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Perihan Mauden Zwei Mädchen

Auszug aus dem Roman von Perihan Magden

In der Rubrik «Passagen» finden Sie Leseproben aus Uterarischen oder bio-grafischen Texten, die wir empfehlen.

Wir setzen damit bewusst einen Kon-ttapunkt zu den Fachtexten, die den Schwerpunkt unserer Zeitschrift bUden.

Viel Vergnügen bei der Lektüre!

Die Redaktion

Perihon Mogdetts Bücher sind in der Tür-kei Bestseller, ihre Kolumnen in der Zeitung

«Radikal» sehrkontrovers. Ihrer geseUschafts-kritischen Texte wegen stand sie schon mehr-mals vor Gericht. Penhon Mogden lebt in Istanbul und wurde 1960 dort geboren.

Der Roman «Zwei Mädchen» erschien in der: Türkei 2002 und • wurde von JCutlug Atamon ve^mt.- £r erzählt eine rasante, wilde Geschichte von Freundschaft und Re-bellion inlstanbul uhd vom Leben Jugend-licher in der modernen Türkei. Die zwei Mödchen Behiye. und Handdn versuchen, sich den Konventionen ihrer Familien zu entziehen.und ein anderes Leben als das ih-rer, Mütter zu führen.

Perihan Mauden Zwei Mädchen I s t a n b LI 1^^^ r yi^L

Taksim

Behiye ist jetzt am Taksim.

Da, wo das Wasser den Stein hinabfUeßt - vor dem FALSCHEN WASSERFALL -, m der Nähe des Zeitüngsverkäufers, haberi die BLINDEN ihr Keyboard und ihre rie-sigen Lautsprecher aufgesteUt und ma-chen Musik.

Und wie sie Musik machen!

Em BLINDER MANN sitzt auf emem weißen Plastikhocker und spielt. Eine BLINDE FRAU smgt aus voller Kehle, von den Lautsprechern noch verstärkt.

Gewöhnung ist schwerer als Liebe Gewöhnung zerreißt mir das Herz.

»Scheißblindenmusik«, gnimmelt Be-hiye. Es ist schon heiß genug. Daist die-ser Lärm einfach zuviel. Es kommt ihr vor, als würde die Musik der BLINDEN die Luft noch mehr erhitzen. Sie erstickt Behiye. Als habe ihre Mutter einen Pul-lover geholt und versuche nun, ihn ihr um den Hals zu schhngen. So kommt ihr die Musik der BLINDEN vor Sie hat Lust, hinzugehen und mit ihren großen Stie-feln gegen das Keyboard zu tteten. Die Lautsprecher umzukippen und so weiter Diese Leute sind blind. Und sie ma-chen Musik. Es scheint ihnen besser zu gehen als mir. Als wäre alles in bester Ordnung. Sie sind in einem besseren ZU-STAND als ich.

ZUSTAND. Sehsames Wort. Der ZU-STAND ist folgender: Jeder ist in einem besseren ZUSTAND als ich. Ich bin am frustriertesten. Am verzweifeltsten. An-gesichts dieses ZUSTANDS.

Sie versucht sich an das GEFÜHL. GEr RETTET ZU WERDEN zu erinnem, das sie hatte, als sie aus dem Haus ging. Da-mit es ihr besser geht. Heute soU es ihr endUch einmal gutgehen. Dieses Gefühl soU spmdeln in ihr wie Limonade. Sie zieht ihre Jacke aus und bindet sie sich um die Hüften. Als sie so in ihren gro-ßen Stiefeln mit grogro-ßen Schritten die Istiklal-Sttaße lünabläuft, fühlt sie sich schon etwas frischer Und sie hat Hun-ger bekommen. Wenn sie HunHun-ger hat, dann übeniehmen die bösen Geister das Regiment.

Eine Horde Kobolde, mit Zipfelmützen wie im Märchen, schwirrt dann durch ihren Kopf und ttampélt über ihre kur-zen roten Haare. Sie steUt sich die Sze-ne vor und lächelt. Wenn Behiye lächelt, zieht sie die Nase kraus. Das ist so ihre Art zu lächeln. Sie lächelt und zieht da-bei die Nase kraus. Das läßt sie sehr süß aussehen. Die urizähhgen Sommerspros-sen auf ihrer Nase kommen dabei an ei-nem Punkt zusammen.

Behiyés Hâaré sind fast orangerot Sie hat braune Augen und Hunderte, Tau-sende Von Sommersprossen. Sie schnei-det sich die Haare sehr kurz und schämt sich für ihre Farbe, zu eirier Zeit, wo fast aUe ihre Haare rot färben. Wenn sie nicht wahnsinnige Angst vor Friseuren hätte, würde sie ihre Haare gem schwarz färben lassen. Sie schämt sich auch für ihre Sommèrsprossen. WeU sie sie aus der Normahtät herausheben. Sie wiU nicht DAS ROTHAARIGE MÄDCHEN MIT DEN SOMMERSPROSSEN'sein. Deshalb läuft sie als unbeholfenes kurzhaariges Mädchenmit hängenden Schuhèm und stets mürrischem Gesichtsäusdmck durch die Gegend. DAS MÄDCHEN, DAS NIE-MAND BEMERKT. Ja, so ist es gut.

Was wäre denn auch bemerkenswert an ihr? Nicht bèmerkt zu werden ist doch das besté.

Fast gariz am Ende der Sttaße hegt Behiyes Lieblingsbuchhandlimg. Ihre UEBLUVGSBUCHHANDLUNG.

Es ist eine sehr gute Buchhandlung, denn es arbeiten gute Menschen dort.

Ein gutes Mädchen arbeitet dort. Ein Mädchen, das geflissentlich übersieht, daß Behiye Bücher mitgehen läßt. Jedèn-faUs glaubt Behiyè, daß es sich so ver-hält.

Bücher sind nun mal sehr teuer. Und Behiye kann seit ihrem elften oder zwölften Lebensjahr vom Bücherlesen nicht genug bekommen. Ohne das Lesen würde sie sterben. Sie würde sich um-bringen. Sie würde diesen Ballon der Verzweiflung, den inan »Zuhause« nennt, nicht mehr ertragen könrien. Deshalb Uest sie ständig Bücher - eine andere Lö-sung gibt es nicht Bücher sind ihre Me-dizin. Einen anderen Weg gibt es nicht.

Sie würde sterben.

..i/ii-.,£., JJ,,.

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Passagen

In ebendieser Buchhandlung ist im oberen Stockwerk ein Platz zum Bü-cherlesen eingerichtet. Behiye steigt hin-auf, und während sie so tut, als schaue sie sich die Bücher an, zieht sie ihr klei-nes Taschenmesser hervor und pult da-mit die Plastikdinger von den Buchrücken.

Nur bei denen, die sie klauen möchte.

Ohne es zu übertreiben. Danach wirft sie die Bücher, von denen sie die Plastik-dinger abgezogen hat, in ihre Tasche.

Die immer offen dasteht. Ihre gutherzi-ge, schöne Tasche. Sie ist ziemhch abge-nutzt.

Dann geht sie hinunter und steht die meisten der Bücher, die sie aus dem Re-gal geholt hat, wieder zurück. Das «Ich habe alle angeschaut. Aber ich nehme nur das liier»-Spielchen. Währenddessen liegen die anderen, von den Plastikdin-gem befreit, wie Babys in ihrer Tasche.

Sie geht zur Kasse und kauft das bilhgs-te Buch. Deshalb schriUt bei ihr keine Alarmglocke. Einmal ist es doch passiert.

AUerdings nur wegen des Plastikdings auf dem Buch, das sie bezahlt hatte. Sie haben sich tausendmal entschuldigt. Das war schön.

Sie hat Alberto Moravias Der Neid ge-kauft; es war das biUigste. Geklaut hat sie Kafkas Amerika und Sarttes Der Ekel.

Auf die koimte sie nicht verzichten. Sie hat sie von ihren Plastikdingem befreit.

KlammheimUch hat sie sie zu ihrem Ei-gentum gemacht.

Draußen wird die Istiklal-Sttaße mit Tarkans Kuzu Kuzu beschaUt.

SchmeiJ? mich rous oder küj? mich Aber erst hör mir zu, schau mir in

die Augen Glaub mir, diesmol

Hobe ich verstanden, diesmal bereue ich.

Ey Alter sagt Behiye. Was soU das?

Wenn's nach mir ginge, würde ich dich wirkhch einfach rausschmeißen. Du würdest auf der endlosen Kitschmüll-kippe landen.

Behiye hat so eine Müllkippe. So eine schier endlose Müllhalde, auf die sie am Uebsten eine ganze Menge von dem schmeißen würde, was sie umgibt.

Behiye hört nie türkische Musik. Tür-kische Musik zieht sie total ranter Sie kauft Raubkopien von CDs, manchmal klaut sie auch CDs. Aber CDs klauen ist schwierig. Viel schwieriger Deswegen wartet sie bei den meisten Sachen, bis sie als Raubkopie herauskommen. Spät, aber dafür sauber, was will man ma-chen?

Auf der Sttaße dröhnt Kuzu Kuzu aus fast aUen Geschäften. TARKAN-FLUT sagt Behiye dazu. Aber das Lied hat auch etwas Leichüebiges, Wohltuendes an sich.

Es tteibt einen nicht so in den Wahn-sinn. Es verbreitet eine angenehme At-mosphäre.

Ich habe drei Bücher Ich habe drei su-per Bücher Das werden drei susu-per Wo-chen. Drei Bücher Drei! Drei!

Sie vmrde am hebsten rennen und es hinausschreien.

Tritt auf die Bremse, Behiye. Geh einen Tee trinken. Es ist schon wer weiß wie spät, und du hast noch gar nichts ge-gessen und getmnken. Komm zu dir Komm.

Mit dem »wer weiß wie spät« kommt ihr Çigdem in den Sinn. Eigenthch woll-ten sie sich vor dem Dershane in Besik-tas tteffen.

Dieses Jahr haben sie gerade dieselbe Schule abgeschlossen.

Dasselbe Gymnasium. Das Mädchen-gymnasium mit Schwerpunkt Naturwis-senschaften, direkt gegenüber der Stta-ßenbahnhaltesteUe. Sie sind auch auf derselben Mittelschule gewesen - und auf derselben Gmndschule.

Behiye zieht Çigdem hinter sich her wie einen zu schweren Koffer, der mit unnö-tigem Krempel vollgestopft ist. Çigdem geht ihr ziemhch auf die Nerven, aber was würde sie ohne sie machen? Sie ist ihre einzige Freundin. Çigdem kriegt von ethchen BEHIYE-PUNKTEN nichts mit. Sie hat von ethchen ihrer Gedanken und Gefühle keine Ahnung. Ständig er-zählt sie, und Behiye hört zu. Wenn sie spricht, muß Behiye ihr Ratschläge ge-ben. Andauemd.

Çigdem nimmt diese Ratschläge ent-gegen und schneidet sie mit ihrer klei-nen Schere in Form. Sie macht Vögel da-raus. Paßt sie ihrer eigenen Meinung an.

Ohne Behiyes Ratschläge aber käme sie nicht zurecht. Sie braucht diese Bestäti-gung. Dann vergißt sie sie wieder. Besser gesagt: Sie übersetzt sie in ihre eigene Meinung.

Behiye weiß, daß sie sich den Mund fusselig reden kann und doch nie ganz bis zu Çigdem vordringen wird. Aber ih-re Beziehung besteht seit ihih-rer Kindheit.

Wenn Behiye nicht hundertprozentig einsam, nicht voUkommen allein ist, dann nur wegen Çigdem. Deshalb weiß sie sie zu schätzen. Sie behandelt sie schlecht. Sie beschimpft sie und schubst sie hemm. Aber sie stteicht sie nie aus ihrem Leben. Sie behält sie. Ihre einzige Çigdem. Notgedmngen.

Çigdem hat keinen Studienplatz be-kommen. Als sie die Formulare ausfüll-te, hatte sie noch hochfliegende Pläne.

Sie heß sich nicht davon abbringen, hör-te nicht auf Behiye. Und ging leer aus.

Jetzt sucht sie sich in Besiktas ein Dershane - ein Institut zur Vorbereitung auf die Universitätsaufriahmeprüfung.

Die ihrer Wohnung am nächsten gele-genen Dershane sind in Aksaray. Sie will aber keines von denen, sondem eines in Besiktas.

»Da gehen die besseren Typen hin. Und wir kommen endhch mal raus aus dem Dreieck Çemberlitas-Beyazit-Sultanahmet-Eminönü-Aksaray.«

»Fünfeck. Das waren fünf«, korrigiert Behiye.

Çigdem wartet auf Behiye, um einen Kurs auszusuchen, den sie ein Jahr lang besuchen wird. Um zwei Uhr. Rechts, am Fuß des Hügels, vor dem Dershane ihrer Wahl.

Es ist halb drei. Sie hat sie vollkommen vergessen. Çigdem ist aber auch so der-maßen schneU vergessen: wie ein Schirm mit abgebrochenem Griff, ein abgetta-gener Schal, ein schwerer Koffer voUer unnütz gewordener Dinge.

Çigdem ist es gewohnt, daß Behiye zu spät kommt. Behiye erinnert sich im-mer erst in letzter Minute an die Ver-sprechen, die sie ihr gegeben hat. Jedes-mal wartet Çigdem. Es macht ihr nichts aus, auf Behiye zu warten. Irgendwann kommt sie ja doch. Sie wird sich mehr oder weniger stark verspäten, aber sie kommt auf jeden FaU. Und mit ihr ihre Ratschläge.

Behiye springt in einen Minibus nach Sariyer Genau vor dem Dershane steigt sie aus. Keine Çigdem auf der Treppe zum Dershane. Auch nicht an der Tür Sie betritt das Einschreibungsbüro gleich hnks hinter dem Eingang und sieht sich ein wenig um.

Dann setzt sie sich unten auf die Trep-pe und beginnt zu warten. Gott sei Dank toberi dort keine Kursbewerber hemm.

Deshalb sitzt sie einfach nur entspannt da.

Es ist heiß und alles in bester Ord-nung. Da erscheint ein Mädchen. Ein Mädchen, das auf sie zukommt. Sie hüpft ein bißchen. Und sie schaut ihr in die Augen.

Sie kommt auf sie zu. Lächelnd.

Sie hat die Haare oben zu einem Pfer-deschwanz gebunden.

Sie trägt ein enges matttosa T-Shirt und eine weite, tief sitzende Jeans. An den Füßen hat sie diese weiß-grauen

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Passagen

Sportschuhe mit den exttem hohen Soh-len. ViéUeicht springt sie deswegen. Na ja, sie hüpift. Auf sie zu.

Zwischen T-Shirt und Jeans sieht man drei bis vier Fingerbreit ihrer Haut.

Nicht viel. Das ist aUes. Und ihre Augen sind so schön! Sie sind gleichzeitig groß und geschützt. Katzenaugen. Sie fun-keln. Zumindest kommt es Behiye so vor Es kommt ihr vor, als funkelten sie, als versprühten sie Licht

Über ihrem rosa T-Shirt ttägt sie eine rosa Strickjacke.

Flaumig-flauschig. Aus MohairwoUe.

Eines dieser Jäckchen für Babys, die mit winzigen Nadeln gestrickt werden. Die Jacke hat kéinen Kragen. Vorrie bau-melri an rosafarbenen Schnuren zwei Mohairkugeln. Wie bei einem Babyjäck-chen, damit man sie mit einer Sizhletfe zubinden kann. Zwei rosa Bommeln. Sie hüpfen vor ihr auf und ab.

Mein Gott, was ist-das für einwun-derschönes Geschöpf! Sie kommt auf Behiye zu! Sie vvinkt zu Behiye herüber Behiye läuft rot ari. Ihr wird heiß. Wo-her kenrit dieses Mädchen im Baby-strickjäckchen sie?

Sie steht auf und lehnt sich gegen das Treppengeländer Die Knie versagen ihr den Dienst. Ihre Beine zittem. Sie schla-gen geschla-geneinander Sie ist uriglaubhch aufgeregt. Aber warum nur?

»Pssst.,Bist.du endhch da?« Ruckartig direht sie sich um.

Çigdem! Das Mädchen steigt die Trep-pe hinauf immer zwei Stufen auf ein-mal nehmende und bleibt rieben Çigdem stehen.

»Eridhch ist sie da. Wegen dir haben wir fast Wurzeln geschlagen, Behiye.

Komm doch ein einziges Mal pünkthch.

Das .hier ist Handan.«

»HaUo«, sagt das Babyjackenmädchen.

»Wir brauchten mal deine Meinung, Béhiye.«

Sie kennt meinen Namen. Sie hat ihn also schon erfahren.

Ihr Name: Handan. Mein Näme:

Béhiye. Sie hat meineri Namen gesagt.

Sie weiß ihn bereits.

Das GEFÜHL, GERETTET ZU VERDEN steigt in ihr auf, als hätte es jemand von den Fußnägeln hoch in ihre Stirn ge-püinpt Das GEFÜHL, GERETTET ZU WER-DEN. Behiyè registriert, wie unglaub-hcheTreüde ihre Seele überscrivvenimt.

Wie sie ihre: Seele übernimmt, y/oher weiß dieses wunderschöne Geschöpf, dieses Babymädchen, meinen Namen?

Und ich kenne ihren Namen. Ihr Name:

Handan. Ihr Name:' DAS GEFÜHL,

GE-RETTET ZU WERDEN. Sie ist gekommen, um mich zu retten.

Aus: Perihan Magden: Zwei Mädchen. Istanbul-Story. Roman. Aus dem Türkischen von Johannes Neuner. S.46-53. © Perlhan Magden 2062. ® der deutschen Ausgabe Suhrkamp Veriäg Frankfürt am Main 2008. CHF 18.90. Wir danken dem Ver-lag für die Abdruckgenehmiguhg.

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