 1900 doch statt, aber in die unmit-telbare nähe: in die aluminiumfabrik in chippis.

5 Erfahrungen mit den Steuerregistern: thematische Beispiele Die Eröffnungsjahre der Hotels

Den ausgangspunkt stellt die überlegung dar, das erste in den steuerverzeich-nissen erwähnte Jahr sei das erste betriebsjahr. gelegentlich existieren unsicher-heiten, ob die steuer nicht erst im zweiten betriebsjahr erstmals erhoben wurde, doch kommt das nicht allzu oft vor. aber generell muss mit einer ungenauigkeit von einem Jahr gerechnet werden. Das Eröffnungsjahr ist auch nicht unbedingt identisch mit dem baujahr. in zwei fällen wurden beide Daten aufgeführt; nicht etwa, weil sie die einzigen fälle darstellen, bei denen die beiden Daten nicht

iden-Abb. 2: Anzeige für das Hotel Weisshorn, aus «Sierre et le Val d'Anniviers» von Jules Monod, Genève 1913, S. 80

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tisch wären, sondern weil das Datum an der hotelfassade auch berücksichtigt werden muss. auf der fassade des bella tola steht 1859. Das ist das baujahr (al-lerdings des Vorgängerbaus in der Dorfmitte). Es wurde 1860 eröffnet. Auf der Fassade des Hotels Weisshorn steht das Baujahr 1882, dieses öffnete 1884 seine türen. gemeint ist mit 1884 übrigens auch der erste bau, der 1889 niederbrann-te; das jetzige Hotel wurde 1891 eröffnet, ab 1892 taucht das Hotel wieder in den steuerstatistiken auf.

lücken verweisen darauf, dass in den entsprechenden Jahren keine steuer er-richtet werden musste. Diese fanden nicht niederschlag in den Quellen. als bei-spiel wird nochmals das hotel weisshorn oberhalb von st-luc herangezogen: Die steuervakanz von 1889 bis 1891 wird in den Dokumenten nicht begründet. eine weitere steuerbefreiung 1902–04 wird ebenso wenig begründet wie die vierjäh-rige steuervakanz 1916–19. rein aus den steuerunterlagen lässt sich dieser sach-verhalt indirekt und teilweise dadurch erklären, dass für 1917/18 generell keine hotelsteuern erhoben wurden. aber das reicht nicht für eine hieb- und stichfeste Deutung.

mit blick auf eine einzige gaststätte («Des alpes» in vissoie) erscheint das steuerregister nicht zuverlässig: sie taucht in der steuerstatistik erstmals 1895 auf, was aber nicht korrekt sein kann, wenn man die hotelgeschichte berücksichtigt.9

Deshalb wurde die angabe aus der Publikation von Paul-andré florey übernom-men (1885).

hotel oder restaurant? von den aufgeführten gaststätten werden drei auch als restaurant erwähnt: «Des alpes» niouc (nur als restaurant), «Des alpes» vis-soie, «rothorn» ayer. mit einer einzigen ausnahme wurden von den beiden letz-teren häusern aber nur restauranttaxen bezahlt (diese drei gaststätten sind in tab. 2 nicht berücksichtigt).

Die Eröffnungsdaten der Hotels lassen sich mit Hilfe der Steuerregister also nicht in allen fällen genau ermitteln. es muss auf zusatzquellen zurückgegriffen werden wie baedeker, zeitungen (gazette du valais, Journal du valais) und Pub-likationen zur orts- und hotelgeschichte.10 für viele hinweise bin ich Dr. roland

flückiger-seiler dankbar. in zweifelsfällen konnte ich auf seine reichhaltige Do-kumentation zurückgreifen.11

9 Paul-André Florey, vissoie. village médiéval du val d’anniviers, sierre 2003, s. 141f.

10 Wesentliches zum Thema, auch unter Einschluss von Daten zur Industrietaxe, ist veröffentlicht worden in: historische hotels im val d’anniviers. museum schweizer hotellerie und tourismus, Zollikon 1998. Der gleiche Text in französischer Fassung unter: Hotels historiques dans le Val d’anniviers.

11 vgl. Roland Flückiger-Seiler, aussichtshotels im val d’anniviers. Die touristische erschliessung der Walliser Südtäler, in: Die Alpen. Zeitschrift des Schweizer Alpen-Clubs 11 (2005), S. 35–37.

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insgesamt sind die steuerregister eine zuverlässige, wenn auch in ihrem aussa-gewert beschränkte Quelle für die hotelforschung. sie erlauben zum beispiel dort, wo in der historischen Literatur bisher Hinweise fehlen oder unpräzise sind, Klä-rung. Die entsprechenden Daten zur geschichte der hotels wurden im übrigen

be-reits in einer Publikation berücksichtigt, betrafen aber nur die grösseren Hotels.12

5.1 Berufsgruppen

Das Dekret von 1856 zählte die zu besteuernden gruppen nicht abschliessend auf. Die hoteliers und bergführer – man hatte sie im Dekret vergessen – wurden dann sofort aufgenommen, die nicht weniger wichtigen fuhrleute (voituriers) dagegen erst um 1890. gar nie werden beispielsweise bergwerksunternehmer genannt (es wären allerdings nicht viele gewesen). Dagegen verschwanden die Jäger nach we-nigen Jahren wieder aus dem verzeichnis, offenbar aufgrund ihrer nähe zum ers-ten wirtschaftssektor. sie wurden in der statistik nicht berücksichtigt.

Hotelangestellte mit Spezialfunktionen (Portier, Koch, Chef de service) gehör-ten als angestellte gemäss den gesetzlichen vorgaben nicht zu den Personen, die besteuert wurden. trotzdem tauchen sie auf, aber nur zwischen 1905 und 1910 und nur für einige wenige hotels.

5.2 Zweierlei Mass

Die aufteilung der statistischen Daten in zwei zeitliche erhebungskategorien (jährlich bzw. im zehnjahresschritt) kann durchaus sinnvoll sein, wenn einerseits ein tour d’horizon über ein halbes Jahrhundert gegeben wird und andererseits einzelne themen genauer unter die lupe genommen werden. Das zusammen-bringen beider aspekte kann gelegentlich zu unstimmigkeiten führen. Das be-trifft hier – rein statistisch betrachtet – die Positionierung der am schluss rasch wachsenden berufsgruppen bergführer und fuhrleute: Die zahlen für 1890 und 1900 stimmen mit den berechnungen aus diesen Daten nicht überein. aber der-artige Befunde sind im Fall rasch wachsender oder sinkender statistischer Grös-sen eigentlich plausibel. in anderen fällen, bei denen sich die zahlen eher linear entwickeln, sind grössere Diskrepanzen kaum zu erwarten. Das Auswerten einer jährlichen Statistik in einem zeitlichen Längsschnitt verschafft mehr Konturen zu ausgewählten Teilthemen. Ein solches Vorgehen könnte auch ergiebig sein für Un-tersuchungen zu Berufsbiografien.

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6 Schluss

Untersuchungen unter Hinzuziehung der Industrietaxe können lohnenswert sein. mit hilfe dieser Quelle kann manches rekonstruiert werden, was anderen Doku-menten und der sekundärliteratur nicht zu entnehmen ist. besonders geeignet ist die Quelle zur Darstellung von entwicklungslinien und (in ansätzen) von berufs-biografien. Begrenzt man sich auf einen Raum wie Seitentäler oder Bezirke, kön-nen mit vertretbarem zeitlichem aufwand ergiebige resultate erzielt werden.

Gewisse Unwägbarkeiten, die im 5. Kapitel angesprochen wurden, bedeuten wenig angesichts der doch sehr gut lesbaren «Partitur» der im staatsarchiv über-lieferten steuerdokumente. Die im rahmen dieses artikels erarbeiteten hinweise sind vor allem als empfehlung zu einem pragmatischen umgang mit diesen mate-rialien zu verstehen. Der umgang mit diesen Quellen vermochte rasch aufzuzei-gen, mit blick auf welche themenfelder die Dokumente ergebnisse versprechen oder auch nicht.

Figure

Tab. 1: Die Entwicklung der Wohnbevölkerung  3 1860 1880 1900 1910 1920 ayer 769 818 789 536 516 chandolin 123 169 200 204 203 grimentz 227 224 353 237 236 st-Jean 307 364 395 418 425 st-luc 462 436 501 549 383 vissoie - - - 309 238 anniviers total 1888 20
Abb. 1: Karte des Val d’Anniviers mit seinen Gaststätten  5 5  AEV (Anm. 1). ZinalVissoieSidersChippisNioucChandolinSt-LucGrimentzAyerSt-Jean Durand, 1856Trift, 1891 Diablons, 1894Besso, 1895National, 1906
Tab. 2: Besteuerung der Hotels (ohne Restaurants) in Franken, nach Gemeinden  6
Abb. 2: Anzeige für das Hotel Weisshorn, aus «Sierre et le Val d'Anniviers»

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