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Teil II

Nutzen, Rolle und wie

der Kampf weitergeht

Seit ihrer Annahme steht die Erklärung uns allen zur Verfügung. Sie richtet sich zwar vorder-hand an die Staaten. Aber es sind die Kleinbäuerinnen und die Zivilgesellschaft, die sie sich zunutze machen müssen, um die Gegebenheiten und das herrschende Landwirtschaftsmodell nachhaltig zu verändern.

Dazu entwickeln wir zuerst das fachliche Verständnis der Erklärung; dann zeigen wir Möglich-keiten auf, wie die Erklärung genutzt werden kann, gerade auch, um die Institutionen zu verän-dern; und zuletzt betrachten wir die Erklärung als politisches Mittel für weitere Kämpfe.

Sich die Erklärung aneignen

In diesem Kapitel präsentieren wir zuerst die wichtigsten Artikel der Erklärung, ohne die sie ihre Daseinsberechtigung verlieren würde (1); dann verorten wir die Erklärung als juristisches In-strument im Völkerrecht und zeigen ihre Bedeutung auf (2).

1. Die wichtigsten Artikel

Wie wir im ersten Teil des Buches erwähnt haben, stellten die Kleinbäuerinnen und andere Landarbeiter starke Forderungen nach ebenso starken, neuen Rechten. Die Gründe dafür fehlten ihnen nicht (vgl. Kasten).

Die Erklärung beginnt in der Präambel mit den Anliegen, die zu ihrer Entstehung geführt ha-ben. Hier finden wir auch Verweise auf andere völkerrechtliche Instrumente, die als Inspiration für die Erklärung gedient haben.

Dann folgt der erste Teil der Erklärung mit jenen Artikeln, die für die Anwendung der Erklä-rung zu berücksichtigen sind: die Definition der Anspruchsberechtigten, die allgemeinen Ver-pflichtungen der Staaten sowie die Grundsätze der Nichtdiskriminierung und der Geschlech-tergleichheit. Danach werden die bürgerlichen und politischen Rechte erwähnt, die für Kleinbäu-erinnen und Landarbeiter wesentlich sind, zum Beispiel die Vereinigungs- und Versammlungs-freiheit39 oder die Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit40. Letztere ist besonders für Nomadin-nen, aber auch für Saisonarbeiterinnen sehr wichtig. Im zweiten Teil folgen die neuen Rechte: das Recht auf Land, auf Saatgut, auf biologische Vielfalt usw. Der dritte Teil schliesslich ist den wirt-schaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten gewidmet.

Gute Gründe für die Rechte von Kleinbäuerinnen

Fassen wir zusammen: Weltweit sind jene Menschen am stärksten von Hunger und Armut betroffen, die in ländlichen Regionen oder in Armenvierteln leben. Werden ländliche Regionen von Hunger heimgesucht, hoffen die Kleinbäuerinnen, in den Städten Arbeit zu finden. Letztlich finden sie aber dort nur Arbeitslosigkeit und Elend. Die Wahl, das eigene Land zu verlassen, ist in Wahrheit gar keine. Entweder verdienen die Kleinbäuerinnen mit der Bewirtschaftung ihres Landes nicht genug oder sie werden wegen angeblich wirtschaftsfördernden Projekten schlicht und einfach vertrieben. Aktuell verdienen Kleinbäuerinnen zu wenig und werden von den Kosten der land-wirtschaftlichen Betriebsmittel (u. a. Unkraut- und Schädlingsbekämpfungsmittel) erdrückt. Die industrielle Land-wirtschaft schreibt ihnen diese Mittel vor. Davon profitieren nur die Zwischenhändler. Sie kaufen landLand-wirtschaftliche Nahrungsmittel sehr günstig ein, verarbeiten sie zu tiefen Preisen und verkaufen sie dann teuer auf dem Markt.

Die gleichen Akteure setzen zunehmend standardisierte Anbaumethoden durch, binden die Kleinbäuerinnen immer stärker an ihre Betriebsmittel und beuten sie damit aus.

Dabei wiegt besonders schwer, dass zahlreiche Länder keine eigene Agrarpolitik haben. Weil den Kleinbäue-rinnen die staatliche Unterstützung fehlt, sind ihnen die Hände gebunden. Und wenn eine Agrarpolitik existiert, dann nützt sie in der Regel den grossen Produzenten und vergrössert den Wettbewerb und die Ungleichheiten.

Wenn schliesslich die Kleinbäuerinnen ihre Situation kritisieren, dann erfahren sie nur Repression und Gewalt.

Das hier skizzierte Bild zeigt uns einmal mehr, warum die Rechte der Kleinbäuerinnen und anderer Landarbeiter dringend besser geschützt werden müssen.

Die Erklärung beinhaltet 28 Artikel und praktisch ebenso viele Rechte. Wir können hier nicht alle vorstellen, sondern lediglich sieben: das Recht auf Land und andere natürliche Ressourcen, das Recht auf Saatgut, das Recht auf ein menschenwürdiges Einkommen und eine menschenwür-dige Existenzgrundlage sowie auf die dafür erforderlichen Produktionsmittel, das Recht auf eine angemessene Ernährung und Ernährungssouveränität, das Recht auf soziale Sicherheit, das Recht auf Mitwirkung, und die aus diesen Rechten abzuleitenden allgemeinen Verpflichtungen der Staa-ten.

Mehrere Gründe haben die Auswahl dieser Rechte und Verpflichtungen beeinflusst. Erstens sind sie neu. Es sind Rechte, die zwar nicht aus heiterem Himmel kommen, doch bis jetzt nur selten ins Völkerrecht integriert wurden. Zweitens wurden diese Rechte heftig diskutiert. Nicht nur, weil sie neu sind, sondern auch, weil sie für die Kleinbäuerinnen und die Bedeutung der Erklärung absolut grundlegend sind. Ohne sie hätte die Erklärung keinen Sinn. Diese Rechte dienen den Kleinbäuerinnen und anderen Landarbeitern zur Selbstverteidigung und als Argument bei der Festlegung einer Politik, die ihnen echten Nutzen bringt. Mit anderen Worten: Diese Rechte wer-den einen konkreten Wandel herbeiführen und sind „subversiv“.

a) Das Recht auf Land und andere natürliche Ressourcen41

Im Manuel populaire42 zur Erklärung schreibt La Vía Campesina (LVC): „Land ist für uns Klein-bäuerinnen die Lebensgrundlage, um Nahrung zu produzieren.“43 Dies scheint ganz offensicht-lich: Denn was kann eine Kleinbäuerin ohne ihr Land, ihr wichtigstes „Arbeitswerkzeug“, ihre beste Verbündete bewirken? Ohne Land keine Kleinbäuerinnen, wie es auch ohne Meer keine

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41 Erklärung, Artikel 17.

42 Manuel populaire sur le processus de la Déclaration des droits des paysans et des paysannes et des autres personnes travaillant dans les zones rurales, La Vía Campesina (Europäische Koordination ECVC und Lateinamerikanische Koordination CLOC), 2017. Anmerkung: Dieses Handbuch bezog sich auf eine frühere Version der UN-Erklärung aus der Verhand-lungsphase.

43 Ebenda, S. 43. [Eigene Übersetzung]

Fischerinnen gibt. Für die anderen Landarbeiterinnen ergänzen wir die anderen, genauso wichti-gen natürlichen Ressourcen: Gewässer, Küstenmeere, Fischereiressourcen, Weiden und Wälder.

Erfreulicherweise erscheinen alle genannten Ressourcen in der hier kommentierten Erklärung.

Diese Ressourcen, insbesondere das Land, bilden die Lebensgrundlage von Menschen, die in länd-lichen Gebieten arbeiten. Sie erlauben ihnen auch ihre eigenen Kulturen zu entfalten und auszu-drücken.

Millionen von Kleinbäuerinnen und Landarbeitern haben keinen Zugang zu lebenssichernden Ressourcen. Die brasilianische Bewegung der Landlosen ist ein gutes Beispiel für den Kampf um Land. Dabei haben sich Kleinbäuerinnen gemeinsam organisiert, um von den Landbesitzenden ungenutztes Land zurückzufordern und damit landlosen Familien den Zugang zu Land zu ermög-lichen.44 Die Landlosen aus Brasilien sind allerdings nicht die einzigen, die einen ungenügenden Zugang zu Ressourcen haben. Dieses Phänomen zeigt sich auch in Form von unfruchtbaren Böden, die oft an schlechter Lage und von schlechter Qualität sind. Die durchschnittliche Landfläche im Besitz von Kleinbäuerinnen beträgt in einigen Regionen weniger als 1 Hektar pro Haushalt.45 Eine Fläche dieser Grösse reicht nicht aus, um eine ganze Familie zu ernähren. Land wird immer häu-figer für andere Zwecke als für die Ernährung und die Landwirtschaft genutzt. Jährlich entziehen Infrastrukturbauten (Bergbau, Stauseen, Urbanisierung, Tourismus usw.) der Landwirtschaft Mil-lionen von Hektar. Kleinbäuerinnen und Landarbeiter profitieren von diesen Bauten nicht. Der Boden verkommt zu einem Gut, dessen Wert lediglich dem Marktwert entspricht. Aber die Klein-bäuerinnen verfügen nur selten über eine rechtliche Anerkennung, die ihnen Land als ihr Grund-besitz sichert. Deshalb können sie leicht vertrieben werden. Landraub, Landverknappung, Ver-schlechterung der Böden und die fortschreitende Urbanisierung verstärken in einigen Regionen die Konzentration des Bodenbesitzes noch mehr. Sie ist so gross ist wie noch nie.

Um diesen Herausforderungen zu begegnen, muss das Recht auf Land für Kleinbäuerinnen und Landarbeiter zwei Aufgaben erfüllen: 1. den Zugang zu den Ressourcen ermöglichen, 2. deren Nut-zung und Bewirtschaftung sichern. So gewährt Paragraf 1 des Artikels zunächst ein allgemeines Recht auf Ressourcen. Damit ist die Grundlage für den Rest des Artikels gelegt. In diesem wird beschrieben, wie das Recht umgesetzt werden kann. Das Recht auf Land ist nämlich eines der Rechte, das sowohl einzeln als auch gemeinsam ausgeübt wird. Im vorliegenden Fall kann eine einzelne Ausübung zum Beispiel darin bestehen, dass bei der Neuverteilung von Land ein persön-liches Gesuch zum Erwerb von Privateigentum gestellt wird. Dagegen wird das Gesuch bei der gemeinsamen Ausübung im Namen einer Gruppe gestellt, um einen gemeinsamen Zugang zu den Ressourcen zu erhalten. Die gemeinsame Ausübung entspricht nicht der Summe der einzelnen Rechte. Sie entspricht vielmehr dem Recht, das einer Personengruppe verliehen wird. Paragraf 1 präzisiert, was das Recht auf Land Kleinbäuerinnen ermöglichen muss: „… einen angemessenen Lebensstandard zu erzielen, einen Ort zu haben, an dem sie in Sicherheit, Frieden und Würde leben

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44 Marta Harnecker, MST-Brasilien, La construction d’un mouvement social, CETIM, 2003.

45 Bericht des Sonderberichterstatters für das Recht auf Nahrung an der 65. UNO-Generalversammlung, A/65/281, 11. August 2010, § 6: „Das Bevölkerungswachstum hat dazu geführt, dass die Anbauflächen pro Person oder pro Haus-halt kleiner geworden sind: In Indien ist die durchschnittliche Grösse eines Landwirtschaftsbetriebs von 2,6 Hektar im Jahr 1960 auf 1,4 Hektar im Jahr 2000 gesunken. Und die Tendenz ist nach wie vor sinkend. Ähnliche Entwicklungen wurden in Bangladesch, den Philippinen und Thailand beobachtet, wo der Rückgang der durchschnittlichen Grösse eines Landwirtschaftsbetriebs mit der Zunahme der Zahl der landlosen Bäuerinnen zusammenhängt. Der Trend

be-können, und ihre Kultur zu entfalten.“46 Hier finden wir die Idee wieder, dass Land für Kleinbäu-erinnen die notwendige Grundlage für ein würdiges Leben ist. Diese zwei Grundsätze – das ge-meinsame Recht auf Land und, dass dieses den Zugang zu weiteren Grundrechten ermöglichen muss – waren bereits im Entwurf der Erklärung der LVC47 enthalten.

Auf dieser Grundlage geht der Artikel dann detailliert auf Möglichkeiten ein, wie der Zugang zu Land gewährleistet werden kann. Erwähnenswert ist in erster Linie die soziale Funktion von Land in Paragraf 6. Die Anerkennung der sozialen Funktion von Land ist eine zentrale Forderung der LVC. Für sie darf das Verhältnis zum Boden nicht nur wirtschaftlich betrachtet werden. Die soziale Funktion des Landes beruht auf der Idee, dass die gesamte Gesellschaft einen Nutzen davon haben muss.48 Sie stellt sich dem Privateigentum nicht grundsätzlich entgegen. Sie unterstreicht aber, dass Privateigentum nicht das Mass aller Dinge ist und zu allem berechtigt. So erfüllt zum Beispiel eine ungenutzte Fläche in einer Region ihre soziale Funktion nicht, wenn dort die Nachfrage nach Land gross ist. Landwirtschaftliche Nutzfläche muss unsere Bevölkerungen ernähren und darf nicht zum Spielball der Spekulation werden. Das Konzept der sozialen Funktion des Landes muss die Staaten dazu bringen, sich mit der tatsächlichen Landnutzung in ihrem Hoheitsgebiet ausei-nanderzusetzen. Sie dürfen sich nicht länger hinter dem Recht auf Privateigentum und den Me-chanismen des Immobilienmarkts verstecken.

Um die soziale Funktion zu sichern, muss das Land gerecht verteilt werden und Kleinbäuerin-nen müssen Zugang dazu haben. Der Artikel 19 der Erklärung schützt diese Rechte. Um den Zu-gang zu Land zu sichern, ist dessen Neuverteilung das erste gängige Mittel. LVC setzt sich seit ihrer Gründung für Agrarreformen49 in jenen Ländern ein, in denen der Landbesitz in wenigen Händen konzentriert ist. Die von LVC geforderten Agrarreformen ermöglichen die Zuteilung von genü-gend Land unter Kleinbäuerinnen und sichern den Zugang zu anderen natürlichen, lebenswichti-gen Ressourcen. Dabei ist speziell wichtig, dass die Landverteilung nicht der Logik von Angebot und Nachfrage folgt. Staaten können und müssen eingreifen, damit das Land gerecht (um-)verteilt wird. Greift der Staat ein, ist damit zumindest ein Vorkaufsrecht50, maximal die Enteignung ge-meint. Verunmöglicht die Konzentration von Landbesitz einen gerechten Zugang, verpflichtet Ar-tikel 17 Paragraf 6 die Staaten, umverteilende Agrarreformen durchzuführen. Darin wird auch präzisiert, dass bei der Zuweisung von Land jungen Menschen und Landlosen Vorrang zu gewäh-ren ist.51

Das Recht auf Land betrifft auch Menschen, die den Zugang zu ihm verloren haben. Werden Menschen von ihrem Land vertrieben oder durch Migrationsbewegungen ihres Landes beraubt, müssen sie wieder zu den natürlichen Ressourcen zurückkehren können, die sie für ihre Arbeit nutzen. Selbst wenn die Vertreibung eine Entschädigung vorsieht, dann reicht das nicht aus. Der Verlust natürlicher Ressourcen verwandelt eine Bäuerin in Wirklichkeit in eine Nicht-Bäuerin.

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46 Erklärung, Artikel 17 § 1.

47 Es handelt sich um den ersten Entwurf der Erklärung, der von der LVC geschrieben wurde. Er bildete die Grundlage für die Verhandlungen in der UNO. [Anm. d. Übers.]

48 Melik Özden, Le droit à la terre, CETIM, série Droits humains, 2016, S. 93-96.

49 Fénelon, Paul, „Réforme agraire“ [Agrarreform] in Dictionnaire d'Histoire et de Géographie agraire, PUF, 1991. „Die Ge-samtheit von Gesetzen und Verordnungen, die das Verhältnis zwischen Landeigentümerinnen und Bewirtschafterinnen regelt. Dies geschieht entweder durch Änderung der Pachtbedingungen oder durch Landumverteilung unter neuen Bewirtschafterinnen. Dazu gehören auch die Neueinteilung und Zusammenlegung von zersplittertem landwirtschaftli-chem Grundbesitz und die Schaffung von Agrarstrukturen, um eine bessere Bodennutzung oder eine gerechtere Vertei-lung des landwirtschaftlichen Eigentums zu fördern. Die Total- oder die Teilrevision kann frei oder vorgeschrieben sein.“ [Eigene Übersetzung]

50 Das Vorkaufsrecht ermöglicht einer öffentlichen Einrichtung ein Gut zu erwerben, bevor es auf den Markt kommt.

51 Erklärung, Artikel 17 § 6: „Landlosen Kleinbauern, jungen Menschen, Kleinfischern und anderen Landarbeitern soll bei der Zuweisung öffentlicher Flächen, Fischereiressourcen und Wälder Vorrang eingeräumt werden.“

Doch das Ziel der Erklärung ist, dass alle Kleinbäuerinnen auch weiterhin ihre Tätigkeit ausüben können.

Die zweite Aufgabe des Rechts auf Land betrifft die Absicherung der Nutzungsrechte. Der erste Teil dieser Absicherung ist juristischer Natur. Der Rechtsschutz für die Nutzung der natürlichen Ressourcen zielt darauf ab, Zwangsvertreibungen zu verhindern oder zumindest wirksam zu er-schweren. Der zweite Teil der Absicherung muss dafür sorgen, dass das Land zum finanziellen Auffangnetz für die Kleinbäuerinnen wird.

Die Kleinbäuerinnen verfügen nur selten über vollständige Eigentumstitel für ihr Land. Entwe-der, weil in ihrem Staatsgebiet die Landnutzung nicht formell geregelt ist, oder weil sie nur über ein ungesichertes Nutzungsrecht verfügen. Dennoch stellt die Formalisierung des Privateigentums kein Patentrezept dar. Im Gegenteil: Die Erklärung ermöglicht und ermutigt die Anerkennung un-terschiedlicher Rechtsmodelle und -systeme (Gemeinschaftseigentum, Gebrauchsrecht usw.), die allen denkbaren Nutzungsformen natürlicher Ressourcen durch Kleinbäuerinnen und Landarbei-ter gerecht werden. Gemeinschaftseigentum und die gemeinsame Nutzung natürlicher Ressour-cen können grossen Nutzen bringen und hohe Erträge sichern.52 Zum Beispiel können Kleinbäue-rinnen und Hirtinnen Land gemeinsam nutzen und bewirtschaften. Daher ist es notwendig, die Vielfalt der Möglichkeiten bei der Verteilung von Ressourcen anzuerkennen und zu schützen. Das Bodenrecht muss deshalb vielfältige Besitz- und Nutzungsformen ermöglichen. Wo das Recht aller-dings Einseitigkeiten aufrechterhält, muss es geändert werden.

Daher betont die Erklärung die Notwendigkeit, alle Formen von Diskriminierung gegenüber Kleinbäuerinnen im staatlichen Recht zu beseitigen. Wir wissen, dass vor allem Frauen für die Landwirtschaft verantwortlich sind. Doch in vielen Fällen haben sie kein Anrecht auf ihr „Ar-beitswerkzeug“53. Die formalen Rechte werden noch allzu oft und zu systematisch dem Ehemann verliehen. Frauen dagegen haben kein Mitbestimmungsrecht, obwohl sie am besten über das Land entscheiden könnten.

Schliesslich kommen wir zur Nachhaltigkeit, die den letzten Aspekt der Absicherung der na-türlichen Ressourcen darstellt. Die Erklärung verpflichtet die Staaten, Massnahmen zu treffen, um eine nachhaltige Nutzung von Land sicherzustellen. In diesem Artikel ist sogar von Agrarökologie54 als Nahrungsproduktionsmethode und Lösung für den Umweltschutz die Rede. Die Verbreitung und der Einsatz agrarökologischer Praktiken ist ganz im Sinne der LVC.

b) Das Recht auf Saatgut55

Saatgut ist die Grundlage für die Arbeit der Kleinbäuerinnen und Landarbeiter. Wie wir in Un-terkapitel a gesehen haben, kann eine Kleinbäuerin ohne Land und andere natürliche Ressourcen nicht überleben. Das Gleiche gilt auch für Saatgut: Eine Kleinbäuerin kann ohne Saatgut nicht in Einklang mit ihrer natürlichen und kulturellen Umgebung arbeiten und produzieren. Bäuerliches Saatgut ist wegen der harten Konkurrenz mit industriellem Saatgut vom Aussterben bedroht.

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52 Siehe Elinor Ostrom, La gouvernance des biens communs : Pour une nouvelle approche des ressources naturelles, Verl. De Boeck, 1990 (2010 für die französische Übersetzung), S. 301.

53 Grain, Affamés de terres: les petits producteurs nourrissent le monde avec moins d’un quart de l’ensemble des terres agricoles, 2014: „Laut FAO sind weniger als 2 Prozent der Landbesitzenden auf der Welt Frauen, doch die Zahlen variieren stark.

Es besteht jedoch ein breiter Konsens darüber, dass selbst wenn Land als Familieneigentum oder Eigentum von Mann und Frau registriert ist, Männer nach wie vor über mehr Macht als Frauen verfügen.“ [Eigene Übersetzung]

54 „Begriff, der eine wissenschaftliche Disziplin, eine soziale Bewegung oder eine landwirtschaftliche Praxis beschreibt.

Die drei Aspekte interagieren miteinander und berücksichtigen die dem geografischen Gebiet eigenen Bedingungen.“

Heutzutage ist der industrielle Saatgutmarkt vollständig von der bäuerlichen Produktion losge-löst. Während der Sektor früher stark auf informellem Austausch beruhte, ist er heute durch den Aufschwung der grossen Saatgut-Konzerne gänzlich professionalisiert worden. Saatgut-Konzerne sind multinationale Unternehmen, die ausschliesslich nach dem kapitalistischen Modell produzie-ren. Ihre Entwicklung steht in Verbindung mit jener der industriellen Landwirtschaft und seit kur-zem mit jener der Biotechnologie.56

Die wachsende Dominanz dieser Industrie beruht auf dem internationalen Handelsrecht. Die-ses ist auf die Saatgut-Konzerne zugeschnitten. Das TRIPS-Abkommen im Anhang C des Marra-kesch-Abkommens57, das zur Gründung der Welthandelsorganisation (WTO58) geführt hat, ver-pflichtet die Mitgliedsstaaten, sich mit einem System zum Schutz geistiger Eigentumsrechte auszu-statten. Dies muss entweder durch Patente oder andere angepasste (Rechts-)Formen geschehen.

Betroffen davon sind Pflanzen und Tiere. Die Absicht dahinter: Alles Lebende soll privatisiert und vermarktet werden. Als im Jahr 1995 das TRIPS-Abkommen in Kraft trat, existierte bereits das In-ternationale Übereinkommen zum Schutz von Pflanzenzüchtungen59. Dieses enthält einen Sorten-schutz. Das Übereinkommen wird von den WTO-Mitgliedsstaaten oft als Grundlage herangezo-gen, um ihrer Verpflichtung nachzukommen, sich mit einem System zum Schutz geistiger Eigen-tumsrechte auf Saatgut auszustatten. Dieser Schutz dauert 20 Jahre und betrifft neu gezüchtete Sorten, welche die Kriterien von Unterscheidbarkeit, Homogenität und Beständigkeit erfüllen. Die Eigenschaften dieser neuen Sorten brauchen zwar nicht neu zu sein, dürfen aber noch nicht ge-schützt sein. Aus diesem Grund kann es sein, dass eine Kleinbäuerin plötzlich im Besitz von Saat-gut ist, dessen Rechte einem grossen SaatSaat-gut-Konzern gehören. Das Übereinkommen zum Schutz von Pflanzenzüchtungen hat auch zahlreiche Sonderbestimmungen in Handels- und Investitions-abkommen angeregt.60 Und einige Handelsabkommen gehen gar noch weiter. Sie sehen einen Schutz des geistigen Eigentums vor. Dieser verbietet es den Kleinbäuerinnen, das eigene Saatgut jedes Jahr von Neuem auszusäen. Kleinbäuerinnen sind deshalb gezwungen, ihr Saatgut immer wieder neu zu kaufen.

Aber es kommt noch schlimmer: Es existiert sogar ein Recht, das für Genmaterial Eigentums-rechte vorsieht. Identifizierte und genutzte Gene können als Privateigentum geschützt werden, selbst wenn sie in lizenzfreiem Saatgut vorkommen.61 Um nicht gegen das Gesetz zu verstossen, müssen die Kleinbäuerinnen das Saatgut einkaufen. Ausserdem dürfen sie das geschützte Saatgut weder aufbewahren noch erneut aussäen.

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56 Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, A/64/170, 23. Juli 2009, Politiques semencières et droit à l’alimentation:

accroître l’agrobiodiversité et encourager l’innovation, § 2.

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