CHRONIQUES ET COMPTES RENDU S
PAYS DE LANGUE ALLEMAND E
EBENBAUER, Alfred : Carmen Historicum . Untersuchungen zur historis-chen Dichtung im karolingishistoris-chen Europa . Bd . I . Teil A : Histo-rische Dichtung unter Karl dem Großen . Teil B : HistoHisto-rische Epe n im karolingischen Europa (= Philologica Germanica hrsg . H . Birk-han Bd. 4) . Wilhelm Braumüller, Wien 1978 .
Die Rezensentin kann als Germanistin natürlich nur versuchen , allgemein die Tragweite des Buches für die Erfassung des literarische n Kontextes zur Zeit der erwachenden deutschen Nationalität in der Karo-lingerzeit einzuschätzen . Eine Würdigung der Leistung für eine Ges-chichte der mittellateinischen Literatur muß sie andern Fachleute n überlassen . Aber dieser Wiener Habilitationsschrift hohen Anspruch s und interdisziplinärer Offenheit will ja gerade die Untersuchung eine s bestimmten Sektors der mittellateinischen Literatur zu einer bestimmte n Zeit nur Mittel zum Zweck sein, Schlüssel für den Zugang zur Einhei t europäischer Literatur verschiedener Nationalität in der Frühzeit . Als o sind alle irgendwie Betroffenen angesprochen, das Buch zu nutzen . Di e Wahl desCarmen historicum als paradigmatischen Falles für das ,, karo-lingische Europa " ist nicht zufällig, sondern in hohem Maße zeit- un d sachgerecht, denn ,, weltliche " Epik tritt zu dieser Zeit nur als historisch e Epik auf, außerdem mit fließender Grenze zur Geschichtsschreibung. Zeitcharakteristische Gattungsunterschiede innerhalb der historischen Dichtung (Preislied/historisches Epos/historisches Lied) dienen trotz aller Problematik einer exakten Grenzziehung einer überzeugende n Untergliederung der Studie . Das historische Lied bleibt einem vorberei-teten 2 .Bd . vorbehalten, dem der Germanist mit besonderer Spannun g entgegensieht . Denn dort sollen nach dem vorgezogenen Inhaltsver-zeichnis auch deutsche Stücke in die Gesamtschau eingebaut werden . I m gewählten Ausschnitt des vorliegendes Bandes spielt das Deutsche de r Überlieferung entsprechend noch keine Rolle . Es kommen nur latei-nische Textzeugen in Frage breiter westeuropäischer Streuung, denn die Nationalität der Autoren ist zweitrangig, gelegentlich sogar unbekannt .
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In Teil A werden fünf historische Dichtungen, die während de r Regierungszeit Karls des Großen entstanden sind, sorgfältig analysier t nach Situationsgebundenheit, kulturellem Kontext, historiographi-schen Quellen und ihrer Verarbeitung in Dichtung, nach Komposi-tion, Sprachniveau und andern anfallenden Einzelproblemen unte r gründlicher Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur . Interessan-terweise ist noch kein echtes Epos dabei . Es handelt sich bei allen mehr oder weniger um zeitgeschichtliche Preisgedichte mit politische r und repräsentativer Funktion, ideologisch von der augustinisch-sakra-len Auffassung des Herrscherberufs bestimmt . Nur einige zeige n Ansätze zu epischer Ausweitung, vor allem das „ Paderborner " Epo s (jüngerer Titel „ Karolus magnus et Leo papa ") .
Echte Epen bringt erst die Zeit der Nachfolger Karls hervor . Ihne n ist Teil B „ Historische Epen im karolingischen Europa " gewidmet . E s handelt sich um Ermoldus' (eines Aquitaniers) Epos auf Ludwig de n Frommen, Abbo's (eines Neustriers) Belagerung von Paris durch di e Normannen, die „ Gesta Berengarii " (eines Italieners) und di e „ Gesta Caroli magni " (eines Sachsen) . Diese vier Textzeugen werde n zunächst einzeln detailliert untersucht im Hinblick auf ihren stoffli-chen Hintergrund, ihr Verhältnis zur außerdichterisstoffli-chen Wirklichkeit , den Grad der Quellentreue, Auswahlprinzipien und ihre heilsges-chichtliche Interpretation, dann vergleichend im Hinblick auf di e „ Erzählstrategie ", also die literarische Gestaltung . Dazu war es nötig , einige für die epische Gattung konstituierende Bauelemente heraus -zustellen, unter kritischer Berücksichtigung der damals maßgebliche n Poetiken, und die Textzeugen daran zu messen . Das geschieht i n ständiger Auseinandersetzung mit der nicht geringen Sekundärlitera-tur, auch, so weit nötig, mit literaturtheoretischen Arbeiten . Die Roll e von z .B . epischem Vergleich, auktorialem Erzählen und verschiedene n Formen der Apostrophe, direkter Rede in den Formen der dialoglose n Rede, des Dialogs und des Monologs einschließlich des wichtige n Gebets, Beschreibungen von Vorgängen und Personen oder Sachen , dramatisch gestalteter Szene und Erzählbericht, schließlich der Anord-nung des Stoffes zeigt so viele Unterschiede zwischen den untersuch-ten Epen, daß die versuchte Zusammenfassung S . 275 ff. wenig aussa-gekräftig ausfallen mußte . So grundsätzlich ähnlich auch das Verhält-nis von Dichtung und Wirklichkeit und die ideologisch-heilsgeschicht-liche Interpretation in den vier Epen ist, so verschieden erfolgt di e Nutzung der traditionellen (antiken) literarischen Gestaltungsmittel i m einzelnen .
Mit diesen gründlichen Detailuntersuchungen ist eine gediegen e Grundlage gelegt für den den l .Bd . abschließenden, weit
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den Versuch „ einer Literatur- und Geistesgeschichte des , historische n Epos ` im frühen Mittelalter ", wobei „ historische Bedingungen " un d „ funktionaler Rahmen ", so weit faßbar, angemessen berücksichtig t sind . Ein Blick zurück bis Homer macht deutlich, daß mit de m „ historischen Epos " in der Karolingerzeit eine neue Textsorte nebe n „ Bibel- " und „ Legendenepos " tritt, die bis dahin einzigen legitime n Ausprägungen einer explizit „ christlichen Epik " . Das „ historisch e Epos " konnte seine Legitimation nach Ebenbauer nur durch heilsges-chichtliche Interpretation der Geschichte erreichen . So zeigt den n auch die gesamte historische Dichtung des karolingischen Europ a diese Ausrichtung. Diese Notwendigkeit galt im Grunde natürlic h auch für die Historiographen, die sich allerdings oft mit oberflächli-cheren ideologischen Grundsatzerklärungen in Prolog oder Epilo g oder eingestreuten formelhaften Äußerungen begnügen konnten . De r Verf. hat Recht, daß die moderne prinzipielle Unterscheidung vo n Geschichtsschreibung und Geschichtsdichtung für die Frühzeit nich t zutrifft. Es gibt nur graduelle Unterschiede bei breiter Berührungs-zone . Der Verf. macht es sich nicht leicht, für diese feine Abstufun g innerhalb eines integrierenden Gesamtkomplexes gewisse Spezifika z u akzentuieren, die historische „ Dichtung " von Geschichtsschreibung , zumal in der anspruchlosesten Form der Annalistik, die in der Karo-lingerzeit überwiegt, abrücken . Am eindeutigsten ist selbstverständlic h das äußere Kennzeichen der metrischen Form . Aber daß Dichtung nur Prosa in Versen sein sollte, damit kann sich E . mit Recht nich t zufrieden geben . Der höhere „ fiktionale " Anteil steht bei der Dich-tung natürlich auch außer Frage . Und gerade durch die Notwendig-keit, die der Unwahrheit verdächtige fictio immer wieder über de n Umweg des integumentum . der verborgenen tieferen Wahrheit, recht -fertigen zu mässen, gewinnt der „ Dichter ", noch dazu durch das ih m seit alters zugebilligte „ Bewußtsein göttlicher Inspiration ", eine grö-ßere Freiheit, aus Stoffkomplexen auszuwählen und Sinnzusammen-hänge zu stiften . „ Die Heilsgeschichte substituiert ", wie der Verf . bewußt überspitzt formuliert, „ den epenkonstitutiven Mythos " de r Antike . Diese freiere Verfügbarkeit des Dichters über seinen Stoff gegenüber dem Historiker ist die besondere Hypothese des Verf., de r man sich durchaus anschließen kann . Sie ist gewiß auch noch für di e folgenden Jahrhunderte von Bedeutung .
Dankenswert ist im Rahmen der Schlußfolgerungen S . 328 ff. auc h der kurze Versuch einer „ geschichtlichen und geographischen Einord -nung der behandelten Epen ", interessant ferner der abschließende i n die Zukunft weisende Ausblick auf Regino von Prüm, der unter de m deprimierenden Eindruck des Abstiegs des karolingischen
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ches durch Beiziehung der boethianischen fortuna — die übrigen s charakteristischerweise auch schon beim italienischen Verfasser de r „ Gesta Berengarii " auftaucht — versucht, das ideologisch gefordert e heilsgeschichtliche Denken mit dem von ihm als recht „ zufällig " erfahrenen „ Diesseitsgeschehen " zu verbinden .
Der Blick über die Nationalitätenzäune hinweg auf die kulturell e Einheit des karolingischen Europa, den dieses Buch vermittelt, bring t auch dem Germanisten durch die großzügige Horizonterweiterun g reichen Gewinn, wenn auch z .B . eine ihn besonders bewegende Frag e wie die nach der Priorität von lateinischem historischen Epos ode r volkssprachlicher Chanson de Geste, überhaupt ihrem Verhältnis zu -einander, wegen zu unterschiedlicher Überlieferungslage (z .Tl . schrift-lich/mündlich) auch von E. nicht beantwortet werden kann . Vo n besonderem Nutzen sind schließlich der breite Anmerkungsteil un d die umfängliche Bibliographie . So wird man über eine Reihe bedauer-licher Schreibfehler im Offsetdruck hinwegsehen .
Gabriele SCHIEBt Leipzig