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Siegfried Kracauer und die Kultursoziologie

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Academic year: 2021

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Siegfried Kracauer und die Kultursoziologe

Barbara Thériault & Thomas Schmidt-Lux

Keywords: Beobachtung, Materialität, Alltagswelt, soziologisches Schreiben, Feuilleton,

Fotografie, Kino

Abstract: Während Siegfried Kracauer meist als Kritiker und Theoretiker des Kinos und des

Films Erwähnung findet, wollen wir sein Werk im Hinblick auf dessen Relevanz für die Kultursoziologie darstellen. Wir konzentrieren uns dabei auf seine journalistischen Arbeiten und auf die Art des Beobachtens, auf die Bedeutung, die dem Raum und „dem Konkreten“ beigemessen wird, auf das soziologische Schreiben, die Diagnose der Moderne, die Haltung des Intellektuellen, auf das undogmatische Denken Kracauers sowie auf die Position eines Autors gegenüber der Politik und der Theorie. Schließlich betonen wir das Potential seiner Schriften für eine Soziologie, die anspruchsvoll und empirisch, dabei aber zugleich originell und kurzweilig sein will.

Einleitung: In der Buchhandlung

Liebe Leserinnen und Leser, wir laden Sie zu einem kleinen Versuch ein. Gehen Sie einmal in eine Buchhandlung in Leipzig oder Montréal und fragen Sie nach Büchern von Siegfried Kracauer. Vermutlich werden Sie dann in die Abteilung geschickt, in der sich die Literatur zum Film und zum Kino befindet. Dies liegt daran, dass Kracauer heute vor allem als Filmtheoretiker bekannt ist. In den Regalen findet sich bestimmt sein Buch „Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films“ (1984 [1947]) oder seine „Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit“ (1985 [1960]). Auf dem Umschlag des Buches werden Sie lesen können1:

„Siegfried Kracauer (Frankfurt/M. 1889 – New York 1966) war ein Filmkritiker, Historiker und freischaffender Filmtheoretiker. Er ist Autor von ‚Das Ornament der Masse‘ und ‚Theorie des Films‘“.

oder

1 Die Zitate stammen von den Kurzbeschreibungen der englischsprachigen Ausgaben beider Bücher (2004 [1947], 1997 [1960]).

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„Siegfried Kracauer war ein deutscher Intellektueller, der zahlreiche Schriften zur modernen Kultur und dem Alltagsleben verfasste. Seit 1920 schrieb er für das Feuilleton der ‚Frankfurter Zeitung‘, dessen Chefredakteur er zwischen 1924 und 1933 war. Er emigrierte 1941 in die USA“.

Hauptteil: In der Bibliothek

Wenn Sie sich dann aber in Ihrer Universitätsbibliothek auf die Suche nach Kracauer begeben, werden Sie darüber hinaus Bücher zu ganz anderen Gebieten finden. Über kurz oder lang stoßen Sie etwa auf die neunbändige Gesamtausgabe von Kracauers Schriften (2004-2012). Wenn Sie sich damit befassen, werden Sie bemerken, dass ein großer Teil seiner Texte in Zeitungen erschien. Allein die vier Teilbände des mit „Essays, Feuilletons, Rezensionen“ überschriebenen Bandes umfassen nicht weniger als 2982 Seiten mit Texten zu den unterschiedlichsten Themen2.

Das Erbe, das Kracauer der Soziologie hinterlässt, ist zu großen Teilen in diesen Schriften zu finden, die zwischen 1920 und 1930 erschienen. Es ist vor allem der Kultursoziologe Kracauer, den wir hier präsentieren möchten. Damit verbunden befassen wir uns geradezu unvermeidlich mit einem spezifischen Genre, dem er vor allem in den 1920er Jahren entscheidende Impulse verlieh und dem Kracauer sich am Ende seines Lebens wieder zuwandte: dem Feuilleton.

Verweilen wir noch einen Moment in der Bibliothek. Neben Kracauers Büchern zum Film wird sicherlich ein anderes Buch die deutlichsten Spuren aufweisen, die auf eine häufige Ausleihe hindeuten: „Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland“ (2013 [1930]). Das Buch ist ein Mosaik aus zwölf Feuilletons von jeweils acht bis zehn Seiten, eingeleitet von einem Vorwort. Die Kapitel erschienen zuerst im Jahr 1929 als einzelne Artikel in der „Frankfurter Zeitung“ und wurden ein Jahr darauf in Buchform veröffentlicht. „Die Angestellten“ ist eine eindringliche Analyse des Alltags von Menschen im Berlin der Jahre nach dem Ersten Weltkrieg. Kracauer begegnete ihnen in den Büros, den Warenhäusern und den Banken; ihre Zahl nahm kontinuierlich zu. Er bestimmte sie nicht anhand sozio-professioneller Kategorien oder über Klassenzugehörigkeit, sondern vielmehr über die sie einende existenzielle Sorge: ihre Aufstiegsambitionen, gepaart mit der Angst vor dem Abstieg zu einem Proletariat, das sie verachteten. Die Angestellten waren Männer – und nicht zu vergessen: Frauen –, die das 2 Ganz zu schweigen von den unzähligen Filmrezensionen, die allein schon drei weitere Teilbände füllen.

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mangelnde Bewusstsein über ihre tatsächliche Situation und die mühsamen Anstrengungen einte, den Anschein eines bürgerlichen Lebens aufrecht zu erhalten. Sie selbst hätten sich so nie beschrieben; sie verkannten ihre Situation oder wollten sie schlichtweg nicht wahrhaben. Sofort nach Arbeitsende suchten sie in den Cafés und Kinos Zerstreuung, oder sie trieben Sport.

Bei „Die Angestellten“ wird eine erste besondere Stärke Kracauers erkennbar, die auch für heutige kultursoziologische Forschung relevant ist: Kracauers Arbeiten sind eine Einladung, ins Feld zu gehen. Sie sind eine Aufforderung, selbst zu beobachten und dabei genau hinzusehen; eine Aufforderung, mit Menschen zu sprechen und ihnen dabei genau zuzuhören. Kracauer ist ein Autor, der genau dies unternahm, und viele seiner Texte sind genau deshalb bis heute lesenswert: Sie sind nah am Geschehen und zugleich kurzweilig und elegant geschrieben. Das gilt vor allem für „Die Angestellten“. Kracauer verstand diese Studie dezidiert als Feldforschung. Er führte zahlreiche Gespräche mit Angestellten in- und außerhalb ihrer Betriebe, er begleitete sie in ihrem beruflichen Alltag und beobachtete die Interaktionen mit Vorgesetzten und Mitangestellten, und er befragte die Beschäftigten in den Personalbüros, die Vorläufer der heutigen „Human Resources“-Abteilungen. Doch Kracauer beließ es nicht dabei: Er folgte den Angestellten auch nach ihren Bürozeiten und während ihrer Wochenenden. Er las zwar Statistiken und parlamentarische Debatten, befasste sich mit den Diskursen von Spezialisten der neuen Betriebswissenschaften oder berühmten Professoren seiner Zeit. Trotz all dieser unterschiedlichen Quellen war seine Studie aber der Lebensrealität der Angestellten, deren Lebenswelten gewidmet.

Der Nähe zu den Orten und Menschen, für die sich Kracauer interessierte, ist jedoch nicht nur die Angestellten-Studie verpflichtet. Sie findet sich auch in seinen Texten zu Berlin (2009 [1964]) und in „Das Ornament der Masse“ (2014 [1963/1927]), einer Sammlung von Feuilletons aus den Jahren 1920 bis 1930. Kracauers Streifzüge durch die moderne Großstadt sind genaue Beobachtungen und in ihrer Analysekraft bemerkenswert. Sie sind aber nicht zuletzt ein Plädoyer für das Beobachten selbst. Zwar gibt es in keinem der Bücher ein Methodenkapitel; es wird nirgends gesagt, wie viele Gespräche er mit welcher Methode geführt und ausgewertet hat. An dieser Stelle wird man nicht bei ihm anknüpfen können – sehr wohl aber bei seiner Haltung gegenüber der Umgebung und ihren spezifischen Zügen. Diese Haltung kombinierte nämlich empirische Nähe mit einem zugleich distanzierten, analytischen Blick. Erfüllt von einem echten Interesse an der sozialen Realität, ließ Kracauer für uns die Welt der Angestellten entstehen,

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mitsamt ihren Büros, aber eben auch solchen Mikrokosmen wie Kinosälen, bestimmten Straßenabschnitten oder Vergnügungsparks. Auf eine Weise präsentiert, wie es heute etwa – ohne an Kracauer anzuknüpfen – von Vertretern der Europäischen Ethnologie getan wird, erscheint uns das Leben der Angestellten unerwartet exotisch und fremd.

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In seinen Feuilletons beobachtet Kracauer, er interpretiert und er sammelt. Sein Werk als Soziologe und Ethnologe der Großstadt ruft zahlreiche Szenen des Alltagslebens auf: Manchmal präsentiert er Nahaufnahmen von Personen oder spezifischen Situationen, manchmal aber auch theoretische Perspektiven. Dies erfolgt als eine Art Montage, die eng verbunden ist mit der Sichtweise des Autors, der selbst Teil der Szenerie ist, der selbst wie ein Angestellter agiert – allerdings wie ein sehr reflektierter Angestellter. Wenn Kracauer möchte, dass seine Studie „wirklich von ihnen spräche, die nur schwer von sich sprechen können“ (2013 [1930], S. 8), verschont er diese aber auch nicht mit kritischen Bemerkungen. Doch wenn er kritisiert, dann immer mit einem ironischen Ton, mithin aus einer zugleich schonungslosen wie empathischen Haltung gegenüber den Angestellten. Sie als Leser werden fasziniert sein von der Aktualität seiner Beschreibungen und der dargestellten Entwicklungen, die noch heute unsere Zeit kennzeichnen, und sich fragen: „Wie kann man das alles schon 1929 sehen?“ oder „Wieso hat sich das alles nur so wenig verändert?“.

Kracauer stand in engem Kontakt mit den Mitarbeitern des Institutes für Sozialforschung in Frankfurt am Main, insbesondere mit Theodor W. Adorno. Dieser war jedoch über viele Schriften Kracauers irritiert, da dieser – so Adornos ziemlich unverhüllter Vorwurf – hinter wirklicher Kritik zurückbleiben würde. Aber trifft dies angesichts von Texten wie dem „Ornament der Masse“ zu, dem Aufsatz, der auch dem Band gesammelter Essays den Namen gab (2014 [1963/1927])? Gerade in einem solchen Text wird doch ein wichtiger Grundzug von Kracauers Schriften deutlich: die Verbindung von kritischer Perspektive und Zeitdiagnose. Im „Ornament der Masse“ erscheint Kracauers Gegenwart als eine Zeit, die den Einzelnen einpasst in den Ablauf der Prozesse und eines bürokratischen Apparats.

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Hier begegnet uns noch einmal das Vorgehen „von unten nach oben“ (2006 [1969], S. 232), das Kracauers Sicht auf die Moderne auszeichnet; es sind die kleinen Dinge, die das soziologische Denken anregen3. Ein anderes Beispiel hierfür sind die populären Tanzrevues der „Tiller-Girls“,

in denen Kracauer die „Gesamtverfassung der Zeit“ (2014 [1963/1927], S. 50) erkennt. Die „Tiller-Girls“ führen Tänze auf, die ornamenthafte Figuren und Muster kreieren und hinter denen die Einzelnen komplett zurücktreten. Die daran Beteiligten sind Bausteine, ohne die zwar das Ganze nicht entstünde, die für sich aber keinen originelleren Beitrag leisten als eben ein Teil der Gesamtaufführung zu sein. Hierin sieht Kracauer die Analogie zur Moderne; auch der moderne Kapitalismus verwischt die Besonderheiten und Individualitäten der an ihm beteiligten Menschen und ist „sich Selbstzweck wie das Massenornament“ (2014 [1963/1927], S. 53); eine gekonnte Form, aber ohne tieferen Sinn.

Solche Diagnosen finden sich ebenfalls in „Die Angestellten“. Auch diese sieht Kracauer eingespannt in betriebliche Abläufe, die von Rationalisierung, Berechenbarkeit und Planung gekennzeichnet sind und letztlich darauf hinauslaufen, den Einzelnen austausch- und ersetzbar zu machen. Die moderne Angestelltengesellschaft züchtet sich regelrecht ihre Akteure heran, wirft sie aber ebenso schnell wieder aus ihren Abläufen heraus, wenn sie nicht mehr benötigt werden. Will man über diesen Zustand hinaus, hilft kein Zurück in der Geschichte, denn auch die Vorstellung von einem friedlichen und konfliktfreien Naturzustand sei ein Mythos. Anzuerkennen ist vielmehr die „getrübte Vernunft“ (2014 [1963/1927], S. 57), wie sie im Kapitalismus vorzufinden sei, die abstrakt und rationalisiert ist und dabei aber zugleich von den Menschen und ihren Bedürfnissen absieht. Der Weg zu einer besseren Gesellschaft sei jedoch nur über eine aktive Auseinandersetzung mit dieser Vernunft zu begehen.

Und die Angestellten? Was machen sie in dieser Situation? Sie fliehen: in die Filme, die Reisen und in den Tanz. Kracauer begegnet ihnen aber auch – man sieht es schon kommen – im Arbeitsgericht und den Arbeitsämtern, an den Orten also, an denen die Kehrseiten der neuen Arbeitsform sichtbar werden.

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3 Diese Denkrichtung ist jedoch nicht zu formalistisch zu fassen, wie es etwa die Lektüre von C.W. Mills (1959) nahelegt. Die Wechselbeziehung ist deutlich komplizierter, das Allgemeine und das Besondere existieren immer zugleich und (auch) nebeneinander (Kracauer 1973 [1969], S. 230-234).

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Bemerkenswert ist darüber hinaus Kracauers Position gegenüber einem typischen Zug seiner Zeit: dem „metaphysische[n] Leiden an dem Mangel eines hohen Sinnes in der Welt“ (2014 [1963/1931], S. 106). Obwohl die Masse der Angestellten sich eher nicht durch ein ausgeprägtes Interesse an der sozialen Realität auszeichnet, sind doch, so Kracauer, viele Männer der intellektuellen Mittelschichten – Frauen werden von ihm hier nicht erwähnt – auf der Suche nach der Füllung jener Leerstelle, die die Entfernung von der Religion zur Folge hatte. Viele, die mit dieser Leere nicht stoisch und in der Haltung einer prinzipiellen Skepsis umgingen – etwa die Haltung Max Webers –, würden sich dabei den zahlreichen neuen weltanschaulichen Strömungen hingeben. Anthroposophie, Kommunismus oder völkische Bewegungen sind dabei populäre Angebote, und Kracauer klassifiziert deren Anhängerschaft wegen ihrer – aus seiner Sicht – wenig reflektierten und letztlich oberflächlichen Hingabe als „Kurzschluss-Menschen“ (2014 [1963/1931], S. 114). In Abgrenzung sowohl zur prinzipiellen Skepsis als auch zur kurzschlüssigen Konversion zu neuen Religionen votiert Kracauer – durchaus normativ – für die Haltung des Wartens. Dieses Warten ist kein rein passives Verharren; auch die Wartenden sind auf der Suche nach einer „Welt der Wirklichkeit“. Sie sind dabei aber weder so cool wie der „intellektuelle Desperado“ (2014 [1963/1931], S. 117) – auch hier denkt man an Max Weber – noch so eifernd wie die Kurzschluss-Menschen. Die Wartenden zeigen vielmehr ein „zögerndes Geöffnetsein“ (2014 [1963/1931], S. 116) gegenüber metaphysischen Weltsichten, eine „angespannte Aktivität und tätiges Sichbereiten“ (2014 [1963/1931], S. 117-118).

Hier wird eine Grundhaltung erkennbar, die sich in vielen Texten Kracauers zeigt: ein Misstrauen gegenüber schnellen und unreflektierten Bekenntnissen, gegenüber der Fixierung absoluter Wahrheiten. Die Wartenden dagegen halten die Augen offen. Immer in einer Art Wachsamkeit begriffen, erkennen sie neue Tendenzen, weisen die messianischen Versuchungen zurück und lassen sich nicht einengen in einem exklusiven theoretischen Ansatz. Sie ziehen sich in einen Bereich zurück, den Kracauer das „Vorzimmer“ nennt. Was meint er damit? Das Vorzimmer bezeichnet einen Raum der „letzten Dinge vor den letzten“ (1973 [1969], S. 222), der sich dadurch unterscheidet von den Räumen philosophischer Wahrheiten, ultimativer Ideen und den letzten Fragen. Das Feuilleton, die Form, zu der Kracauer neben Autoren wie Georg Simmel, Walter Benjamin und Ernst Bloch besonders beigetragen hat (Rammstedt 2006), ist in diesem

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Raum genau richtig beheimatet: Es nimmt das Alltagsgeschehen unter die Lupe und befasst sich dabei gerne mit Details; es ist theoretisch, ohne formalistisch zu sein.

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Am Ende seines Lebens, in New York, publizierte Kracauer zwei Bände mit Feuilletons, die in der Zeit zwischen 1920 und 1930 entstanden waren: „Das Ornament der Masse“ (2014 [1963]) und „Straßen in Berlin und anderswo“ (2009 [1964]). Zudem legte er seine grundsätzliche Vorgehensweise dar und setzte damit ein Nachdenken über die Geschichte fort, von der ausgehend er über Fotografie und das Kino reflektierte (1973 [1969], 1985 [1960]). Kracauer sah eine starke Verbindung zwischen diesen Medien und der Arbeit des Historikers – und des Soziologen, wie wir denken. Wie die fotografischen Medien kreiert auch der Soziologe in seinen Darstellungen soziale Szenen und will „jene Ziele und Verhaltensweisen […] rehabilitieren, die eines Namens noch ermangeln und folglich übersehen oder falsch beurteilt werden“ (1973 [1969], S. 16), die Themen also, von denen noch wenig geredet und geschrieben wurde: die Massenkultur in „Die Angestellten“ oder die Operette in der Offenbach-Biografie (1976 [1937]), den Detektivroman im gleichnamigen Essay (1979 [1922-1925]), das Leben eines Außenseiters im Roman „Ginster“ (2013[1928]). Der Soziologe ist aufmerksam gegenüber den Erscheinungen an der Oberfläche, die allen zwar zugänglich sind, aber (vielleicht gerade deswegen) häufig unbemerkt wieder vergehen. Die Fotografie und das Kino wiederum „helfen uns, durch die Dinge zu denken, anstatt über ihnen“ (1973 [1969], S. 219). Kracauer geht es dabei nicht um eine allzu einfache Konzeption der Fotografie und der Historiografie, nicht um ein simples Klischee oder um „Schnappschüsse“, sondern immer um die Konstruktion der Realität im Medium des Bildes. Das zeigt sich etwa an seiner Kritik der „Neuen Sachlichkeit“ und seinem Vorwurf der Naivität gegenüber der zeitgenössischen Reportage, die im ersten Kapitel der „Angestellten“ zu finden sind.

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Sie werden es schon anhand der Titel im Regal der Bibliothek bemerkt haben: Die Sekundärliteratur zu Kracauer legt häufig eine eher romantisierende Lektüre des Intellektuellen nahe. Da ist die Rede vom „melancholischen Lumpensammler“ (Agard 2010) oder vom „intellektuellen Nomaden“ (Traverso 2006)4. Und tatsächlich fällt es nicht schwer, sich von der

Biografie Kracauers fesseln zu lassen, von seiner Zeit im Exil, seiner prekären Existenz am Rand der akademischen Welt, von seinem Schreibstil, der elegant, aber auch bissig sein konnte. Doch lassen Sie sich nicht täuschen: Kracauer lädt uns ein, ausgehend von Alltagsbeobachtungen und der Materialität der Welt, zu einer Soziologie aufzubrechen, die reflexiv ist, eindringlich, kurzweilig und schön, dabei aber entschieden empirisch. Wie die Fotografie und das Kino steht eine solche Soziologie in einem Spannungsverhältnis gegenüber der Kunst und der Philosophie, da sie „vom gegebenen Material auszugehen“ hat (2006 [1969], S. 101).

Es bleibt zu hoffen, dass Sie beim nächsten Besuch in Ihrer Buchhandlung die Bücher und Sammelbände Kracauers neben denen anderer Soziologinnen und Soziologen finden, und dass die Bücher aus der Bibliothek ihren Weg in die soziologischen Seminare nehmen.

Literaturverzeichnis

Adorno, Theodor W. 1974. Der wunderliche Realist. Über Siegfried Kracauer. In Noten zur

Literatur. Gesammelte Schriften (Band 11), Hrsg. Rolf Tiedemann, 388–408. Frankfurt/M.:

Suhrkamp.

Agard, Olivier. 2010. Kracauer: le chiffonnier mélancolique. Paris: CNRS.

Benjamin, Walter. 1991 [1930]. Ein Außenseiter macht sich bemerkbar. Zu S. Kracauer, „Die Angestellten“. In: Walter Benjamin: Kritiken und Rezensionen 1912-1931, Gesammelte Schriften

(Band 3), Hrsg. Hermann Schweppenhäuser und Rolf Tiedemann, 219–225. Frankfurt/M.:

Suhrkamp.

Gamba, Fiorenza. 2010. Kracauer photographe de la vie moderne. Une leçon méthodologique pour la sociologie postmoderne, Sociétés 110 (4): 79–94.

4 Die Reihe der Bezeichnungen ist noch deutlich länger, hier einige Beispiele: „Lumpensammler“ (Benjamin 1991 [1930]), der „wunderliche Realist“ (Adorno 1974), der „photographe de la vie moderne“ (Gamba 2010), der „destruktive Realist“ (Honneth 2014) oder der „scénariste de la ville“ (Perivolaropoulou 2009).

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Honneth, Axel. 2014. Der destruktive Realist. Zum sozialphilosophischen Erbe Siegfried Kracauers. In Vivisektionen eines Zeitalters. Porträts zur Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, 120–142. Berlin: Suhrkamp.

Kracauer, Siegfried. 2004-2012. Werke. Hrsg. Inka Mülder-Bach und Ingrid Belke. Frankfurt/M.: Suhrkamp [Bd. 1. Soziologie als Wissenschaft; Der Detektiv-Roman; Die Angestellten – Bd. 2.1. Von Caligari zu Hitler – Bd. 2.2. Studien zu Massenmedien und Propaganda – Bd. 3. Theorie des Films – Bd. 4. Geschichte: Vor den Letzten Dingen – Bd. 5. Essays, Feuilletons und Rezensionen (in vier Teilbänden) – Bd. 6. Kleine Schriften zum Film (in drei Teilbänden) – Bd. 7. Romane und Erzählungen – Bd. 8. Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit – Bd. 9. Frühe Schriften aus dem Nachlass].

Kracauer, Siegfried. 2009 [1964]. Straßen in Berlin und anderswo. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Kracauer, Siegfried. 2013 [1930]. Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland.

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Kracauer, Siegfried. 2014 [1963]. Das Ornament der Masse. Essays. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Kracauer, Siegfried. 2014 [1963/1927]. Das Ornament der Masse. In Das Ornament der Masse. Essays, 50–63. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Kracauer, Siegfried. 2014 [1963/1931]. Die Wartenden. In Das Ornament der Masse. Essays, 106–119. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

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Kracauer, Siegfried. 1985 [1960]. Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Kracauer, Siegfried. 1984 [1947]. Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des

deutschen Films. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Kracauer, Siegfried. 1979 [1922-1925]. Der Detektiv-Roman. Ein philosophischer Traktat. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

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Kracauer, Siegfried. 2013[1928]. Ginster. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Mills, Charles W. 1959. The Sociological Imagination. New York: Oxford University Press. Rammstedt, Otthein. 2006. Georg Simmels „Henkel-Literatur“. Eine Annäherung an den Essayisten. In Essayismus um 1900, Hrsg. Wolfgang Braungart und Kai Kauffmann, 177–191. Heidelberg: Universitätsverlag Winter.

Perivolaropoulou, Nia. 2009. Entre textes urbains et critique cinématographique: Kracauer scénariste de la ville, Intermédialités: histoire et théorie des arts, des lettres et des techniques, 14, 19-35.

Traverso, Enzo. 2006 [1994]. Siegfried Kracauer. Itinéraire d’un intellectuel nomade. Paris: La Découverte.

Références

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